Harburg. Sechs Pflegekinder haben die Kruschs bislang großgezogen und wurden dafür von der Stadt geehrt. Doch jetzt geht es vor Gericht.
Als Erika und Helmut Krusch zum großen Sommerfest auf die Trabrennbahn Bahrenfeld eingeladen werden, ist die Stadt voll des Lobes für das engagierte Ehepaar. In einer Feierstunde erhalten die beiden von Senator Detlef Scheele „in dankbarer Anerkennung Ihrer Verdienste um das Gemeinwohl“ die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes. Zusammen mit fünf anderen Pflegeelternpaaren und stellvertretend für mehr als 1000 Hamburger Familien, in denen rund 1300 Pflegekinder leben. „Pflegefamilien verdienen Respekt und gesellschaftliche Anerkennung, ihr hohes Engagement ist unverzichtbar“, sagt Scheele an diesem Sonntag im September 2014.
Dreieinhalb Jahre später ist aus der höchsten Anerkennung eine erbitterte Auseinandersetzung geworden. Jetzt treffen sich die Pflegeeltern Krusch und eine Vertreterin der Stadt nicht mehr zum Feiern – sondern im Gerichtssaal.
Sie war 60 Jahre alt, als Chris kam
Sechs Pflegekinder haben Erika und Helmut Krusch in den vergangenen Jahrzehnten großgezogen. „Und zwei eigene.“ Manchmal waren die beiden die letzte Rettung für die Stadt, wenn kein anderer mehr da war und ein Kind sofort aus seiner Familie herausgeholt werden musste. „Dann waren wir die Feuerwehr“, sagt Helmut Krusch.
Im Dezember 2000 haben sie den kleinen Chris zu sich genommen. Sieben Monate alt und schwerbehindert. „Er ist in der 27. Woche geboren worden und war schon vier Minuten tot“, sagt Helmut Krusch. Chris leidet unter einer Cerebralparese, einer bleibenden sensomotorischen Störung in Folge der frühkindlichen Hirnschädigung. Er sitzt im Rollstuhl, seine Gliedmaßen sind gekrümmt, er ist nur schwer zu verstehen, aber geistig sehr rege. „Er kriegt alles mit, was um ihn herum passiert“, sagt Erika Krusch.
Die ausgebildete Krankenschwester war 60 Jahre alt, als sie gefragt wurde, ob sie Chris für drei Monate zu sich nehmen würden. „Dann hatte ich Geburtstag – und an dem Tag hat er mich das erste Mal angelächelt. Da konnten wir ihn nicht wieder weggeben. Er brauchte doch eine Mutter.“ Die leibliche Mutter, damals 18 Jahre alt, ist längst verschwunden.
Streit mit Bezirksamt Eimsbüttel
Mehr als 17 Jahre lang haben Erika und Helmut Krusch alles getan, um ihren Pflegesohn zu fördern. Tag und Nacht. Achtmal musste Chris schon operiert werden. Die Amtsvormundschaft für den Jungen hatte in all den Jahren das Jugendamt. „Mit der Mitarbeiterin bestand eine hervorragende Zusammenarbeit mit gegenseitiger Wertschätzung“, sagt Helmut Krusch. „Die Amtsvormundin hatte einen sehr empathischen Zugang zu Chris, der vollkommen angstfrei war.“
Vor rund zwei Jahren wechselte die Amtsvormundschaft. Und nun ist ein heftiger Streit zwischen der neuen Mitarbeiterin aus dem Jugendamt Eimsbüttel und den Pflegeeltern um die Zukunft des Jungen entstanden, der jetzt vor Gericht geklärt werden muss. Mit einem Antrag auf Verbleibensanordnung kämpfen die Pflegeeltern vor dem Amtsgericht darum, dass Chris so lange bei ihnen bleiben darf, bis er in eine für ihn geeignete Einrichtung wechseln kann. Sie befürchten nämlich, dass die Vormundin Chris sofort in die von ihm nicht gewünschte Wohngruppe in Neugraben bringen will. „Dies würde bedeuten, dass er gegen seinen Willen zwangsuntergebracht würde.“ Der Junge möchte im Sommer ins Haus Huckfeld in Hittfeld umziehen und hat das auch mehrfach vor Zeugen geäußert. Vor der Einrichtung in Neugraben hat er Angst. Die Umgebung sei zu laut, das Zimmer zu klein und zu dunkel. „Etwas größer als eine Abstellkammer“, sagt Helmut Krusch.
Keine Befehlsempfänger, sondern Partner der Jugendhilfe
Der pensionierte Beamte ist engagiert und streitbar. Er hat deutschlandweit Landesverbände für Pflegeeltern gegründet, war im Bundesverband der Pflegeeltern und im Elternrat der Schule für Körperbehinderte Elfenwiese in Harburg. Als Betriebsrat, erzählt er, habe er einmal eine schwangere Putzfrau vor der Kündigung bewahrt. Bis zum Oberverwaltungsgericht ist er damals gegangen.
„Der Streit mit der Frau vom Jugendamt hat sich hochgeschaukelt“, sagt Krusch. Sie habe eine herrschende Art. „Wir sind aber keine Befehlsempfänger, wir sind Partner der Jugendhilfe“, hat er ihr gesagt. Und auch: „Wir machen die Arbeit, sie machen die Akten.“ Und wenn die Frau ihm gesagt habe, dass sie ihn nicht mag, hat er gelächelt und geantwortet: „Ich mag sie auch nicht.“
Außerdem, und das sei schlimmer, habe sie zu Chris nie ein vertrauensvolles Verhältnis aufbauen können. „Chris reagiert mittlerweile mit körperlichen Symptomen wie Erbrechen und heftigem Weinen, wenn er weiß, dass sie zu einem Hausbesuch kommt.“
Ein Pflegekind ist keine Ware
Nun aber geht es ganz konkret um die Zukunft von Chris – ohne seine Pflegeeltern. „Wir sind 78 und 81 Jahre alt. Es geht auf den Schluss zu, jetzt müssen wir unser Kind gut unterbringen“, sagt Helmut Krusch. „Wir möchten nicht, dass Chris mit seinen Wünschen übergangen und in eine Einrichtung verfrachtet wird, nur weil seine Vormundin anscheinend mit uns nicht klar kommt und eine schnelle Herausnahme und anderweitige Unterbringung bevorzugt.“ Es habe den Anschein, so Krusch, als wolle sie ihre Macht missbrauchen. „Sie lässt uns spüren, dass sie uns ablehnt.“ Das habe sie auch geäußert. „Und das empfinden wir als unprofessionell.“
Offenbar verstehe die Mitarbeiterin nicht, „dass ein Pflegekind keine Ware ist, die man beliebig platzieren kann“. Erst recht nicht ein mehrfach behindertes Kind, zu dem in fast 18 Jahren Bindungen entstanden seien, „über die man eigentlich glücklich sein müsste“.
Das Ehepaar Krusch erhält vie Unterstützung
Ein weiterer Konflikt ist die ärztliche Behandlung. Zurzeit liegt Chris in der Schön Klinik in Eilbek. Seine Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) verschlimmert sich und bereitet ihm im Liegen und im Sitzen heftige Schmerzen, die oft nur noch durch hoch dosierte Medikamente etwas reduziert werden können. Ein Facharzt hat von einer weiteren Operation abgeraten. Der behandelnde Professor in der Schön Klinik hat dagegen ausdrücklich dazu geraten, bezüglich einer möglichen Operation unbedingt noch eine zusätzliche Expertenmeinung einzuholen. Und zwar bei Professorin Anna-Kathrin Hell von der Uni-Klinik in Göttingen. Helmut Krusch hat daraufhin mit der anerkannten Fachärztin für Kinderorthopädie einen Termin im Mai gemacht. „Der wurde aber von der Vormundin gestrichen“, sagt er.
Was hat die Jugendamts-Mitarbeiterin gegen die Pflegeeltern? Hält sie das Ehepaar Krusch schlicht für zu alt? Warum verzichtet sie auf eine weitere wichtige Expertenmeinung? „Leider kann ich die erbetenen Auskünfte nicht geben. Sie unterliegen dem Sozialdatenschutz“, sagt Kay Becker, Pressesprecher vom Bezirksamt Eimsbüttel.
Für Malte Steinwärder ist das Verhalten nicht nachzuvollziehen. „Als langjähriger behandelnder Orthopäde von Chris würde ich dringend zu einer erneuten Vorstellung bei Professorin Hell in Göttingen raten“, schreibt der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in einer Stellungnahme für das Amtsgericht. Bei einer so „weitreichenden medizinischen Entscheidung bedarf es nicht nur einer Meinung, sondern weiterer spezialisierter Expertisen“. Es gehe schließlich „um die Lebensqualität und die Zukunft eines schwerbehinderten Kindes“. Hier bedarf es „einer klaren medizinischen Indikation und nicht einer juristischen Streiterei“.
Chris ist ihr Kind, kein Pflegekind
Bei seinem Kampf um die Zukunft von Chris ist das Ehepaar Krusch nicht allein. Die Physiotherapeutin Karin Tepe begleitet die Familie seit 17 Jahren. „Chris ist über all die Jahre nicht nur Pflegekind gewesen, sondern das Kind der Familie geworden“, schreibt sie in einer Erklärung an das Gericht. Sie habe die Pflegeeltern in all den Jahren als „sehr engagiert, kompetent und empathisch“ kennengelernt.
Allen Beteiligten sei klar, dass Chris mit 18 Jahren im Sommer von zu Hause ausziehen soll und wird. Es sei aber ein wirklich großer Schritt für solch einen empfindsamen Menschen, aus dem sehr geschützten Umfeld seiner Familie in eine Einrichtung zu ziehen. „Dieser Schritt sollte sensibel gestaltet werden.“ Chris’ Wunsch sei es, ins Haus Huckfeld zu ziehen, wohin auch sein Freund Marcel kommen wird. „Die Maßnahme der Vormundin ist da kontraproduktiv“, schreibt Karin Tepe und fügt an: „Chris hätte sich ohne diesen außergewöhnlichen Einsatz der Familie nicht so gut und weit entwickelt.“ Dafür, so Karin Tepe, „hätte das Ehepaar Krusch das Bundesverdienstkreuz verdient – und nicht diese brutale Maßnahme am Ende von 18 Jahren.“