Hamburg. Grünen-Politiker Till Steffen zieht aus der Messerattacke eines Angeklagten auf eine Zeugin und den Staatsanwalt erste Konsequenzen.
Kein anderer Senator steht so unter Druck wie Justizsenator Till Steffen. Das Abendblatt sprach mit dem Grünen-Politiker über die Messerattacke eines Angeklagten im Gerichtssaal, die Belastung der Justiz und seinen Rückhalt in der rot-grünen Koalition.
Vor drei Wochen hat ein Angeklagter, der aus der Untersuchungshaft zugeführt wurde, eine Zeugin und den Staatsanwalt im Gerichtssaal mit einer selbst gebastelten Waffe angegriffen und verletzt. Wie konnte es dazu kommen?
Till Steffen: Auch mich hat der Vorfall erschüttert. Noch ist die Aufklärung nicht abgeschlossen. Das ist Sache der Staatsanwaltschaft. Im Strafjustizgebäude gibt es generell sehr hohe Sicherheitsvorkehrungen. Keiner der Angeklagten, die dort vorgeführt werden, gilt als ungefährlich. Es gibt rund 5000 Vorführungen pro Jahr, von denen bei etwa zwei Prozent besondere Sicherungsmaßnahmen angezeigt sind. Bislang hat die Zusammenarbeit zwischen der Vorführabteilung der U-Haftanstalt und den Gerichten gut geklappt, was die Einschätzung der Fälle angeht, bei denen besondere Sicherungsmaßnahmen nötig sind.
Warum ist das hier nicht geschehen? Wäre nicht dieser Angeklagte angesichts der Drohungen, die er vorher ausgestoßen hat, ein Fall für härtere Maßnahmen gewesen?
Steffen: Im Nachhinein kann man leicht sagen, dass es besser gewesen wäre, wenn der Mann von Anfang an gefesselt gewesen wäre. Entscheidend ist aber, ob vorher entsprechende Informationen vorlagen.
Mehr Warnung als in diesem Fall geht ja kaum. Immerhin hatte der Angeklagte „konkrete Angriffe“ auf seine Exfreundin, die Zeugin, in der Haft angekündigt.
Steffen: Genau das prüft jetzt die Staatsanwaltschaft: Hat jemand die Gefährdungslage in vorwerfbarer Weise falsch eingeschätzt? Das könnte sich dann um eine Straftat handeln.
Ist diese Information aus der Haftanstalt denn weitergegeben worden?
Steffen: Wir wissen, dass die Information weitergegeben worden ist. Sie wurde auch bewertet – unter Heranziehung welcher Gesichtspunkte ist jetzt Gegenstand der Ermittlungen.
Warum begleitete nur eine Justizvollzugsbeamtin den Angeklagten, der als aggressiv bekannt war, in den Gerichtssaal?
Steffen: Dass der Mann im Vollzugsalltag als aggressiv gegenüber Dritten bekannt war, kann ich nicht bestätigen.
Aber es gibt Vorstrafen.
Steffen: Das gilt für sehr viele Fälle, sonst säßen sie nicht in U-Haft. Das Standardprogramm läuft so ab: Der Gefangene wird von einem Beamten gefesselt über die öffentlich zugänglichen Flure oder ungefesselt über das nicht öffentliche Treppenhaus bis zum Gerichtssaal geführt. War er in der U-Haft untergebracht, wird er mindestens einmal durchsucht. Wenn er aus Billwerder kommt, wird er drei Durchsuchungen unterzogen. Dabei werden auch Handsonden verwendet, die Metallgegenstände erkennen können. Nach unserer Kenntnis wurde Chris Z. über das nicht -öffentliche Treppenhaus ungefesselt zugeführt und dreimal durchsucht.
Das ist doch fast nicht vorstellbar. Der Mann soll eine Rasierklinge unter der Zunge versteckt haben, die muss doch dann entdeckt worden sein.
Steffen: Wie der Angeklagte das Tatwerkzeug einbringen konnte, ist Gegenstand der Ermittlungen. Generell gilt: Es gibt die Möglichkeit einer Durchsuchung mit Entkleidung. Dann können auch die Körperöffnungen durchsucht werden, auch der Mund. Das gehört aber zu den erweiterten Sicherungsmaßnahmen, die hier nicht angewendet wurden.
Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Vorfall?
Steffen: Wir haben ein bewährtes Verfahren, das alle relevanten Informationen zusammenführt und eine Bewertung der Gefährdung der Sicherheit ermöglicht. Aber im Wesentlichen läuft das aufseiten von Staatsanwaltschaft und Gericht zusammen. Ich habe jetzt angeordnet, dass auch die Haftanstalt über alle Informationen verfügen muss. Dazu wird der Sicherheitsdienstleiter, den es in jeder Haftanstalt gibt, zugleich der Beauftragte für gefährliche und gefährdete Gefangene. Bei ihm laufen künftig alle Informationen zusammen, und er informiert sich auch über den Stand der Ermittlungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Das ist eine zweite Sicherungsebene, die wir als Konsequenz aus dem Fall Chris. Z. einziehen.
Es gibt den Vorwurf, dass die Überlastung des Justizpersonals mitverantwortlich dafür ist, dass es zu dem Vorfall gekommen ist. Trifft das zu?
Steffen: Nein. Die Zuführung mit einem Bediensteten ist in 98 Prozent der Fälle Standard. Wird die Gefahrenlage entsprechend bewertet, werden mehr Beamte eingesetzt. Wenn die Vorführabteilung ausgebucht ist, wird das Gericht informiert, dass an dem Tag keine weiteren Termine vereinbart werden können. Und wenn doch ein Termin stattfinden muss, wird kurzfristig Personal von anderen Aufgaben abgezogen.
Auch Richter und Staatsanwälte haben immer wieder Brandbriefe geschrieben, wonach ihre Belastung zu hoch ist.
Steffen: Viele Mitarbeiter sind hoch belastet. Deswegen haben wir eine massive Verstärkung organisiert. Die 77 neuen Kollegen, die wir im Haushalt 2017/18 verankert haben, sind ein Riesenschritt. Ich habe durchgesetzt, dass die Justiz von der üblichen Konsolidierungsverpflichtung mit abschmelzendem Stellenbestand ausgenommen wird.
Wird das ausreichen?
Steffen: Das werden wir fortlaufend beobachten. Wir haben uns jetzt die Bereiche vorgenommen, bei denen wir den dringendsten Handlungsbedarf gesehen haben. Schwerpunkte waren u. a. die Sozialgerichte und die Staatsanwaltschaft. Aber mehr Personal ist nicht die einzige Antwort, die Analyse der internen Prozesse und die gesetzlichen Rahmenbedingungen gehören dazu.
Stichwort Staatsanwaltschaft: Geklagt wird besonders über die Belastung der Hauptabteilung II, wo die Masse der Fälle, gerade auch kleinerer Fälle, bearbeitet wird. Muss dort auch etwas getan werden?
Steffen: Es geschieht ja etwas. Die Einstellungen laufen. Durch Schwerpunktbildung werden sich die Aufgaben insgesamt verteilen, ohne dass Personal abgezogen wird, und so für eine spürbare Entlastung in allen Abteilungen sorgen. Zudem bilden wir gerade Amtsanwälte, Rechtspfleger und Justizfachangestellte aus, da wir hier einen großen Bedarf haben. Wir möchten insgesamt an die 70 Personen in diesen Bereichen ausbilden.
Die Klagen über Hamburgs Justiz, sie arbeite zu langsam, gibt es ja schon seit bald 20 Jahren. Was ist das Grundproblem? Sind Gerichte und Staatsanwaltschaften überlastet, arbeiten sie ineffizient?
Steffen: Die Frage ist erst einmal, ob die Justiz langsam ist. Bei der Staatsanwaltschaft hatten wir 2014 eine durchschnittliche Bearbeitungsdauer von 1,4 Monaten. Da gibt es nichts zu meckern.
Laut der Berliner Tabelle, die die Verfahrensdauern in den Ländern vergleicht, ist Hamburg bei Strafverfahren vom Start des Ermittlungsverfahrens bis zum Abschluss am Amtsgericht bundesweit Schlusslicht.
Steffen: Ob das so stimmt? Niemand arbeitet mit der Berliner Tabelle, weil sie methodische Schwächen hat. Deswegen ist der direkte Vergleich schwierig. Ich finde es zielführender, konkret zu sehen, wo Verfahren zu lange dauern.
Sogar Ihr Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich sagt, dass die Verfahrensdauer in allen Abteilungen zu hoch sei.
Steffen: Es gibt natürlich Bereiche, wo wir auch bei der Staatsanwaltschaft schneller werden wollen.
Was muss sich an der Arbeitsweise ändern?
Steffen: Ich glaube, es geht schon um die Frage, wie man mit Hierarchien umgeht. Das hat Generalstaatsanwalt Fröhlich ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Ersticken wir uns durch wechselseitige Berichte? Wir haben das vonseiten der Justizbehörde schon heruntergefahren. Herr Fröhlich hat das auch getan. Die Staatsanwaltschaft hat traditionell eine hierarchische Struktur. Das hat seine Notwendigkeit, man sollte es aber nicht übertreiben.
Diese hierarchische Struktur ist von dem Fröhlich-Vorgänger Lutz von Selle, den Sie geholt haben, noch verstärkt worden.
Steffen: Das hat eine Grundtendenz verstärkt und die Sache nicht einfacher gemacht. Deswegen sind wir damals auch kritisch eingestiegen und haben gesagt, dass es so nicht mehr funktioniert.
Bleibt die Frage nach Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen.
Steffen: Es gibt zum Glück einige Verbesserungen der Strafprozessordnung, die zu erheblicher Entlastung beitragen werden. Der Richtervorbehalt bei Verkehrskontrollen soll wegfallen. Künftig wird das die Staatsanwaltschaft abschließend entscheiden, das heißt, die Staatsanwaltschaft muss sich damit nur noch einmal und nicht zweimal beschäftigen. Und: Bislang sind Zeugen nicht verpflichtet, bei der Polizei zu erscheinen, sondern nur bei der Staatsanwaltschaft. Künftig wird die Pflicht bestehen, bei der Polizei zu erscheinen. Auch das entlastet, weil die Akten nicht mehr dreimal hin- und herwandern müssen.
Seit Sie 2015 zum zweiten Mal Justizsenator geworden sind, gab es eine ganze Reihe von Pannen. Ein Sicherungsverwahrter kam frei, vorzeitige Haftentlassungen oder jetzt der Messerstich im Gerichtssaal. Die Opposition nennt Sie einen Senator auf Bewährung. Haben Sie noch den Rückhalt bei Ihren Parteifreunden? Des Bürgermeisters?
Steffen: Ich habe viel Anlass gehabt zu fragen, und ich habe sehr viel Rückendeckung bekommen. Wir sind da sehr eng im Austausch und diskutieren alle Themen intensiv. Ich finde es sehr erfreulich, wie viel Unterstützung ich habe.
Treffen Sie die Rücktrittsforderungen der Opposition?
Steffen: Ich nehme das zur Kenntnis. Ich glaube, manch einer macht es sich zu leicht und hat keine Lust, sich mit den Details dieser Arbeit auseinanderzusetzen. Das macht mein Amt aus: zu erkennen, was irgendwann einmal problematisch werden könnte. Ich kenne den Laden sehr gut und kann deswegen sehr frühzeitig die richtigen Fragen stellen.
Haben Sie das Gefühl, dass der Justizapparat hinter Ihnen steht?
Steffen: Ja. Ich rede ja mit sehr vielen Leuten, das ist der spannendste Teil meiner Arbeit. Es müssen mich nicht alle mögen, aber alle wissen, dass es mich sehr interessiert, wo die Stellschrauben für Verbesserungen sind.
Gibt es für Sie einen Punkt, an dem Sie sagen würden: Ich sollte nicht weitermachen?
Steffen: Ein Justizsenator, der nicht die Unterstützung der Koalition hat, kann die Rolle, für Vertrauen in den Rechtsstaat zu werben, nicht ausüben. Das ist der zentrale Punkt. Wenn ich das nicht mehr transportieren kann, wäre das ein Problem. Ich habe die Unterstützung, und das ist genau das, was ich brauche.