Der Täter hat sich hier in Hamburg radikalisiert. Doch trotz Hinweisen haben die Behörden die Gefahr nicht erkannt.
Zumindest die schlimmsten Zyniker unter denen, die Verantwortung tragen in Polizei und Rathaus, dürften einen Vorteil sehen im kollektiven Scheitern, das sich im Zusammenhang mit dem Anschlag vom Freitag zeigt: Wenigstens redet jetzt niemand mehr über G20, die Folgen und Fehler, die hier gemacht wurden. Denn was sich auftut an Fehleinschätzungen, Versäumnissen und unglücklichen Verkettungen im Fall des 26-Jährigen, der in Barmbek einen Menschen erstochen und etliche weitere Unschuldige verletzt hat, ist so atemraubend, dass kaum noch Luft bleibt für weitere Empörung.
Um wen es geht? Zum einen um das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Im Frühjahr 2015 reiste der Täter in Deutschland ein, also noch vor der dramatischen Überlastung des Amtes infolge des Flüchtlingszustroms im Herbst desselben Jahres. Der Mann kam aus – Skandinavien. Warum er in Hamburg untergebracht wurde, statt ihn zurück ins sichere Drittland Norwegen oder nach Schweden zu schicken, bleibt vorerst das Geheimnis des Amtes, das auch schon in den Fällen Anis Amri und Franco A. versagt hat. Wie im Fall des Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäters hat das in letzter Konsequenz Leben gekostet. Dieses Amt hat es bis heute noch nicht geschafft, die Identität Tausender Flüchtlinge zu klären, die hier leben.
Ein Bekannter des Täters alarmierte die Polizei – vor einem Jahr
Kommen wir nach Hamburg. Vor einem Jahr hat ein guter Bekannter des Messerstechers die Polizei alarmiert und vor der Radikalisierung des Mannes gewarnt. Bis dato war der dem Leben zugewandt, feierte fröhlich, trank auch gern mal Alkohol. Und plötzlich: nichts mehr davon. Stattdessen, so der Zeuge, habe sein Freund, der spätere Täter, das Gespräch über den Koran gesucht und sich in seltsame Gewänder gehüllt.
Hier scheint zunächst behördlich noch alles nach Plan gelaufen zu sein: Der Verfassungsschutz suchte den Mann auf, diagnostizierte nach ersten Gesprächen eine psychische Instabilität und einen religiös motivierten Wandel. Und er empfahl eine weitergehende sozialpsychiatrische Untersuchung. Eine unmittelbare Gefährdung sah man trotz all dieser Hinweise dennoch nicht.
Die Behörden haben dem Mann eine solche Tat nicht zugetraut
Und die Polizei? Sie hat es bis heute nicht geschafft, die empfohlene psychiatrische Untersuchung vornehmen zu lassen. Warum? Es folgt das nächste traurige Eingeständnis in der Pressekonferenz im Rathaus: keine Ahnung. Offensichtlich galt der Fall des radikalisierten Wirrkopfs im Landeskriminalamt als „nicht vorrangig“. Nochmals: Im Sommer 2016 gab es den klaren Hinweis auf die extreme Veränderung des Mannes, bis heute aber keine entsprechende eingehende Untersuchung oder eine Erklärung, warum dies nicht geschah.
Der nächste Fehler: Die Behörden, gestand Innensenator Andy Grote im Rathaus ein, hätten dem Palästinenser eine solche Straftat nicht zugetraut. Das aber sei Voraussetzung für eine Einstufung als „Gefährder“ gewesen. Und so galt der Messerstecher zwar als einer von 800 gespeicherten Islamisten – aber eben nicht als Dschihadist.
Der Täter war ausreisewillig – seine Tat wirkt nicht wie ein Attentat
Was die Behörden in trügerischer Sicherheit wog: Der 26-Jährige war nach abgelehntem Asylantrag bereit auszureisen, arbeitete sogar aktiv an seiner Abschiebung mit. Auch gab es – anders als in vielen anderen Fällen abgelehnter Asylbewerber – die Zusage, ihn wieder in seiner Heimat aufzunehmen. Noch am Morgen der Tat war der 26-Jährige zuletzt in der Ausländerbehörde, um sich nach dem Stand seiner Ausreise zu erkundigen. All das gehört bei der Bewertung der Tat und der Versäumnisse auch zur komplexen Wahrheit.
Vielmehr als an ein Attentat mit intensiver Vorbereitung, Hintermännern und Netzwerk erinnert der Freitag an die Tat eines psychisch zutiefst gestörten Mannes, dessen Krankheit nicht ernst genug genommen wurde: eine tödliche Fehleinschätzung. Es gibt Parallelen zwischen diesem Fall und anderen Anschlägen sowie Angriffen im Deutschland der vergangenen Monate: Einige Täter scheinen sich hier erst derart radikalisiert oder in einen Wahn gesteigert zu haben, sodass sie zu solchen Taten fähig wurden. Sie sind nicht als Attentäter gezielt ins Land geschleust worden, sondern haben sich bei uns zu einem entwickelt.
Die Hamburger aus vielen Nationen, die Helden von Barmbek
Das wirft Fragen auf zu unserem Umgang mit Flüchtlingen. Wissen wir überhaupt, wer die Menschen sind, die zu uns gekommen sind? Wie gehen wir um mit Fällen, in denen psychische Labilität sich paart mit irrlichterndem Glaubenswahn? Tun wir genug, Radikalisierungen zu erkennen oder psychisch Erkrankten zu helfen? Sind unsere Apparate ausreichend ausgestattet? Wie lässt sich menschliches Versagen in Behörden minimieren?
Kommen wir zu den Einzigen, bei denen Fehler zu diesem frühen Zeitpunkt nach der Tat auszuschließen sind: den Helden von Barmbek. Der Tunesier Jamel, der Ägypter Mohammed, der Afghane Toufig, der Deutsche Sönke, der türkischstämmige Ömer. Diese Hamburger waren es, die verhindert haben, dass der Täter fliehen, noch weitere Passanten verletzen oder gar töten konnte. Sie, teilweise selbst als Flüchtlinge nach Hamburg gekommen, haben sich mutig und selbstlos dem Messerstecher in den Weg gestellt. Dafür haben sie den Dank der Stadt verdient.