Hamburg. Intendant und Regisseur Axel Schneider will den Romanzyklus „Die deutsche Chronik“ komplett auf die Bühne bringen.
Auf dem langen Tisch liegen Weintrauben, Kaffeetassen stehen zwischen Schälchen mit Streichkäse und Weißbrot, das Licht ist gedimmt. Katrin Gerken setzt ihre Lesebrille auf und blättert in dem dicken Stapel Papier, der vor ihr liegt. Sie ist eine von neun Schauspielern und Schauspielerinnen, die mit Axel Schneider auf eine „lange Reise“ gehen werden, wie der Intendant des Altonaer Theaters es sich wünscht. Schneider, in diesem Falle auch Regisseur und Autor, hat das Team ins hauseigene Café Oelsner eingeladen. In den kommenden 18 Monaten will er einen kompletten Kempowski-Zyklus auf die Beine stellen. Diese erste Leseprobe, vier Monate vor dem eigentlichen Probenstart, dient Schneider dazu, das Ensemble auf das Großprojekt einzuschwören, seinen Ansatz zu erklären und die vorliegenden Fassungen von „Aus großer Zeit“ und „Schöne Aussicht“ zum ersten Mal zu lesen.
„Wir spielen Bücher“ ist seit einigen Jahren Schneiders Credo in Altona. Für die kommende Spielzeit hat der Theatermann sich ein Mammut-Vorhaben vorgenommen: Schneider will Walter Kempowskis Romanzyklus „Die deutsche Chronik“ an vier Abenden auf die Bühne hieven. Die Reihe, zwischen 1971 und 1984 veröffentlicht, umfasst neun Bände. Kempowski (1929–2007) erzählt darin den Niedergang des deutschen Bürgertums während des 20. Jahrhunderts und benutzt dafür in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion seine eigene Familiengeschichte.
„Fassungen sind noch viel zu lang“
„Die Fassungen, die wir lesen, sind noch viel zu lang“, räumt Schneider ein. Dieser Tage ist er dabei, nicht nur zu kürzen, sondern die beiden Familiengeschichten, um die es ursprünglich geht, bühnentechnisch so zu verschmelzen, dass – unabhängig von einer Chronologie der Ereignisse – eine ganz neue bühnenwirksame Dynamik und damit ein hohes Spieltempo entstehen kann. „Die Theatralik bei Kempowski ist nicht automatisch da. Aber Kempowski ist ein hochmusikalischer Schriftsteller gewesen. Wenn es mir gelingt, diese Musikalität herauszuarbeiten und auf die Bühne zu bringen, wäre ich sehr glücklich.“
Während eines Seminars zur Nachkriegsliteratur machte Schneider zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Chronisten Kempowski. 2010 inszenierte er am Altonaer Theater „Tadellöser & Wolff“, den vierten und bekanntesten Teil der Chronik. „Damals bin ich tief in Kempowskis Werk eingestiegen und habe es mit großem Spaß gelesen.“ Zu einer Aufführung von „Tadellöser & Wolff“ kam auch Kempowskis Ehefrau Hildegard. „Sie war sehr angetan und hat mir damals die weiteren Rechte an den Romanen angeboten“, so Schneider. 2012 inszenierte er „Uns geht’s ja noch gold“, aber dann verschwand Kempowski erst einmal wieder aus seinem Fokus.
Telefone mit Schnur und Wählscheibe
Im vergangenen Jahr kam Axel Schneider die Idee, anhand der „Deutschen Chronik“ das vergangene Jahrhundert an seinem Theater wieder auferstehen zu lassen. „Unsere Kinder sind 2002 und 2005 geboren. Wenn ich ihnen erzähle, dass wir früher Telefone mit Schnur und Wählscheibe hatten, komme ich mir immer wie ein Museumswärter vor. Meine Kinder haben kaum Berührungen mit dem 20. Jahrhundert. Vielleicht hilft dieser Zyklus, auch für junge Theatergänger den Blick erneut auf die Zeit der Weltkriege und des Wiederaufbaus zu lenken“, sagt Schneider, selbst Jahrgang 1966. In seinen Überlegungen geht er noch weiter. „Wie werden Menschen in 100 Jahren über uns urteilen? Haben wir unsere Demokratie im Griff? Warum sitzt die AfD im Bundestag? Die Rückbesinnung auf Geschichte kann hilfreich sein, um sich die eigene Verantwortung klarzumachen“, führt er aus.
Für ein Privattheater mit seinen begrenzten finanziellen Mitteln ist das Kempowski-Projekt eine große Herausforderung – sowohl künstlerisch als auch ökonomisch. Axel Schneider hat es geschafft, Jan Philipp Reemtsma und seine Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur mit ins Boot zu holen. Außerdem bekommt das Altonaer Theater Unterstützung vom Bund und anteilig von der Kulturbehörde, weil drei ausländische Künstler in das Projekt einsteigen. Eine Musikerin aus Russland, ein französischer Bühnenfotograf und ein britischer Kampfchoreograf werden ebenfalls zum Ensemble gehören. „Ohne diese finanzielle Absicherung wäre das Risiko zu groß“, sagt der Intendant.
Für sein Vorhaben hat Schneider ein heterogenes Ensemble aus alten und jungen Schauspielern zusammengeholt. „Es sind ein paar alte Weggefährten dabei, aber auch ein paar junge Leute. Wichtig ist, dass ich alle gut kenne und einschätzen kann. Wenn man länger als ein Jahr lang gemeinsam arbeitet, kann man es sich nicht erlauben, erst während der Proben herauszufinden, ob jemand wirklich dazu passt“, erklärt Schneider seine Besetzung.
Erste Begegnung mit Kollegen
Auch für die Schauspieler ist diese erste Leseprobe die erste Begegnung mit Kollegen, die sie zum Teil noch nie zuvor gesehen haben. „So ein Abend ist wichtig, um sich kennenzulernen und von Beginn an die Atmosphäre zu spüren“, sagt Katrin Gerken, die seit vielen Jahren am Altonaer Theater spielt. Der Schauspieler Johan Richter, in Altona gerade in „Schöne neue Welt“ besetzt, ergänzt: „Man spürt schon sehr schnell, wer zum Beispiel komödiantisches Talent hat.“
Axel Schneider hat bereits im Kopf, wer welchen Part spielen wird. Die Schauspieler sind bei der Leseprobe noch etwas verwirrt angesichts der Vielzahl an Rollen, die sie übernehmen müssen. Doch richtig los geht es mit den Proben ohnehin erst im Mai. Mit einer Doppel-Premiere startet das Altonaer Theater Mitte September in die Spielzeit 2018/19. „Aus großer Zeit“ und „Schöne Aussicht“ stehen dann auf dem Programm.
Für das Ensemble wird das ein mutiger Ritt. Aber Axel Schneider gibt sich zuversichtlich. „Angst hatte ich noch nie, sonst hätte ich viele Arbeiten nicht machen können. Manchmal muss man auf eine Karte setzen.“ Und die heißt jetzt: „Projekt Kempowski“.