Hamburg. Diebstahl, Kindesmissbrauch, Mord, Terror: Jährlich werden fast 5000 Prozesse vor den Hamburger Strafkammern geführt. Eine Nahaufnahme.
Der Weg führt über nackten Estrich, vorbei an vergitterten Zellen zu Treppen, die nach 18 Stufen an verschlossenen Türen enden. Justitias Labyrinth, entstanden vor über 130 Jahren, verbindet das Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis mit den Gerichtssälen im Strafjustizgebäude am Sievekingplatz. Tag für Tag führen Justizbeamte Häftlinge auf diesen Gängen zu ihren Prozessen. Diebe, Räuber, Erpresser, Vergewaltiger, Mörder. Der Weg dauert nur drei, vielleicht vier Minuten. Und doch kann er das Leben eines Angeklagten für immer in ein Vorher und Nachher teilen. Manche werden freigesprochen oder zu einer Geld- oder Bewährungsstrafe verurteilt. Andere werden für viele Jahre hinter Gitter geschickt. 51 Amtsrichter und 97 Richter am Landgericht fällen in dem mächtigen Palast, erbaut von 1879 bis 1882, Urteile im Namen des Volkes; 4914 Verfahren waren es 2015.
Der versuchte Mord
An einem Montag öffnet ein Justizbeamter die Tür des Saals 237 für Mohamad B. (50). Der Afghane vergräbt sein Gesicht in der Kapuze seiner Jacke, er will sich verbergen vor Fotografen und Kameraleuten. Als diese den Saal verlassen, mahnt der Richter: „Bitte setzen Sie jetzt die Kapuze ab.“ Mohamad B. weigert sich, eine Gerichtszeichnerin sei noch im Saal. Der Richter wird lauter: „Sie nehmen jetzt die Kapuze ab, ich will Ihnen ins Gesicht sehen können.“ Nach kurzem Tuscheln mit dem Anwalt fügt sich der Angeklagte.
So sollen Hamburger Staatsanwälte entlastet werden
Seine Tat ist schon vor diesem Prozess unstrittig. Am 8. September 2015 kippte der arbeitslose Wachmann seiner Frau unter der Dusche drei Liter siedend heißes Speiseöl ins Gesicht und auf den Oberkörper, verbrühte 44 Prozent ihrer Haut. Mehrere Tage schwebte die Frau in Lebensgefahr, drei Wochen blieb sie auf der Intensivstation. Aus Furcht vor einer Trennung habe er sie für „andere Männer unansehnlich“ machen wollen, rechtfertigte sich Mohamad B. im ersten Prozess im Februar 2016: „Ich wollte ihr zeigen, dass ich mich von ihr nicht demütigen lasse.“ Verurteilt wurde er wegen versuchten Mordes zu zehn Jahren Haft.
Mohamad B. ging in die Revision, mit Erfolg. Der Bundesgerichtshof (BGH) rügte, dass die Öffentlichkeit beim Schlusswort des Angeklagten nicht ausgeschlossen worden war – schließlich war es im Prozess auch um intime Details aus dem Sexleben des Paares gegangen. Und theoretisch hätte Mohamad B. laut BGH in seinen letzten Worten ohne Zuschauer noch Ausführungen machen können, die zu einer milderen Strafe geführt hätten.
Deshalb muss der Prozess nun teilweise neu aufgerollt werden. Als der Richter aus der damaligen Urteilsbegründung zitiert, in der es auch um den Frust des Täters über seine Erektionsstörungen geht, protestiert Mohamad B.: „Aufhören, ich will das nicht.“ Vergebens, der Richter liest weiter vor. „Frauen-Quäler will Strafrabatt, weil er so schüchtern ist“, wird „Bild“ am nächsten Tag titeln.
Abgründe – Tag für Tag
Die zierliche Frau verschwindet fast hinter den Aktenbergen auf ihrem Schreibtisch. Der Inhalt der Mappen steht in einem entsetzlichen Gegensatz zu den Kinderzeichnungen an der Wand ihres Büros im zweiten Stock des Strafgerichts. Misshandlungen, sexueller Missbrauch, Kinderpornografie – seit 13 Jahren schaut Richterin Monika Schorn als Spezialistin für Jugendschutz Tag für Tag in menschliche Abgründe. Von dem richterlichen Recht, auch daheim arbeiten zu dürfen, macht sie fast nie Gebrauch: „Ich brauche diese klare Grenze; ich will das nicht auch noch in meine Familie tragen.“
An diesem Dienstagmittag schreitet Monika Schorn mit zwei Schöffen in den Sitzungssaal 181. Der Angeklagte Joachim D. hält einen Aktendeckel vor sein Gesicht, als ein Pressefotograf Bilder macht. 36 Minuten lang trägt der Staatsanwalt die Anklage vor. Fast drei Jahre habe der 59-Jährige kinderpornografisches Material erworben und getauscht, insgesamt 20.259 Dateien, darunter Videos mit einer Gesamtlänge von 17 Tagen, acht Stunden, sechs Minuten und 51 Sekunden. Der Staatsanwalt beschreibt die Videos und Bilder, die auf dem Laptop des arbeitslosen Lackierers gefunden wurden. Als von einem Textmarker die Rede ist, der in die Vagina eines Säuglings eingeführt wurde, legt die erfahrene Gerichtsreporterin im Zuschauerraum den Stift zur Seite. „Das kann man doch keinem Leser zumuten“, flüstert sie.
Der Angeklagte hält den Kopf während der gesamten Anklageverlesung gesenkt, er blickt erst wieder auf, als die Richterin fragt, ob er sich zur Sache äußern möchte. Der ehemalige Sonderschüler druckst herum, behauptet, er habe nur Elektrogeräte im Internet bestellen wollen, irgendein Virus habe sich dann auf seinem Computer eingenistet. „Sie sagen also, dass das ganze kinderpornografische Material nur zufällig auf Ihrem Rechner gelandet ist?“, fragt Schorn.
D. kann nicht wissen, dass sich genau in diesen Minuten sein weiterer Lebensweg entscheidet. Er kann nicht ahnen, dass die Richterin mit der freundlichen hellen Stimme nicht zögern wird, einen Experten aus München einzuschalten, einen Gutachter, der beschlagnahmte Rechner mit kinderpornografischem Material analysiert und auch Jahre später nachweisen kann, auf welchen Seiten gesurft wurde.
D. schaut noch einmal seinen Verteidiger an, dann ringt er sich doch zu einem Geständnis durch. Ja, er habe „das Zeug“ bestellt, ja, es habe ihn erregt, wenn er Frauen beim Sex mit kleinen Jungs beobachten konnte. Aber missbrauchte Babys, nein, solch „eklige Bilder“ habe er immer weggeklickt. Und außerdem sei er in diesen Jahren „ständig besoffen“ gewesen, anders habe er die Arbeitslosigkeit nicht ertragen können. Und es tue ihm alles schrecklich leid, am Ende sei er froh gewesen, dass die Polizei seinen Rechner mitgenommen habe. Seitdem habe er keine Kinderpornos mehr gesehen, nicht einmal einen Internetzugang habe er noch.
20 Minuten später kann D. den Saal 181 als freier Mann verlassen, Schorn und die Schöffen haben die Freiheitsstrafe von 18 Monaten zur Bewährung ausgesetzt – das Geständnis, die Reue und die Bereitschaft, sich therapieren zu lassen, haben ihn vor dem Gang ins Gefängnis bewahrt. Die Mahnungen Schorns klingen noch nach, als der Justizwachtmeister die Tür wieder schließt: „Wenn es Männer wie Sie nicht gäbe, würde es keine Kinderpornografie geben. Können Sie sich vorstellen, welche Qualen kleine Kinder erleiden, wenn solche Videos mit ihnen gedreht werden? Dass sie für ihr ganzes Leben traumatisiert sind?“
Wer die Richterin dann wieder in ihrem Büro sieht, einem Amtszimmer im Stil der 60er-Jahre mit Waschbecken, fragt sich, wie diese Frau das eigentlich aushält. Die Videos von schreienden Säuglingen, die vergewaltigt werden, die Aussagen von schwer misshandelten Kindern. Ihre Familie, sagt Schorn, fange sie auf. Und ihre Kolleginnen und Kollegen am Gericht – das Arbeitsklima sei so gut, dass sie bald wieder gemeinsam für ein paar Tage nach Spanien fahren werden. Außerdem müsse ja jemand diesen Job machen. Und für sie sei es leichter zu ertragen als für Mütter oder Väter von kleinen Kindern: „Meine Söhne sind zum Glück schon erwachsen.“
Entzug statt Vollzug
Die Uhr im Sitzungssaal 309 springt an diesem Freitag auf 14.05 Uhr, als die Richterin fünf Aktenstapel auf den Richtertisch wuchtet. Es sind die Dokumente einer gescheiterten Existenz. Als 13-Jähriger hatte Janusz W. (60) seinen ersten Vollrausch. 28-mal wurde der gebürtige Pole seit seinem Umzug nach Deutschland 1980 verurteilt; Diebstähle, Betrügereien, Schwarzfahren wechselten im Jahrestakt, im Billwerder Gefängnis sitzt er gerade seine vierte Haftstrafe ab.
„Ich habe immer viel zu viel getrunken“, sagt Janusz W. über sich selbst, nachdem ihm der Justizbeamte die Handschellen abgenommen hat. Auch die 499 Euro teure Lederjacke habe er im Hamburger Porsche-Zentrum nur geklaut, um sie für Alkohol zu versilbern. Rechts an seiner Seite sitzt Frank Taschinski, seit 20 Jahren Anwalt in der Hansestadt. Er will an diesem Tag alles versuchen, damit die Freiheitsstrafe gegen Janusz W. doch noch zur Bewährung ausgesetzt wird.
Seine wichtigsten Argumente liegen in seiner Akte ganz oben: das Therapieangebot einer Klinik in Triberg sowie die Kostenübernahme der Krankenkasse. Taschinski hatte seinem Mandanten schon vor vier Monaten erklärt, dass allein eine Entziehungskur das Gericht bewegen könnte, die Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen.
„Ich bin wieder völlig klar im Kopf , ich werde solche Sachen nicht mehr machen“, sagt Janusz W. Die Richterin schüttelt den Kopf: „Wenn ich bei solchen Versprechen jedes Mal zehn Euro bekommen hätte, könnte ich mich pensionieren lassen.“ Taschinski hakt ein, lobt seinen Mandanten, dass er in Billwerder keinen Tropfen mehr angerührt habe: „Dabei kommt man dort leichter an Alkohol als auf der Reeperbahn.“
Die Richterin bleibt skeptisch, blättert in den Akten, räsoniert über die vielen Delikte des notorischen Diebes. Taschinski plädiert dennoch für die Umwandlung in eine Bewährungsstrafe: „Hohes Gericht, mein Mandant ist haftmüde, er möchte in seiner letzten Lebensphase noch einmal neu beginnen.“ Als sich die Richterin mit den Schöffen zur Beratung zurückzieht, scheint der Ausgang offen; Janusz W. hält den Kopf gesenkt. Fünf Minuten später atmet er auf, er kann seine Entziehungskur antreten, die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Die Richterin besteht darauf, dass Janusz W. zum Start der Entziehungskur direkt aus der Haftanstalt in die Klinik gefahren wird, damit er nicht in Versuchung kommt, mit alten Kumpels ein feuchtfröhliches Wiedersehen zu feiern. Und sie macht Janusz W. klar, dass ein Wiedersehen vor Gericht für ihn sehr unerfreulich würde: „Das ist Ihre letzte Chance.“
Ein kurzer Händedruck, dann fährt Frank Taschinski zurück in seine Kanzlei nach Altona. Fälle wie Janusz W. sind sein Brot- und Buttergeschäft, rund 250 Verfahren wickelt er pro Jahr ab, ansonsten kümmert er sich um sein zweites Fachgebiet Immobilienrecht. Und doch gehen ihm die Schicksale nahe. „Wenn du diesen Job gut machen willst, musst du auch ein Stück weit Sozialarbeiter sein“, sagt er. Sich kümmern, wie jetzt im Fall Janusz W., dass der Täter endlich eine Entziehungskur antritt. Den Glauben, dass Straftäter in der Haft zu besseren Menschen werden, hat er längst verloren – zu oft hat er seine Mandanten wegen des nächsten Delikts wieder vertreten müssen. Der Kampf gegen das Verbrechen müsse viel früher beginnen, vor allem bei der Bildung. „Zehn Prozent der Hamburger Jugendlichen verlassen die Schule ohne einen vernünftigen Abschluss. Das ist der Nährboden für die Kriminalität.“ Jeder Euro, den die Stadt etwa in Jugendzentren investiere, zahle sich im Justizhaushalt zehnfach aus.
Der energische Jugendrichter
Es ist ein Moment, der in Gerichten so selten ist wie die Bitte eines Angeklagten um eine höhere Strafe. Im Saal 176 wird an diesem Montagmittag herzhaft gelacht.
Die junge Staatsanwältin verhaspelt sich in ihrem Plädoyer, spricht von der zuvor vernommenen Zeugin „Frau Stehlgut“. „Ich glaube nicht, dass dieser Nachname zu einer Polizeibeamtin passt“, sagt Amtsrichter Johann Krieten trocken. Allein der Angeklagte Mohammed M. (20) verzieht keine Miene. Der Asylbewerber aus Ägypten kann mangels Deutschkenntnissen den Versprecher nicht verstehen, auch der Dolmetscher ist keine Hilfe. Der schmächtige Mann hat im Moment ohnehin ganz andere Sorgen. Soeben hat er nächtliche Taschendiebstähle an der Reeperbahn gestanden. Eine späte Erkenntnis. Mohammed M. hatte zunächst alles abgestritten, obwohl ihn Zivilbeamte auf frischer Tat ertappt hatten. Dann behauptete er, er sei völlig betrunken gewesen, könne sich an nichts erinnern.
Und nun also das Geständnis, verbunden mit Reue: „Es tut mir sehr leid. Ich möchte mich entschuldigen. Ich mache das auch nie wieder.“ Offensichtlich hat sein Pflichtverteidiger ihm geraten, lieber alles zuzugeben, als ausgerechnet vor Richter Krieten weiter an seinem Lügengebäude zu zimmern.
„Der ist streng, aber gerecht und sehr fleißig“, sagen Anwälte über den hageren Mann mit Brille und Dreitagebart. Seit 1990 fällt Krieten Urteile im Namen des Volkes. Als er Vorsitzender einer Großen Strafkammer am Landgericht war, dachte Krieten, er habe sein Karriereziel erreicht. Aber dann zog es ihn zur Basis. Jetzt, sagt er, habe er den vielseitigsten Richterjob in Hamburg. Krieten entscheidet als Ermittlungsrichter, ob Wohnungen durchsucht werden dürfen. Und als Vollstreckungsrichter fährt er regelmäßig in das Haus 18, in die Geschlossene Psychiatrie in Ochsenzoll, um über mögliche Entlassungen von psychisch kranken Tätern zu befinden.
Im Vergleich zu den mitunter extrem sadistischen Sexualverbrechern in Ochsenzoll ist Mohammed M. ein kleines kriminelles Licht. Doch Krieten hat sich auch in diese Akten intensiv eingelesen, er hakt nach, als der Sozialarbeiter der Jugendgerichtshilfe eine günstige Prognose stellt: „Was macht Sie so sicher, dass bei dem Angeklagten keine schädlichen Neigungen vorliegen?“
Am Ende schickt Krieten den vorbestraften Mohammed M. für acht Monate ins Jugendgefängnis Hahnöfersand. Als der Täter ruft: „Ich habe mich doch entschuldigt“, entgegnet Krieten: „Solche Diebstähle sind wie die Pest. Leute wie Sie bestehlen Leute, die einfach mal abfeiern wollen.“
Krieten ist bekannt für klare Ansagen. Der Richter wird energisch, wenn Angeklagte Kaugummi kauen, die Mütze nicht absetzen oder auf ihrem Stuhl herumlümmeln. „Notfalls verhänge ich dann ein Ordnungsgeld“, sagt Krieten: „Respektlosigkeit lehne ich ab.“ Der Richter hält nichts von „weich gespülten Urteilen“, sondern plädiert für Konsequenz: „Bei sehr kurzen Jugendstrafen haben wir nicht ausreichend Zeit, um mit jungen Straftätern sinnvoll zu arbeiten. Viele haben derart elementare Lücken, dass wir hier sozialisieren und nicht resozialisieren müssen. Da geht es überhaupt um eine Erziehung.“
Krieten weiß, dass manche seiner Urteile bei einer Berufung wieder kassiert werden, auch im Fall Mohammed M. kann es passieren, dass das Landgericht die Strafe zur Bewährung aussetzen wird: „Ich halte das für falsch und sage das den Kollegen auch ganz offen. Ein junger Mensch, der eine schwere Straftat begangen hat, versteht nicht, wieso er plötzlich wieder in die Freiheit entlassen wird.“ Mit Sorge sieht er die wachsende Zahl von Nordafrikanern unter seinen Klienten. Manchmal begleitet er Polizeibeamte nachts auf St. Pauli. Vorwürfe, die Polizisten seien rassistisch, weil sie vor allem Dunkelhäutige kon-trollierten, hält Krieten für absurd: „Die Wahrheit ist, dass viele Täter eben aus diesem Milieu kommen. Und die Beamten, die bei ihren Einsätzen angepöbelt und bespuckt werden, müssen sich auch noch Kritik aus der Politik gefallen lassen.“
Und doch hat Krieten mit dem ins Dschungelcamp abgerutschten „Richter Gnadenlos“ Ronald Schill nichts gemein. Denn Krieten fordert wie Anwalt Taschinski, dass der Staat viel mehr Geld in Sozialarbeit investieren müsse, auch bei den Flüchtlingen: „Ja, das ist teuer. Aber es kann verhindern, dass junge Menschen bei mir landen.“
Hinter schussfesten Scheiben
Zeki E. spreizt die Finger zum Sieges-Zeichen, winkt hinüber zu seinen Freunden im Zuschauerraum. Während sich Angeklagte sonst vor Fotografen oder Kameraleuten hinter Aktendeckeln oder Jacken verschanzen, lächelt der Kurde in jedes Objektiv. An diesem Freitagmorgen startet sein Staatsschutzverfahren vor dem Oberlandesgericht. Schusssicheres Glas und Fangnetze trennen Verhandlungsraum und Zuschauerbänke. Wer dieses Verfahren beobachten will, muss nach den scharfen Kontrollen am Eingang des Strafgerichts durch eine weitere Sicherheitsschleuse wie an Flughäfen. Es ist der Saal für die Risiko-Prozesse – auch gegen Mohamad B., der seine Frau verbrühte, wird hier verhandelt.
Zum Hochsicherheitstrakt umgebaut wurde der Saal 237 für den Prozess im Oktober 2002 gegen den Harburger Studenten Mounir el M., einen der Terrorhelfer bei den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA. Damals riegelte die Polizei die Straßen vor dem Gerichtsgebäude komplett ab, Reporter aus dem In- und Ausland warteten drei Stunden, um einen der begehrten Presseplätze zu bekommen. Der Prozess gegen M., der später zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, war ein Weltereignis.
Verglichen mit den Herbsttagen 2002 bleibt der Auflauf diesmal bescheiden. Auch die Anklage – Zeki E. soll sich in Deutschland um „organisatorische, finanzielle, personelle und propagandistische Angelegenheiten“ einer terroristischen Vereinigung im Ausland gekümmert haben – klingt verglichen mit den Massenmorden vom 11. September banal. Und doch hat dieser Prozess eine enorme politische Brisanz. Denn das Staatsschutzverfahren dreht sich um die PKK, jene kurdische Organisation, die von der Bundesregierung als terroristisch einstuft wird. Die PKK-Sympathisanten berufen sich auf ihr Widerstandsrecht gegen ein türkisches Regime, das sie seit Jahrzehnten unterdrücke. Ist die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan auf dem Weg in eine Diktatur, die sich nicht scheut, auch ausländische Journalisten wie den „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel einzusperren? Auch darum wird es in diesen Prozesstagen im Saal 237 gehen.
Schon die ersten Minuten machen deutlich, dass die Verteidigung in diesem Verfahren in den Angriffsmodus schalten wird. Die Hamburger Anwälte Alexander Kienzle und Britta Eder rügen eine aus ihrer Sicht zu geringe Besetzung des Gerichts mit drei Berufsrichtern – fünf wären aus ihrer Sicht angemessen –, fordern einen weiteren Pflichtverteidiger sowie eine „dienstliche Erklärung“ des Vorsitzenden Richters, ob man versucht habe, ihn politisch unter Druck zu setzen; schließlich sei er in türkischen Medien scharf attackiert worden, nachdem er in einem anderen PKK-Verfahren eine Bewährungsstrafe verhängt hatte.
Für Kienzle und Eder, das wird sofort klar, geht es um mehr als um ein Mandat. Beide sehen sich als politisch denkende Anwälte, konsequent links. „Das können Sie schon daran erkennen, dass ich niemals einen Nazi verteidigen würde“, sagt Kienzle, kahler Schädel, sehr hager, federnder Gang. Im Münchner Mammut-Verfahren wegen der Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) vertritt Kienzle derzeit die Angehörigen eines Opfers, sorgt dort mit eigenen Recherchen in den Akten des Verfassungsschutzes bundesweit für Aufsehen.
Für den Prozess gegen Zeki E. haben Kienzle und Eder einen 75-seitigen Antrag auf Einstellung des Verfahrens vorbereitet, den sie über Stunden verlesen. Die Verteidiger holen die Grausamkeiten der türkischen Militärdiktatur in den 1980er-Jahren in den Saal 237, sprechen über Folterungen: „Gefangene wurden mit Knüppeln vergewaltigt, in Wannen voller Exkremente getaucht, in Käfige mit Ratten gesperrt.“ Und auch jetzt werde die kurdische Bevölkerung brutal unterdrückt. „Ich wurde in meiner Heimat über Wochen gefoltert“, sagt Zeki E. Er sei kein Terrorist, er leiste nur Widerstand. Die Kurden im Gerichtssaal applaudieren.
Andererseits gibt es sehr wohl militante Ableger der PKK, erst im Dezember starben bei einem Anschlag in Istanbul 40 Menschen. Für den Generalbundesanwalt bleibt die Organisation daher eine terroristische Vereinigung. Eine Art Deal – Geständnis und Reue gegen eine mildere Strafe – kann es im Saal 237 nicht geben. Wie auch? „Unser Mandant wird sich niemals von den Zielen der kurdischen Freiheitsbewegung distanzieren“, sagt Kienzle.
Appell der Präsidentin
Ordner, Locher, Stempelkissen und Stifte stehen in Reih und Glied auf dem Schreibtisch, der Blumenstrauß und die silberne Teekanne zeigen, dass Sibylle Umlauf Ordnung und Ästhetik gleichermaßen schätzt. Die Büste an der Wand erinnert an den großen Geigenvirtuosen Georg Kulenkampff (1898–1948) aus der Familie ihrer Mutter. „Ich habe dieses Büro bei meinem Amtsantritt vor acht Jahren neu eingerichtet, um moderne und klare Gedanken fassen zu können“, sagt die Präsidentin des Landgerichts. Bezahlt hat sie es weitgehend selbst. Es ersparte ihr mühsame Budget-Verhandlungen und ging zügiger.
Schnell war Sibylle Umlauf schon immer. Mit 27 Jahren Amtsrichterin, mit 39 Vorsitzende Richterin am Landgericht, mit 43 Vizepräsidentin des Amtsgerichts. „Ich habe entsprechende Chancen konsequent wahrgenommen“, sagt Umlauf, nun Chefin von 500 Beamten und Angestellten am Landgericht der zweitgrößten deutschen Stadt. Sie deutet auf ein Diagramm mit der tagesaktuellen Auslastung der 30 Großen Strafkammern am Landgericht – die Grafiken zeigen, dass jede Kammer am Anschlag arbeitet. „Unsere Personaldecke ist zu dünn“, sagt Umlauf: „Wir haben mitunter Probleme, überhaupt noch einen freien Sitzungssaal zu finden.“ Manche Verfahren blieben zu lange liegen, ein Unding für die Hochgeschwindigkeits-Juristin. Es gefährde den Prozess, wenn sich Zeugen nicht mehr so gut erinnern können. Deshalb fordert sie dringend eine weitere Große Strafkammer mit drei Berufsrichtern.
Entsprechend gereizt reagiert Umlauf, wenn die immer gleiche Stammtisch-Platte von der lahmen und laschen Justiz aufgelegt wird. Vor allem Unkenntnis macht sie fuchsig: „Da wird dann behauptet, wir würden mutmaßliche Täter laufen lassen, nur weil wir sie wegen fehlender Haftgründe nicht in U-Haft nehmen. Übersehen wird dabei, dass diese Täter häufig später sehr wohl zu Haftstrafen verurteilt werden.“
Juristerei ist kompliziert. Umlauf etwa kann keine Verfahren zuteilen, geschweige denn sich besonders spannende Prozesse selbst herauspicken: „Auch in Hamburg gilt wie überall in Deutschland das Prinzip, das es Zufall bleiben muss, welche zuständige Kammer das Verfahren bekommt.“ Und durchregieren gehe schon mal gar nicht: „Es gilt die richterliche Unabhängigkeit. Ich werde niemals einer Kollegin oder einem Kollegen sagen, wie sie oder er zu entscheiden hat.“ Der psychische Druck in diesem Beruf sei enorm; besonders dann, wenn ein mutmaßlicher Täter freigesprochen werden muss, weil die Beweise einfach nicht ausreichen. Im Zweifel für den Angeklagten, so ist das nun mal.
Am Mittwoch wird um 9.15 Uhr wieder ein Justizbeamter Mohamad B. in den Gerichtssaal 237 führen – den Mann, der seine Frau lebensgefährlich verbrühte und nun wegen eines Formfehlers auf eine mildere Strafe hoffen darf. Noch ist ungewiss, ob seine Frau erneut aussagen muss – vor allem psychisch, sagt ihre Anwältin, gehe es ihr nach wie vor sehr schlecht. Ja, das ist kaum auszuhalten. Aber es ist der Preis des Rechtsstaates. Kompliziert. Anstrengend. Und doch kostbar.
Vor dem Untersuchungsgefängnis erinnert eine Tafel an die 500 Gefangenen, die in der NS-Zeit im Innenhof enthauptet wurden. Nazi-Richter hatten sie, zumeist Regimegegner, zum Tode verurteilt. Es war die Justiz des kurzen Prozesses.