Hamburg. 13-Jähriger ist im Heim untergebracht, alleinerziehende Mutter hat Kontaktverbot. Leser sind empört und bitten Senatorin um Hilfe.

Der „Fall Linos“ ist im Rathaus angekommen. Der 13-Jährige Hamburger, der zehn Jahre lang bei seiner alleinerziehenden Mutter Helene (Namen geändert) aufgewachsen ist und nach dem Wechsel des Sorgerechts auf seinen Vater seit zwei Jahren gegen seinen erklärten Willen und ohne Besuchskontakt zu seiner Mutter außerhalb Hamburgs in verschiedenen Heimen untergebracht ist (das Abendblatt berichtete), beschäftigt jetzt auch die Politik. Die Links-Partei fordert von der Sozialbehörde eine genauere Untersuchung, zudem beschäftigt sich der Petitionsausschuss der Bürgerschaft mit dem Fall.

„Wir haben sehr viele Fälle von staatlichen Inobhutnahmen vorliegen, in denen alleinerziehende Frauen aus unserer Sicht zu Recht Klage führen“, sagt Sabine Boeddinghaus, Fraktionsvorsitzende der Linken. „Wir wollen da strukturelle Probleme beim Umgang mit dieser Form von Familienkostellation aufdecken, wenn sie denn vorhanden sind. Das muss aus unserer Sicht auf Stichhaltigkeit geprüft werden.“ Solch eine Art der Untersuchung sei auch schon in anderen Fällen in Hamburg, etwa bei Pflegeeltern, gemacht worden.

Die Hälfte der Inobhutnahmen betrifft Alleinerziehende

Hintergrund sind offizielle Zahlen, nach denen die staatlichen Inobhutnahmen von Kindern von alleinerziehenden Müttern sehr stark angestiegen sind. 2014 waren bei den Inobhutnahmen mit 48 Prozent knapp die Hälfte der Betroffenen alleinerziehende Mütter in Deutschland. „Genau darum geht es bei diesem Vorschlag eines Moratoriums“, sagt Boeddingshaus. „Wir wollen, dass die These untersucht wird, ob es bei den Jugendämtern Haltungen gibt, diese Frauen zu diskriminieren. Anzeichen dafür gibt es jedenfalls. Und dem muss sich die Behörde stellen.“

Da helfe es auch nicht, so Boeddingshaus, wenn in einem solchen Fall ein Bezirksamtsleiter den Jugendamtsmitarbeitern sein uneingeschränktes Vertrauen ausspreche. In einem Leserbrief an das Abendblatt hatte sich Falko Droßmann (SPD), Bezirksamtsleiter Hamburg-Mitte, sowohl gegen ein Moratorium als auch gegen eine unabhängige Kommission ausgesprochen. Diese hatte Marcus Weinberg (CDU) gefordert. „Damit die Betroffenen eine strukturierte Stimme im politischen Diskurs bekommen, braucht es eine niedrigschwellige, unabhängige Anlaufstelle für all diejenigen, die in einem vertraulichen Rahmen direkt über ihre Erfahrungen mit dem Kinder- und Jugendhilfesystem und der Praxis der Familiengerichte berichten wollen.“

Bezirksamtsleiter Droßmann kritisierte Ex-Abteilungsleiter

Droßmann, dessen Jugendamt für den „Fall Linos“ gar nicht zuständig ist, hatte außerdem geschrieben, dass es in solchen Fällen auch keiner „medialen“ Begleitung bedarf, damit die Jugendamtsmitarbeitern ihren schwierigen Job ausüben könnten. „Dieser Support des Bezirksamtsleiters Mitte hilft keinem weiter“, sagt Boeddinghaus.

Droßmann hatte in seinem Leserbrief außerdem, ohne ihn namentlich zu nennen, den früheren Abteilungsleiter der Sozialbehörde, Wolfgang Hammer, für seine Äußerungen in dem Abendblatt-Bericht über Linos scharf kritisiert. Hammer, der 30 Jahre lang die Abteilung Kinder- und Jugendhilfe in der Hamburger Sozialbehörde geleitet hat, hatte im Zusammenhang mit dem Fall Linos allgemein über Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Jugendamtsmitarbeitern gesagt: „Bei Beschwerden wird der Druck erhöht. Es gibt keine Offenheit mehr, den Fall neu zu bewerten oder Fehler rückwirkend zuzugeben. Eine Spirale von Verzweiflung und Rechthaberei ist die Folge.“

Nun wehrt sich Wolfgang Hammer gegen den Vorwurf von Droßmann: „Richtig ist, dass ich mich auf 14 mir bekannte Fälle aus Hamburg, Schleswig Holstein und Niedersachsen bezogen habe, von denen ich sowohl die Vorgeschichte als auch die hilfebegründenden Berichte und auch die Gerichtsunterlagen als Aktenkopien kenne. Und richtig ist, dass ich eine deutlich zunehmende Tendenz der Eingriffe in Familien kritisiere, die es so weder vom Anlass noch in der Häufigkeit früher gegeben hat.“

Jugendamtsmitarbeiter unter Druck

Diese Entwicklung sei für die letzten fünf Jahre durch die Jugendhilfestatistik bundesweit und auch für Hamburg belegt. „Sie ist auch Gegenstand von Kritik vieler Fachkollegen aus den Jugendämtern und von freien Tägern. Allein in einer Arbeitsgruppe von 40 Praktikern aus der Hamburger Jugendhilfe auf dem alternativen Jugendhilfetag 2017 wurde durchgängig beklagt, dass viele Jugendamtsmitarbeiter unter dem Druck stehen, Kinder aus Familien nehmen zu müssen, denen sie vor einigen Jahren noch ambulante Hilfen angeboten hätten“, sagt Wolfgang Hammer.

Außerdem stimme seine Feststellung, „dass in vielen Fällen der Kindeswillen nicht berücksichsichtigt oder dass viele Kinder nicht gehört und am Verfahren beteiligt würden.“ So wie es auch bei Linos der Fall ist, der mehrfach vor Gericht und gegenüber seiner Verfahrensbeiständin geäußert hat, dass er wieder bei seiner Mutter in Hamburg leben möchte. „Das ist schlicht rechtswidrig“, sagt Wolfgang Hammer. „Es ist an der Zeit, dass Führungskräfte der staatlichen Jugendhilfe sich dieser Problematik annehmen anstatt sie zu leugnen.“

Er werde weiterhin für die Umsetzung der UN-Kinderrechtsrechtskommission in Deutschland kämpfen. „Eine unabhängige Kommission des Deutschen Bundestages ist dazu genau so notwendig wie sie zur Aufarbeitung der Geschichte der Heimerziehung notwendig war, die jahrelang von Jugendämtern und Jugendministerien geleugnet wurde.“

In dem Zusammenhang begrüßt Wolfgang Hammer die aktuellen Ergebnisse der Sondierungsgespräche zur Großen Koalition in Berlin. Dort heißt es unter „Familie, Frauen, Kinder“ unter Punkt 2: Kinder stärken – Kinderrechte ins Grundgesetz: „Wir werden Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich verankern.“

Abendblatt-Leser setzen sich für Linos ein

Das dürfte auch im Sinne von Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard sein, die zuletzt vor vier Wochen bei der Yagmur-Gedenkveranstaltung im Rathaus betont hatte, dass sich der Senat weiterhin „für die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz“ einsetzt. Leonhard: „Wir müssen auch die Entwicklungsperspektive des Kindes betrachten. Ziel ist es, dass alle Beteiligten das Kindeswohl fest im Blick haben. Wir müssen offen sein für die unterschiedlichen Sichtweisen, auch wenn das manchmal einen Konflikt darüber bedeutet, wo genau das Kindeswohl aus dem Blick gerät, womöglich auch in einem Gerichtssaal.“

Viele Abendblatt-Leser setzen sich weiterhin für Linos ein. „Aus meiner Sicht ist es erfreulich, dass das Abendblatt versucht, der Diskussion über die Arbeit der Jugendämter Raum zu geben“, schreibt Peter Meyer. „Die Darstellung des genannten Falls lässt eine Ahnung aufkommen, wie kompliziert und komplex die Arbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) ist und welche Bedeutung familiengerichtliche Entscheidungen dabei spielen. Die dargestellte Härte und Unverhältnismäßigkeit in dem beschriebenen Fall steht für eine außergewöhnliche Menge von Fällen. Und sie ruft nach einer Erörterung, wie solche Umstände auch durch eine bessere Beachtung von Gesetzen und besser nachvollziehbarer Arbeitsteilung zwischen Jugendämtern und Familiengerichten unterbunden werden können.“

Auch Peter Meyer setzt sich kritisch mit dem Bezirksamtsleiter von Hamburg Mitte auseinander. Falko Droßmann ignoriere den dargestellten Fall und die nun offenbar gewordene Häufigkeit von Fällen insbesondere bei auswärtiger Unterbringung. „Die Masse der Fälle von Unverhältnismäßigkeit und das außergewöhnlich gestiegene Anzeigeverhalten der ASD-Beschäftigten bei den Familiengerichten, die im Moment erörtert werden, lassen Droßmann zu keinerlei Verwunderung kommen“, schreibt Peter Meyer. Dabei würden gerade auch bei der aktuell tagenden Enquete-Kommission zum Kinderschutz in Hamburg in der Betrachtung der Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure Mängel geltend gemacht, „die Herrn Droßmann bei seiner Kritik aufhorchen lassen sollten.“

Leserin: „Es macht mich fassungslos"

Es stehe deshalb zu befürchten, „dass Herr Droßmann nur eine wohlfeile Kritik an ehemaligen Kollegen äußern möchte, um seinen Untergebenen zu signalisieren, wie sehr er vor ihnen steht bei schwierigen Fällen.“ Das aber helfe „den bedingungslos auf die Unterstützung durch das Jugendamt Angewiesenen deshalb nichts, weil die Arbeit im Jugendamt – mit einer Jugendhilfeinspektion ausgestattet – zu immer stärkerer Verunsicherung und Unverhältnismäßigkeit kommen wird.“

Das befürchteten jedenfalls viele der sozialen Arbeit Wohlgesonnene, die die beiden Abendblatt-Artikel, so Meyer, „als Beginn einer konstruktiven Kritik an bestehenden Umständen, die verändert werden müssen, sahen.“ Meyer: „Und es macht traurig, dass ein leitender Beamter so signalisiert: Wir wollen ‘Weiter so!’ machen. Das ist nicht zu akzeptieren.“

Abendblatt-Leserin Lea Grunewald-Schreier schreibt in einem Brief an die Senatorin Leonhard: „Es macht mich fassungslos, dass ein Umgang von Linos mit seiner Mutter weiterhin als ‘nicht zielführend’ angesehen wird.“ Sie habe Vertrauen in die „sehr schwierige Arbeit“ der Jugendämter. „Es sind Menschen, die dort ihr Bestes zu geben versuchen. Aber eben ‘nur’ Menschen, und Menschen können Fehler machen. Ich bitte Sie sehr, sich des ‘Falles Linos’ noch einmal ganz genau anzunehmen.“

Die Behörde hat nach eigenen Angaben den Fall, der in der Zuständigkeit des Jugendamtes im Bezirk Hamburg Nord liegt, noch einmal geprüft und dann verlauten lassen: „Strukturelle Mängel im Handeln des Jugendamtes sind nicht erkennbar."