Hamburg. Die Hamburger Strafjustiz ist bundesweit am langsamsten. Zunahme von 30.000 Verfahren in drei Jahren. Nun wird umstrukturiert.
Rund 30.000 Ermittlungsverfahren mehr als noch vor drei Jahren: Bei der Hamburger Staatsanwaltschaft steigt die Belastung weiterhin an. 2016 sind rund 158.000 sogenannte Js-Fälle (Verfahren, in denen der Verdächtige bekannt ist) und mehr als 166.000 UJs-Fälle (Täter unbekannt) eingegangen. Zudem sind die Bearbeitungszeiten wegen der zum Teil enorm gestiegenen Komplexität der Verfahren „exorbitant in die Höhe gegangen“, sagt Jörg Fröhlich, seit gut einem Jahr Generalstaatsanwalt und damit Hamburgs höchster Ankläger. Die Zahl der Verfahren, deren Bearbeitung im Schnitt länger als neun Monate dauerte, stieg auf 3000 an – nach 2500 im Jahr 2015. Die durchschnittliche Verfahrensdauer stieg von 1,4 Monate 2013 auf zwei Monate im Vorjahr.
Wie berichtet, steht Hamburg in Sachen Gesamtdauer der Strafverfahren (Einleitung und Abschluss) am Amts- und Landgericht im bundesweiten Vergleich miserabel da – und das liegt überwiegend an der langen Bearbeitungsdauer bei der Staatsanwaltschaft. Als problematisch erweist sich nach Abendblatt-Informationen vor allem die Bearbeitung der Verfahren in der für Massendelikte zuständigen Hauptabteilung II. Diebstahl, Körperverletzungsdelikte, gewerbsmäßiger Betrug, Beförderungserschleichung – Zehntausende solcher und anderer Verfahren landen jährlich in dieser Abteilung, die mit 38,5 Dezernentenstellen dürftig besetzt ist. Die Arbeit selbst besorgen Amtsanwälte, die in einer Flut von Verfahren ersticken.
Hoher Krankenstand
Zudem leidet die Abteilung unter einem hohen Krankenstand. Zwar soll die Arbeit nun gleichmäßiger auf die Dezernenten verteilt werden, kündigte Fröhlich an. „Doch an der Arbeitsbelastung und der Unterbesetzung ändert das nichts“, sagte eine Dezernentin aus der Abteilung dem Abendblatt.
Im vergangenen Jahr haben Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft 24 zusätzliche Stellen bekommen, fünf sind an Sonderzuständigkeiten gebunden. Zwei Dezernenten sind nun zusätzlich mit Staatsschutzdelikten befasst, aktuell sind 16 vom Generalbundesanwalt stammende Staatsschutzverfahren in der Hamburger Behörde anhängig; drei weitere Staats- anwälte kümmern sich ausschließlich um den Komplex Einbruchdiebstahl. Weitere werden für den Bereich Gewinnabschöpfung benötigt.
Personelle Umschichtungen
Das entlastet zwar die allgemeinen Abteilungen. Für darüber hinausgehende personelle Umschichtungen – etwa zur Verstärkung der Hauptabteilung II – bleibt jedoch nicht viel Spielraum. Statt weitere Stellen zu fordern, setzt der „General“ zunächst auf innere Umstrukturierungen, um noch effizientere Arbeit zu gewährleisten. „Es laufen bei uns mehrere Reformprozesse“, so Fröhlich.
Um der Steigerung der Eingangszahlen um 20 Prozent zu begegnen und die Arbeitsbelastung gleichmäßiger zu verteilen, wurde jetzt das Prinzip, nach dem die Verfahren auf die einzelnen Dezernenten und Geschäftsstellen verteilt werden, verändert. Zudem wurde das bisher geltende Sechsaugenprinzip, nach dem jede Vorlageentscheidung von zwei höheren Ebenen „abgesegnet“ werden musste, auf ein Vieraugenprinzip gekürzt.
„Neue Führungsstruktur“
„Außerdem setzen wir auf eine neue Führungsstruktur“, so Fröhlich. „Wir werden ein neues Amt einführen, das des Ersten Staatsanwalts. Dieser ist dann auch stellvertretender Abteilungsleiter und hat originäre Führungsaufgaben. Die Führungslast auf mehr Mitarbeiter zu verteilen ist wichtig, denn wir brauchen eine vernünftige Arbeitsplanung, ein gutes Gesundheitsmanagement und eine bessere Gesprächskultur.“
Damit rückt Fröhlich von einem der ursprünglichen Ergebnisse des Projekts Reorganisation und Modernisierung der Staatsanwaltschaften (ReMoSta) ab, wonach auch die Führungsebene ins Rechtsgeschäft, also in die Bearbeitung der Verfahren stärker eingebunden werden soll. Fröhlich: „Das halte ich für kontraproduktiv, weil ich das Führungspotenzial brauche.“
Straffer Führungsstil
Zudem sei die „interne Berichtspflicht zum Generalstaatsanwalt aufgehoben“, sagte Fröhlich. „Wer ein Anliegen hat, mag es vortragen. Dann diskutieren wir es.“ Sein Amtsvorgänger Lutz von Selle, der als Hardliner und Aktenfresser galt, hatte sich viele Vorgänge schriftlich vorlegen lassen und sie kontrolliert. Für Irritation hatte gesorgt, dass Einstellungen von Verfahren während der Hauptverhandlung vonseiten der Staatsanwaltschaft nicht mehr zugestimmt werden durfte – selbst gestandenen Oberstaatsanwälten war dies nicht gestattet.
Von Selle war wegen seines straffen Führungsstils in die Kritik geraten, auch weil er Dezernenten rigoros abwatschte, teils harsche Mails an den Gesamtverteiler schrieb, im Betreffsfeld düstere Worte wie „Gewitter 1“. Auf die Frage, ob auch er Mails über den Gesamtverteiler an Mitarbeiter schicke, sagte Fröhlich: „Ja, einmal habe ich das getan. Das waren Weihnachtsgrüße.“
Seit Längerem ist die Hamburger Staatsanwaltschaft eine überwiegend weiblich besetzte Behörde. „Bei den Servicemitarbeitern haben wir einen Frauenanteil von etwa 90 Prozent, bei den jüngeren Staatsanwälten von rund 70 Prozent. Wir haben tatsächlich Probleme, männliche Bewerber zu akquirieren“, für diese sei ein Job in einer der großen Rechtsanwaltskanzleien wohl attraktiver.
Weil viele der Frauen in der Behörde Kinder hätten und deshalb Teilzeit arbeiten, gebe es mitunter Engpässe, Dezernenten für die Hauptverhandlungen zu finden. „In Stellenausschreibungen weisen wir darauf hin, dass wir eine männliche Unterrepräsentanz haben und dass deshalb bei gleicher Qualifikation männliche Bewerber bevorzugt werden.“
Steffen weiß um enorme Arbeitsbelastung
Auch Justizsenator Till Steffen (Grüne) weiß um die enorme Arbeitsbelastung: „Ich setze mich auf Bundesebene aktiv für die Staatsanwaltschaft ein. Gerade jetzt hat sich der Bundesrat mit Veränderungen der Strafprozessordnung befasst, die zur Entlastung der Staatsanwaltschaft beitragen werden. Wie diese Maßnahmen alle ineinandergreifen und wirken, zeigt sich erst im Laufe des Jahres. Wir schauen uns die Entwicklungen sehr genau an.“