Im SME Kinderwohnhaus in Eimsbüttel können Mädchen und Jungen bleiben, bis sie erwachsen sind. Hier erleben sie Sicherheit und Regeln.
Es gehört viel Stärke dazu zu verstehen, warum einen die Mutter mit fünf Jahren weggibt, zudem an Fremde. Die waren in die Wohnung gekommen und hatten Filiz mitgenommen. „Ich klammerte mich an das Bein meiner Mutter, aber sie sagte nur, ich solle mitgehen und schubste mich in Richtung der Mitarbeiter vom Jugendamt“, sagt Filiz. Ihre 13 Jahre ältere Schwester hatte das Jugendamt damals verständigt. „Und das war auch gut so, es ging nicht mehr zu Hause.“ Die 15-Jährige spricht ganz offen über die schwere psychische Erkrankung ihrer Mutter. „Ich bin ihr nicht böse, sie kann ja nichts dafür.“ Im Gegenteil, Filiz ist sehr dankbar dafür, dass sie woanders aufwachsen durfte – nämlich im SME Kinderwohnhaus in Eimsbüttel. SME steht für stadtteilbezogene, milieunahe Erziehungshilfen. Die Organisation wird vom Abendblatt-Verein „Kinder helfen Kindern“ seit Jahren unterstützt.
Über die fünf Stockwerke des Hauses verteilen sich zwei Wohngruppen für insgesamt 18 Kinder und Jugendliche, die zwischen acht und 20 Jahre alt sind. Dazwischen gibt es Zimmer für die Betreuer, die fest im Haus leben, und die Nachtbereitschaft. Die Kinder wohnen meistens zu zweit in den Zimmern. Manche haben einen Balkon, die Einrichtung ist bunt und kindgerecht. Es gibt einen Kicker im Flur, großzügige Ess- und Wohnbereiche, jede Menge Spielzeug, Poster und Kuscheltiere in den Räumen.
Seit sieben Jahren ist das Filiz’ Zuhause. Hier erfährt sie Geborgenheit, Zuverlässigkeit und geregelte Strukturen – all das konnten ihr weder die Mutter noch der Onkel und die Tante oder die Pflegeeltern geben, bei denen sie lebte, bis sie als Achtjährige ins Kinderwohnhaus zog. Damals sei sie sehr verängstigt und verstört gewesen, erinnert sie sich, der Onkel und die Tante hätten sie häufig geschlagen. „Hier im Kinderwohnhaus war ich plötzlich in Sicherheit, das war sehr schön“, sagt die Stadtteilschülerin. Das hübsche große Mädchen, das Fußball beim FC St. Pauli spielt, wirkt sehr selbstbewusst und gefestigt. Filiz überlegt, das Abitur zu machen, hat eine Gymnasialempfehlung. „Ich fühle mich einfach wohl, denn hier habe ich so viel Bildung erfahren, habe spannende Menschen kennengelernt und bin auch gereist“, sagt sie ernst.
Viele haben Gewalt und Vernachlässigung erfahren
Dreimal im Jahr verreisen die Mädchen und Jungen – mal geht es in den Skiurlaub, mal ins Zeltlager oder auf den Ponyhof. Sie können die Freizeitaktivitäten mitbestimmen. Denn einmal in der Woche gibt es die „Kinderbesprechung“. „Da werden Konflikte angesprochen, kommen alle Sorgen, aber auch Wünsche auf den Tisch“, sagt SME-Geschäftsführer Rüdiger Kuehn.
Die soziale Institution betreut ausschließlich Kinder und Jugendliche aus Eimsbüttel, St. Pauli und Altona. Viele kommen aus Familien mit Alkohol- oder Suchtproblemen, haben Gewalt erfahren und wurden stark vernachlässigt. „Uns ist es wichtig, dass die Kinder nicht ihre Bezugspunkte verlieren, weiter zu ihrer Schule gehen können und möglichst in Fußnähe zu den Eltern wohnen. Wir sind oft nur eine Episode in ihrem Leben“, sagt Sozialpädagoge Kuehn. Denn der enge Kontakt zu den Eltern ist ein wichtiges Prinzip des Jugendhilfezentrums.
Die meisten Väter und Mütter geben ihre Kinder freiwillig in die Einrichtung, allerdings in Absprache mit dem Jugendamt, das auch für den Großteil der Kosten der Unterbringung von 130 Euro pro Tag und Kind aufkommt. Das Team um Rüdiger Kuehn organisiert regelmäßig für Eltern und Kinder gemeinsame Nachmittage und Ausflüge. Viele der Kinder verbringen auch die Wochenenden bei ihren Eltern. Erklärtes Ziel ist die Rückführung der Kinder nach Hause, die meisten Kleinen wünschen sich das auch. „Im Durchschnitt wohnen die Jungen und Mädchen zwei bis drei Jahre hier“, sagt Kuehn. In seltenen Fällen, wie bei Filiz, bleiben sie bei SME, bis sie erwachsen sind. Filiz möchte später in eine Jugendwohnung umziehen.
Das ist auch das Besondere an der Einrichtung, die neben dem Kinderwohnhaus die „Flexible Betreuung“ hat. Dieser Bereich ist nur durch eine Glastür vom Kinderhaus getrennt. In dem Raum und anschließenden Büro gibt es einen großen Esstisch, eine bunte Küche und Tresen. Er wirkt wie ein gemütliches Café, ist jedoch der Treffpunkt für die 43 Jugendlichen zwischen 16 und 21 Jahren, die in den insgesamt 30 Wohnungen von SME leben. „Viele haben riesigen Stress zu Hause gehabt, sind dort rausgeflogen, haben Drogenerfahrungen oder sogar auf der Straße gelebt“, sagt Tanja Heitmüller, die wie fast alle Mitarbeiter der „Flexiblen Betreuung“ eine Wollmütze trägt und sich optisch wenig von den Jungen und Mädchen abhebt.
Ein paar Jugendliche decken den Tisch ein, denn jeden Montagabend gibt es ein gemeinsames Essen für alle. Es ist ein offenes Angebot, genauso wie die Fußballgruppe, die in einer Halle in der Nähe kickt, und die Ausflüge, die regelmäßig stattfinden. Essenskisten stapeln sich auf dem Tresen – die Hamburger Tafel hat Lebensmittel vorbeigebracht. „Die können sich die Jugendlichen abholen, denn sie müssen ja alleine für sich sorgen, also auch kochen“, sagt Heitmüller.
Mit 16 Jahren alleine zu leben – das kann ganz schön hart sein. Auch für Samira war das eine große Umstellung. Die 17-Jährige wohnt seit einem Jahr in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Altona. Davor hat sie zwei Jahre lang in Jugend-WGs gelebt, „aber ich hatte keine Lust mehr auf den Lärm und Stress mit neun anderen Jugendlichen. Ich wollte meine Ruhe haben“, sagt sie.
Mit 14 ist sie von zu Hause ausgezogen. „Ich bin zum Jugendamt und habe gesagt, dass ich es mit meiner Mutter nicht mehr aushalte. Die kannten unsere Zustände, ich wurde schon von klein auf von der Jugendhilfe betreut“, sagt sie. Ihr fällt es sichtlich schwer, über früher zu reden. Der Schmerz über Erlebtes sitzt tief, sie hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter, ihre wichtigste Bezugs- und Vertrauensperson ist jetzt die für sie zuständige Sozialpädagogin von SME. „Bei uns gibt es eine Eins-zu-eins-Betreuung. Das ist schon was Besonderes“, sagt Tanja Heitmüller.
Zudem gibt es eine 24-Stunden-Bereitschaft, bei Krisen ist immer jemand für die Jugendlichen da. „Das ist wichtig für mich, denn manchmal habe ich schon meine Tiefpunkte“, sagt Samira. Bei SME fühle sie sich geborgen und ernst genommen. Sie macht mit bei der Mädchengruppe, ist immer montags dabei und liebt die Gruppenreisen. „Mein Leben ist jetzt in Ordnung – erstmals seit vielen Jahren“, sagt Samira lächelnd und hilft den anderen fröhlich beim Tischdecken.