Hamburg. Kirchenkreis Hamburg-Ost stellt sich Veränderungen. Projektgruppe U 45 fragt: Was ist noch Kirche, was kann weg?
Der Name „U 45“ klingt nach einem militärischen Unterseeboot mit streng vertraulichem Einsatzplan. Auch die elf Pastoren vom Kirchenkreis Hamburg-Ost, die sich im Februar 2017 aus Hamburg und Umgebung auf den Weg zum Verteidigungsministerium nach Berlin begeben, machen aus ihrem Vorhaben zunächst ein Geheimnis. Doch im Unterschied zum echten „U 45“ – einem Boot der deutschen Kriegsmarine, das im April 1938 in Kiel vom Stapel läuft und am 14. Oktober 1939 südwestlich von England durch Wasserbomben eines britischen Zerstörers versenkt wird – handelt es sich beim Zukunftsprojekt der Geistlichen um eine friedliche Mission. Sie dient einzig dem Ziel, wieder mehr Menschen für die Institution Kirche und für den Pastorenberuf zu begeistern. Und tatsächlich hat das Modell mit dem Namen Kugellager, das im Jahr 500 nach Luther seinen Anfang nimmt, das Zeug zu einer echten Erneuerungsbewegung.
Kommentar: Kirche geht auch anders
Eines der vielen aktuellen Probleme der Kirche wird an diesem Sonntag in der Stormarner Gemeinde Trittau deutlich. Es ist kurz vor 10 Uhr. Die vier Bronzeglocken der evangelischen Pfarrkirche Martin Luther läuten zum Gottesdienst. Pastorin Anja Botta blickt von der Kanzel auf viele leere Bänke. Gerade einmal 40, vielleicht 50 Menschen sind an diesem Morgen in das denkmalgeschützte Rotsteingebäude gekommen. 40 bis 50 von rund 4500 Kirchengliedern, die zu dieser Gemeinde mit den Ortsteilen Trittau, Grande, Hamfelde, Hohenfelde, Rausdorf und Witzhave zählen. Zehn von ihnen sind Konfirmanden – zum „Dienstbesuch“ verpflichtet also. Die anderen sind meist ältere Dauergäste, deren Gesichter Anja Botta allesamt kennt.
Zu viel Verwaltung
Knapp drei Jahre ist es her, dass die Pastorin aus der vom Missbrauchsskandal geschüttelten Stadt Ahrensburg in ruhigeres Fahrwasser in diese Gemeinde wechselte. Es war eine „harte Schule“, die sie in Ahrensburg durchlaufen hatte, wie sie beim Abschied bekundete. Doch an der Begeisterung für ihren Beruf hat das nichts verändert. Und so freut sich die Pastorin auch an diesem Morgen darüber, „Zeit zu haben, dem Glauben der Menschen Raum geben zu können. Schade nur, dass es wieder so wenige sind.“ Etwa 270 Sitzplätze in der Martin-Luther-Kirche bleiben leer. Ja, heute ist eben nicht Weihnachten oder Ostern.
Heute wird hier niemand getraut, niemand zu Grabe getragen. Heute ist wieder nur ein ganz normaler Sonntag. Doch genau solche Tage sind es, die die 44-Jährige und viele ihrer Kollegen ins Grübeln bringen. Weil sie sich fragen, ob es wirklich „normal“ ist, wenn es nur noch einen Bruchteil der rund 433.000 Mitglieder des Kirchenkreises Hamburg-Ost in die Gotteshäuser zieht. Deshalb hinterfragen sie, ob das, was die Geistlichen den Menschen in den 116 Gemeinden des Kirchenkreises anbieten, noch zeitgemäß ist. Sie wollen genau wissen, was die Menschen anspricht, in den Gemeinden dabei zu sein.
Im Jahr 2016 geben die Personalentwickler Pastor Jürgen Wisch und Jan- Erik Soltmann den Anstoß zu einem richtungsweisenden Projekt. Geistliche im Alter unter 45 Jahren (U 45) sollen Ideen sammeln für die Zeit, wenn eine Pensionierungswelle mit voller Wucht über die Kirche hereinbrechen wird. Eine Zeit, in der die Teilnehmer noch im Dienst sein werden. Wie viel Kraft diese Welle entwickeln wird, verdeutlichen trockene Zahlen: Bis 2030 werden im Vergleich zu heute von 264 Pfarrstellen (Stand Januar 2018) nur noch 135 übrig sein.
Zwar werden dann wohl weniger Kirchenmitglieder zu betreuen, weniger Gebäude zu verwalten sein. Doch sicher ist, dass alle Pastoren, die 2030 noch mit im Boot sitzen, sich auf eine weitere Verdichtung ihrer Arbeit einstellen müssen. Denn wo jetzt noch rein rechnerisch ein Geistlicher auf rund 2600 Gemeindemitglieder kommt, werden es in zwölf Jahren bis zu 4000 sein. Höchste Zeit also, sich – wie ein modernes Unternehmen – Gedanken über die Zukunft und über neue Strukturen zu machen.
Burn-out im Pfarramt
Was hat die Pastoren motiviert, auf eine Lernreise zu Unternehmen zu gehen wie die Hamburger Sparkasse, zu Organisationen wie Viva con Agua? „Wir haben ernste Probleme. Unsere Kirche wird kleiner“, sagt Botta. „Aber ich habe das ewige Gejammer satt. Ich will nicht mehr jammern über das, was nicht mehr geht, was nicht mehr da ist. Ich möchte Räume öffnen für Neues.“ Dazu brauche sie Kollegen, „die ähnlich denken und arbeiten möchten. Ich brauche den Austausch, sonst brenne ich aus.“
Das klingt nach Burn-out im Pfarramt. Wie groß ist diese Gefahr? Bis zu 60 Stunden Arbeit leistet die Mutter eines zehn Jahre alten Sohnes jede Woche. Sechs Wochen Urlaub stehen ihr im Jahr zu. Der Bruttolohn für diesen Einsatz sei vergleichbar mit dem eines Gymnasiallehrers, sagt sie. Zu ihren Aufgaben gehören Taufen, Trauungen, Beerdigungen, Gottesdienste, Konfirmationen und Seniorenarbeit. Vieles muss vorbesprochen und vorbereitet werden. „Aber mindestens die Hälfte meiner Arbeitskraft geht inzwischen für Verwaltung drauf“, sagt Anja Botta. Zwar werde sie von einer Gemeindesekretärin in Teilzeit und einer weiteren Kraft bei der Friedhofsverwaltung unterstützt.
Finanzielle Situation war früher besser
Doch die seelsorgerische Arbeit komme oft viel zu kurz. Zumal sie als Vorsitzende des Kirchengemeinderats auch Sitzungen des Gremiums vor- und nachbereiten muss. In Bezug auf die Arbeitsbelastung gehe es ihr ähnlich wie vielen ihrer Kollegen. „Dabei haben wir alle Verwaltung nicht gelernt. Es nervt mich, wenn Vorgespräche für Trauerfeiern oder Gottesdienste darunter leiden – ein weit verbreitetes Phänomen in meinem Kollegenkreis“, sagt Botta. Früher sei weiß Gott nicht alles besser gewesen, „aber viele Gemeinden hatten eine eigene Verwaltung. Das waren noch andere Zeiten.“ Zur Standortbestimmung gehört aber eben auch die finanzielle Situation, die früher besser gewesen sei. Bei den Kirchensteuer-einnahmen sehe es zwar „gerade nicht schlecht“ aus. Doch drücken den Kirchenkreis die Kosten für das Personal und für ältere Gebäude.
Beim Thema Nachwuchsförderung befinde sich die Kirche in einem Teufelskreis. Die Arbeitsverdichtung schrecke manche junge Menschen ebenso ab wie die Residenzpflicht. So heißt die bisher strenge Vorgabe, dass Pastoren immer dort wohnen müssen, wo sie arbeiten. Die Kirche stellt dafür ihre Pastorate zur Verfügung. Der Zustand vieler Häuser oder Wohnungen aber lässt zu wünschen übrig – das liebe Geld. Andere sind schlicht zu groß. Anja Botta: „Ich habe mit meinem Kind 180 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, umgeben von 3000 Quadratmetern Land. Das braucht kein Mensch.“
Pastoren stellen Gottesdienste auf den Prüfstand
Nachdem die Pastoren die Probleme und deren Ursachen analysiert hatten, gingen sie auf die Lernreise. „Wenn Neues in die Welt kommen soll, muss man die Hütte abbrennen lassen“, sagt Anja Botta. Was viele in einem Wandlungsprozess befindliche Unternehmen neudeutsch „Best practice“ nennen, war beschlossene Sache: Besuche und Austausch bei und mit Organisationen und Firmen, die sich auch in Teilen oder in Gänze neu erfinden müssen.
„Wir haben Ziele bewusst ausgesucht, um uns verstören zu lassen“, erinnert sich Anja Botta an die Auswahl. „Das Verteidigungsministerium zum Beispiel hat ähnliche strukturelle Themen wie wir. Von dort haben wir mitgenommen, dass wir für jede große Veränderung immer auch die Zustimmung unserer Führung benötigen. Sonst können wir das gleich vergessen“, berichtet die engagierte Pastorin.
Das Modell „Kugellager“
Ein grundsätzliches Einverständnis ist ihr und ihren Mitstreitern schon mal sicher. Denn als die Pastoren ihr Projekt beim Gesamtpröpstekonvent der Nordkirche in Rendsburg allen Bischöfen und Pröpsten präsentierten, habe sich Landesbischof Gerhard Ulrich begeistert gezeigt, sogar gefordert: „Ich verlange, dass Sie das umsetzen.“ Das habe Botta und ihre Mitstreiter erstaunt und erfreut. „Vielleicht lag es daran, dass es ,von oben‘ bisher nicht viele Alternativ-ideen gegeben hat.“ Aber was ist es nun genau, das Ulrich so begeistert hat und wovon Hamburgs Bischöfin Kirsten Fehrs fast schon schwärmt mit den Worten: „Mich haben etliche Ideen angesprochen und sogar überzeugt. Vor allem, weil sie aus einer Haltung entstanden sind, die sich konstruktiv mit den veränderten Bedingungen der Zukunft auseinandersetzt.“
Die Projektgruppe nennt es das Modell „Kugellager“. Es liefert Antworten auf die Frage, wie das Unternehmen Kirche in naher Zukunft mit nur noch etwa der Hälfte der derzeit amtierenden Pastoren die gleiche Arbeit bewältigen kann. Und zwar so, dass die Zufriedenheit der „Kunden“, also der Kirchenmitglieder, dabei wächst oder sogar neue dazugewonnen werden. „Wir möchten zum Beispiel größere Räume aus mehreren Gemeinden bilden“, sagt Botta. „In diesen Räumen wäre jeder Geistliche Teil eines Kugellagers und arbeitete schwerpunktmäßig seinen Neigungen entsprechend.“ Der eine mit Jugendlichen, der andere mit Senioren. Wieder andere im Bereich Trauerbewältigung. Auch müssten die Lasten gleichmäßig verteilt werden. Kirche müsse flexibler bei der Gestaltung der Arbeit und der Arbeitszeit werden.
Kirche muss ihr Profil schärfen
Synergieeffekte könnten besser genutzt werden. Botta: „Wir könnten mit weniger Reibung mehr bewirken.“ Und würden Pastoren erst einmal an unterschiedlichen Orten eingesetzt, müssten sie auch nicht mehr über die Residenzpflicht an einen Ort gebunden sein. Die Projektteilnehmer seien einig darin: „Die muss zumindest gelockert werden.“ Zur Arbeitszeit nennt Botta dieses Beispiel: „Wenn ich auf einer 100-Prozent-Stelle bin und bekomme im Laufe der Zeit drei Kinder, muss ich nach jetzigem Stand der Dinge meine Stelle zwangsläufig wechseln, weil ich nicht mehr das Gleiche an derselben Stelle leisten kann. Nach unserem Modell bliebe ich Teil des Kugellagers. Ich bliebe in meinem Arbeitsumsfeld, würde aber drei oder vier Kugeln an andere Pastoren abgeben. Und das Ganze würde weiter funktionieren.“ Zum Austausch wünschen sich die Pastoren „geistliche Ateliers“. Orte, an denen gemeinsam gearbeitet, Ideen entwickelt werden können.
Die Kirchengemeinden müssten klar definieren, wo genau wie viel pastorale Arbeitskraft gebraucht werde. Kirche müsse ihr Profil schärfen. Über Gottesdienste sagt Botta: „Weihnachten und Ostern ist die Kirche voll, sonst oftmals fast leer.“ Eine Dramaturgin der städtischen Schauspielbühne in Leipzig habe den Pastoren gesagt, dass in der Theaterwelt niemand auf die Idee käme, „in fußläufiger Entfernung zur Bühne zur gleichen Zeit dasselbe Stück an 100 verschiedenen Orten aufzuführen. Warum macht ihr das?“ Das hätten alle Geistlichen „total einleuchtend“ gefunden. Also müssten sich Bischöfe, Pröpste und Pastoren fragen: „Was ist Gottesdienst und wann am besten? Welche Form muss er haben? Stellt er überhaupt noch die Mitte der Gemeinde dar?“
Projektorientierte Alternativen
Viele Menschen suchten heute projektorientierte Alternativen zum Andocken an die Kirche. U 45 stellt aber weit mehr als nur den Gottesdienst auf den Prüfstand. „Bisher sind wir ein Gemischtwarenladen, der alles macht“, sagt Anja Botta und lächelt dabei fast schon ein wenig gequält. „Kirche hat etwas von einem Vereinswesen. Aber müssen wir wirklich vier Krabbelgruppen in einer Gemeinde anbieten, mehrere Kaffeekreise für Senioren? Das ist nicht unser Kerngeschäft. Und kein Alleinstellungsmerkmal. So etwas können andere vielleicht sogar besser.“ Kugellager bedeutet auch, dass Gottes Bodenpersonal mehr Zeit investiert in Gespräche mit Konfirmanden und deren Eltern. Mit Hilfsbedürftigen. Dass sie mehr Kraft steckt in Konficamps und die Arbeit mit Familien. Die Pastoren sind sicher: „Das ist es, was junge Menschen wollen.“
Seit zwölf Jahren ist Pastorin Botta nun an wechselnden Orten im Einsatz. Das, was sie heute in ihrem Umfeld erlebt, empfinde sie als einen „dramatischen Umwälzungsprozess“. Sie und die Teilnehmer von U 45 glauben fest, dass dieser Prozess auch Chancen bietet. „Sofern unser Weg nicht mehr so institutionalisiert sein wird“, sagt sie. Bei vielen kirchlichen Angeboten müsste die knallharte Frage formuliert werden: „Ist das noch Kirche, oder kann das weg?“ Vor allem junge Menschen suchten Orientierung in Zeiten wachsender Unsicherheit. Hier könne Kirche mit großen Gemeinschaftsaktionen punkten, von der alle Altersgruppen profitieren.
Haspa: „Du nimmst niemals alle mit“
Beim Pröpstekonvent lief es für das Modell Kugellager wie geschmiert. Nun kommt es auf die weiteren Schritte an. Wie die aussehen können, skizziert Botta so: „Der Kirchenkreis sucht nach Erprobungsräumen in Hamburg. Bischof Ulrich hat uns gesagt, ,kommt ins Probieren‘. Das machen wir jetzt.“ Pastor Jürgen Wisch sagt: „Der Kirchenkreis Hamburg-Ost hat beschlossen, zwei solche Erprobungsräume zu ermöglichen.“ Entsprechende Mittel für die Arbeit würden bereitgestellt. Wisch weiter: „Kugellager erfordert aber ein ziemliches Umdenken sowohl für die Gemeinden als auch für die Mitarbeiter. Solche Klärungsprozesse sind sicher nicht ohne Auseinandersetzungen zu haben.“
Doch auch in Bezug auf mögliche Widerstände hat U 45 von anderen Unternehmen gelernt. Anja Botta: „Bei der Haspa lautete der Kernsatz, ,du nimmst niemals alle mit.‘ Etwa 30 Prozent verweigern sich Veränderungen. Diese Leute muss man im Zweifel stehen lassen. Auch, wenn das gerade uns Probleme bereitet, weil Kirche immer auf Harmonie aus ist.“
Segen von Kirsten Fehrs
Anja Botta möchte sowohl die Skeptiker unter ihren Kollegen als auch diejenigen für Neues gewinnen, für die sie tätig ist, also die Menschen in den Kirchengemeinden. Sie zitiert dazu einen Sozialarbeiter aus der autonomen Szene in Berlin-Kreuzberg: „Ihr sagt immer, ihr arbeitet daran, die Türen zu öffnen. Macht sie doch einfach auf. Dann kommen die Menschen auch.“ Anja Botta: „Wir alle sollten offen sein für das, was kommt. Und mitgehen.“
Den Segen von Kirsten Fehrs haben Anja Botta und die anderen Geistlichen allemal. Auf die Frage, ob das Modell Kugellager das Zeug zu einem Pilotprojekt hat, das bundesweite Bedeutung erlangen könnte, sagt Hamburgs Bischöfin: „Das sind frische Ideen, gute Impulse von verantwortungsvollen jungen Pastoren, die Freude an der Arbeit haben. Das ist eine gute Mischung, um Veränderungen anzugehen und nicht immer nur zu befürchten. Und es ist ein toller Beitrag zum Jubiläumsjahr der Reformation – denn Kirche ist laut Martin Luther immer Kirche in Veränderung.“