Hamburg. Der Künstler gastiert im Januar mit einem Fragment von Albert Camus am Altonaer Theater. Literatur sei „beste geistige Speise“.
Wäre es ein Filmskript, fände man es, vor allem in den Details, fast ein wenig konstruiert: Am 4. Januar 1960 platzte am Wagen von Albert Camus ein Reifen. Das Auto krachte irgendwo in Frankreich gegen einen Baum, der Autor, der drei Jahre zuvor den Literaturnobelpreis erhalten hatte, starb. In den Trümmern: Texte von Shakespeare und Nietzsche. Was man halt so bei sich trägt als Schriftsteller. Vor allem aber fanden sich am Unfallort 144 Seiten, handgeschrieben. Albert Camus’ letztes, unvollendetes Romanmanuskript. Eine literarische Sensation – die seine Witwe jedoch nicht veröffentlichte. Erst 34 Jahre später kam der Text ans Licht. Und nicht nur die Entdeckung dieses Werks ist erzählenswert, sondern auch sein Inhalt. Es ist Albert Camus’ eigene Kindheitsgeschichte.
„Der erste Mensch“ heißt das Fragment, aus dem der Schauspieler Joachim Król („Der bewegte Mann“) mit dem Regisseur Martin Mühleis und dem Musiker Christoph Dangelmaier einen literarisch-musikalischen Abend gestaltet hat. In Hamburg gastieren sie damit im Januar für einige Termine am Altonaer Theater. „Es ist weit mehr als eine Lesung“, verspricht Król. „Am liebsten habe ich es, wenn die Leute von Kopfkino sprechen.“
„Schlüsselwerk zu Camus’ Denken“
„Der erste Mensch“ sei „ein Schlüsselwerk zu Camus’ Denken, zu seinem Humanismus, zu seinem Blick auf die Menschen“. Natürlich könne man nicht das gesamte Werk erzählen, auch wenn es nur ein Fragment ist. „Wir haben uns auf die Kindheit und die Jugend konzentriert, als die schicksalhafte Begegnung mit seinem Lehrer stattgefunden hat. Der erkennt ein Kind aus einer Analphabetenfamilie als förderwürdig und bringt es damit auf den Weg.“ Für „Der erste Mensch“ hat das Team Musiker engagiert, die das Instrumentarium des nordafrikanischen Kulturraums beherrschen. Denn Camus wurde in Algerien geboren, sein Vater fiel 1914 im Krieg, der kleine Albert wuchs in einem Armenviertel von Algier auf. Sein späterer Werdegang war alles andere als selbstverständlich.
Eben damit erzähle der Text auch etwas über die Gegenwart, findet Joachim Król, er erzähle etwas darüber, „wie wir die Probleme angehen können“: „Nur über Bildung. Bildung ist der geniale Schlüssel. Gebildete Menschen haben andere Mittel, mit Problemen umzugehen.“ Die Leidenschaft des Schauspielers für das Thema ist im Gespräch sofort zu spüren, und das hat seinen Grund: „Ich weiß, wovon ich spreche, meine Frau ist Lehrerin.“ Król lächelt, aber es ist ihm ernst. „Bildung ist natürlich eine Investition, die in einer Zeit des durchgedrehten Kapitalismus erst einmal nicht lukrativ erscheint, weil sie nicht sofort Renditen abwirft. Aber wenn man in die Zukunft schaut, ist sie unabdingbar.“
Erinnerungsstücke auf dem Dachboden
In einem Textabschnitt reflektiert der Erzähler über die bürgerlichen Sprösslinge auf dem Gymnasium, das er besucht. Anders als in seiner eigenen Familie üblich, gibt es bei den anderen Jungen Fotoalben und Erinnerungsstücke auf dem Dachboden. Es gibt eine Erinnerungskultur. In Camus’ Familie dagegen ist jeder immer „der erste Mensch“. „Ich finde, das ist ein geniales Bild“, schwärmt Król. „Erst recht heutzutage, wenn man überlegt, wie viele Menschen gerade bei uns ankommen, ohne irgendetwas mitgenommen zu haben. Die kommen hier an wie ,erste Menschen‘! So etwas übersieht man gern, bei all den Problemen, die daraus auch entstehen.“
Joachim Król kannte den Text nicht, bevor die Idee ihn erreichte, diesen Abend mitzugestalten. Das sei sogar „ein Wesen der gemeinsamen Arbeit mit Martin Mühleis“, sagt er: „Mühleis hat mir vor langer Zeit Haruki Murakami vorgestellt, auch Alessandro Baricco habe ich durch ihn kennengelernt. Es ist toll, wenn er mich anruft und sagt: Schau dir das mal an, denk mal darüber nach. Camus kannte ich natürlich, aber eben nicht diesen Text. Umso schöner!“´
Er pflege diese Angewohnheit geradezu: „Jede Arbeit, die ich annehme, muss diesen Mehrwert haben. Ich möchte irgendwohin, wo ich noch nie war. Oder etwas studieren, was ich noch nicht kenne.“ Hat Joachim Król gerade „Mehrwert“ gesagt oder doch eher „Nährwert“ ...? Er lacht. „Eigentlich egal. Beides ist richtig. Literatur ist ja beste geistige Speise!“
„Der erste Mensch“ 6. u. 8.1., 20.00; 7. u. 24.1., 19.00; Altonaer Theater, Museumstr. 17 (S Altona), Karten 18-40,-,T. 39 90 58 70