Hamburg. Scholz mit Wehmut verabschiedet, Tschentscher mit 95 Prozent als Bürgermeister nominiert, Leonhard umjubelt zur Parteichefin gewählt.

Am Ende war die Erleichterung im Wilhelmsburger Bürgerhaus greifbar. Den langjährigen Übervater angemessen verabschieden, einen neuen Bürgermeister nominieren und eine neue Parteichefin wählen – man muss lange zurückblicken, um einen vergleichbar ereignisreichen SPD-Parteitag zu finden.

Und was hätte dabei alles schiefgehen können. Zwist auf offener Bühne über Kurs oder Personal, schlechte Wahlergebnisse als Mühlsteine für das neue Spitzenpersonal, der falsche Ton gegenüber dem bisherigen starken Mann. Doch aus Sicht der Sozialdemokraten lief alles wie geplant.

Sozialsenatorin Melanie Leonhard löst Olaf Scholz als SPD-Landesvorsitzende ab
Sozialsenatorin Melanie Leonhard löst Olaf Scholz als SPD-Landesvorsitzende ab © Michael Rauhe | Michael Rauhe

Olaf Scholz, immerhin seit 2009 Vorsitzender der Hamburger SPD und seit 2011 Bürgermeister, bis er Mitte März Bundesfinanzminister und Vizekanzler wurde, wurde mit viel Applaus und – man höre und staune – sogar einem Schuss Ironie verabschiedet. Noch wichtiger: Finanzsenator Peter Tschentscher wurde mit dem Traumergebnis von 95,2 Prozent als sein Nachfolger nominiert, Sozialsenatorin Melanie Leonhard begeistert gefeiert und mit 94,6 Prozent zur neuen Landesvorsitzenden gewählt. Mehr Harmonie, mehr Geschlossenheit ging nicht als an diesem Frühlingstag im proppevollen „Wohnzimmer“ der Sozialdemokraten.

Einblicke ins Gefühlsleben

„Du hinterlässt ein bestelltes Haus“, fasste es Parteitags-Präsidentin Carola Veit mit Blick auf Scholz zusammen und schob mit feiner Ironie hinterher: „Vielen Dank für die bestellte und gelieferte Führung.“ Scholz habe den Landesverband 2009 „in beklagenswertem Zustand“ übernommen, geeint und zurück an die Macht geführt. Nach ihrem Lob „Du warst der richtige Bürgermeister für unsere Stadt“ erhoben sich die rund 350 Delegierten und spendeten lange Applaus.

Scholz gewährte daraufhin einen der seltenen Einblicke in sein Gefühlsleben: „Es ist für mich mit großer Wehmut verbunden, das Amt des Ersten Bürgermeisters aufzugeben in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin“, sagte er und betonte: „Ich habe das gern gemacht.“ Wenig überraschend zog der 59-Jährige eine positive Bilanz seiner Regierungszeit, eher ungewöhnlich war dagegen die Bescheidenheit, mit der Scholz seinen Genossen für deren Unterstützung dankte: „Das war nur möglich, weil das eine tolle Partei ist, das war nicht nur einer“, so Scholz, der als Bürgermeister und Parteivorsitzender zeitweilig alles überstrahlt hatte.

„Die Hamburger SPD verfügt über viele tolle Männer und Frauen, die diese Stadt regieren können“, betonte Scholz und warb für seinen designierten Nachfolger Peter Tschentscher: Der bisherige Finanzsenator sei „der richtige Mann für die Stadt“, so Scholz. Tschentscher habe den Haushalt in Ordnung gebracht, mit soliden Finanzen den Zusammenhalt in der Stadt gefördert, er habe viel Erfahrung, „und er hat einen erwachsenen Sohn. Das ist gut.“

Der Unterschied zu Scholz

Das durfte als Anspielung darauf verstanden werden, dass mit Bürgerschafts-Fraktionschef Andreas Dressel (drei kleine Kinder) und der neuen Parteichefin Melanie Leonhard (ein dreijähriger Sohn) zwei weitere Kandidaten für die Scholz-Nachfolge mit Rücksicht auf ihre Familien verzichtet hatten.

Dressel wurde am Rande des Parteitags vom SPD-Landesvorstand einstimmig für das Amt des Finanzsenators vorgeschlagen. Wenn Tschentscher am Mittwoch wie vorgesehen von der Bürgerschaft zum Bürgermeister gewählt wird, wird er als eine der ersten Amtshandlungen Dressel in den Senat berufen. Wer dessen Nachfolge als Fraktionschef antreten wird, ist noch offen.

Tschentscher setzte in seiner mehrfach von kräftigem Applaus unterbrochenen Nominierungsrede einerseits stark auf Kontinuität: Wohnungsbau, Wirtschaftskraft, ordentliche Finanzen und ein Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mit neuen U- und S-Bahnen nannte auch er als seine Schwerpunkte.

Der dennoch vernehmbare Unterschied zu Scholz lag vor allem in dem, was Tschentscher nicht sagte: Während der bisherige Bürgermeister gern in größeren Zusammenhängen dachte und Hamburg durch Großveranstaltungen wie Olympische Spiele und den G-20-Gipfel stärker auf der Weltkarte verorten wollte, konzentriert sich sein Nachfolger ganz auf das Leben der Menschen in dieser Stadt. Alle aktuellen politischen Projekte seien „darauf gerichtet, dass alle Hamburgerinnen und Hamburger gut und sicher und bezahlbar in ihrer Stadt leben und arbeiten können“, so Tschentschers Kernsatz. „Das ist unsere Vision von einer modernen Stadtgesellschaft.“

Mehr Wohnungen, mehr Polizisten

Dementsprechend sprach sich der 52-Jährige dafür aus, weiterhin mindestens 10.000 Wohnungen im Jahr zu bauen und 500 Polizisten zusätzlich auf die Straße zu bringen. Mehrfach ließ Tschentscher nebenbei anklingen, dass er weiß, was die Menschen bewegt. Etwa, als er von einer ehemaligen Kollegin im UKE berichtete – dort hatte er als Labormediziner gearbeitet, bevor er Senator wurde –, die sich als Alleinerziehende Sorge um ihre Rente machte. Das beschäftige ihn bis heute, sagte Tschentscher und nutzte die Anekdote für ein Plädoyer: „Im Grunde brauchen wir, wenn man ehrlich ist, einen Mindestlohn von zwölf Euro.“

Auch das Thema Verkehr verknüpfte Tschentscher mit Einblicken in seine persönliche Situation: „Ich gehe gern zu Fuß, am Sonntagmorgen zum Beispiel in Barmbek zum Bäcker“, so der Noch-Senator, der mit Frau und Sohn in dem ehemaligen Arbeiter-Stadtteil lebt. „Ich fahre auch gerne Rad oder mit der U-Bahn.“ Mittlerweile müsse er zwar aus beruflichen Gründen meist Auto fahren, aber: „Es gibt doch keine Trennung.“ Jeder nehme das für ihn schnellste und bequemste Verkehrsmittel: „Diese Wahl müssen wir jedem ermöglichen.“

Anders als Scholz, der seinen Koalitionspartner in der Regel gar nicht erwähnt hatte, ging Tschentscher mehrfach auf die Grünen ein. So erwähnte er im Zusammenhang mit dem Wohnungsbau auch den von der Koalition beschlossenen „Naturcent“ als Ausgleich für den Verlust von Grünflächen. Am Ende einer engagierten Rede dankten es ihm die Genossen mit lang anhaltendem Applaus und einem beeindruckenden Wahlergebnis: 337 von 354 Delegierten votierten für Tschentscher als Bürgermeister, 15 gegen ihn, zwei enthielten sich.

Mit einem ähnlich guten Ergebnis (94,6 Prozent) wurde Melanie Leonhard zur neuen Parteichefin gewählt – nachdem die 40-Jährige die Parteimitglieder mit ihrer Rede begeistert hatte. Für ihre Plädoyers für Integration, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung, Solidarität und Aufstieg durch Bildung gab es immer wieder Applaus – vor allem, als Leonhard auf ihre Herkunft verwies: „Ich habe viele Male gehört, was jemand nicht werden kann, der in Wilhelmsburg aufgewachsen ist – das Ergebnis steht hier.“ Und der Saal stand Kopf.