Hamburg . Ralf Martin Meyer: Zwischen Hinweis auf Täter und seinem Verhör lagen sieben Monate. Gutachten bis heute nicht erstellt.

Ralf Martin Meyer, seit 2014 Hamburgs Polizeipräsident, wird derzeit stark beansprucht. Erst der Großeinsatz beim G20-Gipfel, nun die verstörende Barmbeker Bluttat: Die Polizei und ihr Chef erleben extreme Tage und Wochen. Am Sonntag stellte sich Meyer den Fragen des Hamburger Abendblatts.

Wie bewerten Sie den Polizeieinsatz vom Freitag?

Ralf Martin Meyer: Ich denke, der Einsatz ist ordentlich gelaufen. Wir haben uns schnell so organisiert, wie wir es nach den Erfahrungen des Amoklaufs von München vorgesehen haben. Man weiß also zum Anfang nicht, womit man es zu tun hat, mit einem Amoklauf oder einem Terroranschlag. In so einem Moment sprechen wir von lebensbedrohlichen Lagen. In Barmbek gab es verschiedene Tatorte. Die ersten Zivilfahnder waren zwei Minuten nach der Alarmierung am Tatort. Am Ende konnte der Täter festgesetzt werden.

Was waren die wichtigsten Konsequenzen aus dem Amoklauf in München?

Am Anfang einer solchen Bedrohungs­lage ist nicht klar, womit man es zu tun hat. Wir erleben vermehrt, dass es sich bei den Tätern um psychisch gestörte Menschen handelt. Deshalb fällt die klare Trennung zwischen Terroranschlag und Tat eines psychisch kranken Menschen schwer.

War die Tat in Barmbek ein Terroranschlag?

Wir haben Hinweise, die auf einen psychisch gestörten Täter schließen lassen, bei dem auch eine islamistische Motivation eine Rolle gespielt hat. Deshalb fällt es mir schwer, von einem Terroranschlag zu sprechen. Das Gericht hat auf Antrag der Staatsanwaltschaft hin einen Haftbefehl erstellt, was darauf schließen lässt, dass man den Täter aktuell nicht für psychisch gestört hält. Sonst müsste man ihn ja in einer entsprechenden Einrichtung unterbringen. Ich möchte mit einer abschließenden Bewertung vorsichtig sein. Wir wissen, dass der Mann in der Vergangenheit sich oft normal verhalten hat, aber – sozusagen schubweise – auch Phasen hatte, in denen er sich auffällig verhielt.

Gab es eine psychologische Überprüfung des mutmaßlichen Täters?

Die Situation ist etwas verworren. Im April vergangenen Jahres meldete sich ein Bekannter des mutmaßlichen Täters bei der Polizei und meinte, sein Freund habe sich verändert. In diesem Zusammenhang wurde zunächst ein falscher Name genannt, sodass die Information des Verfassungsschutzes erst im August erfolgte. Bei den zunächst genannten Personalien handelte es sich um einen 15-Jährigen, der auch in der Unterkunft Kiwittsmoor wohnte, mit der Sache aber nichts zu tun hatte. Unklar ist bislang, warum die Information des Verfassungsschutzes bis zum August dauerte, das wird aufgearbeitet. Der Verfassungsschutz sprach dann zunächst mit dem Hinweisgeber und Anfang November 2016 mit dem mutmaßlichen Täter vom Freitag. Nach diesem Gespräch kam man zu dem Schluss, dass es sich um einen möglichen Islamisten handelt, aber nicht um einen Dschihadisten. Es gab weder eine Einbindung in ein entsprechendes Netzwerk, noch tauchte sein Name in gefährlichen Kreisen auf. Man hatte den Verdacht, der Mann sei möglicherweise psychisch angeknackst.

Der Verfassungsschutz empfahl dennoch der Polizei, ein sozialpsychiatrisches Gutachten erstellen zu lassen. Können Sie erklären, warum das bis heute nicht geschehen ist?

Wir arbeiten das gerade auf. Es gibt Hinweise, dass die zuständigen Beamten eine Fallkonferenz vorbereiteten. Bis zur Tat hat diese Konferenz nach unseren Unterlagen noch nicht stattgefunden. Ob das tatsächlich so ist und ob dieser Fall auf Basis der damaligen Informationen hätte vorrangig bearbeitet werden müssen, werden wir aufklären.

Haben Sie Kontakt zu den Ermittlern?

Ja, sie müssen jetzt zunächst erst einmal selbst prüfen, was ihre Unterlagen über diesen Fall aussagen und welche Erkenntnisse sie seinerzeit zu ihrem Urteil gelangen ließ. Wir müssen auch bedenken, dass der Täter vom Freitag freiwillig ausreisen wollte. Er hat aus seiner Identität keinen Hehl bemacht, war mit in Berlin bei der Palästinensischen Mission, um Passersatzpapiere zu bekommen, und hat sich noch am Tattag nach dem Verbleib der Papiere zur kurzfristigen Ausreise erkundigt. Das zeigt, wie verwirrend der Fall ist. Die Frage ist, inwieweit das die Einschätzung der Beamten beeinflusst hat.

Kann es sei, dass der Mann durch sein Verhalten die Behörden in Sicherheit wiegen wollte?

Darauf haben wir keine Hinweise. Selbst LKA-Beamte, die in der Flüchtlingseinrichtung aufklärerisch unterwegs waren und mit dem Mann gesprochen hatten, kamen zu dem Schluss, er zeige keine Auffälligkeiten.

Trotzdem hat er am vergangenen Freitag diese Bluttat begangen.

Wir müssen mit diesem Problem umgehen: Wie kann man die Gefährlichkeit eines Menschen feststellen, der nicht in islamistische Kreise eingebunden ist und keine direkten Auftraggeber hat, der aber möglicherweise psychisch gestört ist? In einen Menschen hineinzuschauen und genau voraussagen zu können, ob er eine solche Tat begehen wird, bleibt schwierig.

Welche Konsequenz hat dieser Fall für den Umgang mit jenen 799 Menschen, die vom Verfassungsschutz als Islamisten eingestuft wurden? Schauen Sie sich jetzt noch einmal jede Akte an?

Wir müssen auch getrennt vom aktuellen Einzelfall, bei dem wir noch in der Aufbereitung sind, strukturelle Überprüfungen vornehmen, zum Beispiel zur Frage unseres Risikomanagements.

Muss man in Zukunft noch genauer hinschauen?

Wir müssen uns fragen, wie wir mit psychisch gestörten Tätern umgehen, auch wenn diese mit dem terroristischen Islamismus nichts zu tun haben. Auch hier gibt es Grenzen. Man kann nur bedingt in Menschen hineinschauen.

Das klingt nicht sehr vertrauenerweckend.

Ein Problem ist die Anzahl der Hinweise. Auch das müssen wir uns ansehen. Im konkreten Fall sprechen wir von einem Mann, der noch nicht als Gefährder eingestuft war.

Die Öffentlichkeit feiert die Männer, die den Täter verfolgten und möglicherweise von weiteren Taten abhielten. Wie bewerten Sie dieses Verhalten?

Wir können froh sein, dass die Männer das gemacht haben. Allerdings war es eine spezielle Situation. Sie waren untereinander befreundet und trauten sich das als Gruppe zu. In so einer Situation war das absolut in Ordnung. Es hat geholfen, Gefahr für andere Menschen abzuwehren. Nichtsdestotrotz gilt die Regel: Wenn man als einzelner Mensch Zeuge einer derartigen Straftat wird, sollte man umgehend die Polizei informieren und sich selbst nicht in Gefahr bringen.