Bramfeld/Farmsen. Am Tag nach der Katastrophe offenbart sich das ganze Ausmaß der Zerstörung. An manchen Straßen blieb kein Grundstück verschont.

Schlagartig verfinstert sich der Himmel. Aus Grau wird Schwarz – und dann dieses eigentümliche, sich drehende, von einem infernalischen Heulen begleitete Wolkengebilde. Birgit Grützmacher sitzt auf der Terrasse ihrer Wohnung und denkt: Jetzt geht die Welt unter. Ein „Wahnsinns-Sturzregen“ geht über ihrem Hochhaus an der Haldesdorfer Straße 162 nieder. Dann legt der Tornado los, er zerrt und rüttelt an ihren Garten­möbeln, ihre Blumentöpfe fliegen durch die Gegend. Die 53-Jährige flüchtet in ihre Wohnung – und wartet ab. Als sie sich zehn Minuten später nach draußen traut, sieht sie ein einziges Trümmerfeld. Und ihren zerstörten Golf: Ein Ast hat die Heckscheibe durchschlagen.

Am Tag 1 nach dem verheerenden Tornado steht Birgit Grützmacher wie viele Anwohner in den Stadtteilen Farmsen-Berne und Bramfeld auf der Straße und macht Bestandsaufnahme. Ihr VW Golf, am Heck mit Folie abgeklebt, wird gerade vom ADAC abtransportiert. Das Dach des Hochhauses ist teilweise abgedeckt. Am Dienstagabend schlug außerdem ein Blitz in das Gebäude ein, und ein Baum krachte auf eine neben dem Haus verlaufende Hochspannungsleitung. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt sie.

Zwei Kilometer lange Schneise der Verwüstung

So wie Birgit Grützmacher äußern sich nach dem desaströsen Naturereignis viele Anwohner. Sie können noch immer kaum fassen, was passiert ist. Während einen Kilometer vom Sturmgebiet entfernt Menschen noch draußen im Garten grillten, schlug der Tornado in einem eng begrenzten Gebiet nordöstlich der Haldesdorfer Straße eine rund zwei Kilometer lange Schneise der Verwüstung. Das klingt wie eine Floskel – hier trifft es 100-prozentig zu.

Kommentar: Danke an alle Helfer

Denn die Zerstörung ist allgegenwärtig, und sie ist erschütternd: Überall liegt Gestrüpp herum, überall sieht man alte, mächtige Bäume, die mit dem gesamten Wurzelwerk aus dem Boden gerissen wurden. Wie ein betrunkener Tänzer torkelte der Tornado im Zickzack durch die Stadtteile – und zerstörte alles, was ihm in den Weg kam. Er ließ dicke, robuste Äste absplittern wie Zahnstocher, er deckte etliche Dächer ab, zerstörte Autos, schleuderte Fahr­räder und sogar ein Dixi-Klo meterweit durch die Luft. An der Farmsener Höhe ist der Eingang zu Hausnummer 30 durch Gestrüpp komplett versperrt; am Sandstücken krachte ein Baum auf ein Haus. Mehr als 1000 Feuerwehrleute, Polizisten und THW-Ehrenamtliche waren bis spät in die Nacht im Einsatz – auch in Tonndorf, Volksdorf und Rahlstedt. An den Rändern des Sturmgebiets liefen zahllose Keller und Garagen voll. „Angesichts der enormen Zerstörungsenergie ist es ein Wunder, dass niemand verletzt wurde“, sagt Feuerwehrsprecher Jan Ole Unger.

Der Tornado schlug nur punktuell zu

Am nächsten Morgen sind an jeder Ecke Aufräumtrupps unterwegs, die die entwurzelten oder nicht mehr stand­sicheren Bäume beseitigen. Viele Wege sind mit Flatterband abgesperrt. In einigen Gärten liegen Trampoline, die aussehen wie implodiert. Der Geruch von Sägespäne liegt in der Luft, überall ist das Kreischen der Motorsägen und das Rumpeln der Schreddermaschinen zu hören.

Besonders schlimm traf die Windhose den Kiebitzhegen, eine eigentlich beschauliche Wohnstraße mit roten Klinkerhäusern und gepflegten Vorgärten. Mit der Beschaulichkeit ist es vorbei: Ein Bungalow liegt begraben unter einer schweren Eiche, kein einziges Haus steht hier, das nicht irgendwie beschädigt worden ist. Notdürftig bessern Dachdecker die Schäden aus, versuchen Hausbesitzer in ihren Gärten Ordnung ins Chaos zu bringen. Andere Anwohner stehen draußen, verschränken die Arme, schütteln den Kopf. „Das glaubt einem keiner“, sagt eine alte Dame. Wer den Kiebitzhegen weiter hochläuft, kommt auf die Straße Rönk. Auf der linken Seite: weitgehend unversehrte Häuser. Auf der rechten Seite: teils schwer beschädigte Gebäude, abgedeckte Dächer, entwurzelte Sträucher. Der Tornado schlug nur punktuell zu. Manchmal liegen zwischen Glück und Unglück nur 20 Meter.

Bollmann: „Es ist zum Heulen“

Großes Glück hatte Cornelia Bollmann. Am Dienstagabend sitzt sie in ihrem Kleingarten an der Farmsener Höhe. Seit 52 Jahren pachtet ihre Familie die Parzelle 77; die neue Laube steht erst seit zwei Jahren. Um 18.20 Uhr fallen pflaumengroße Hagelkörner vom Himmel – die eisigen Vorboten des Sturms. Die 48-Jährige findet sie so bemerkenswert, dass sie ein Foto macht und es mit ihrer WhatsApp-Gruppe teilt. „Und dann war es wie in so einem Katastrophenfilm, es begann mit einem irrsinnigem Dröhnen“, sagt sie. In dem kleinen Holzhäuschen hofft sie, Schutz zu finden. „Ich saß drin, dann flog das Dach über mir weg.“ Sie hat Todesangst. In ihrer Panik blickt sie nach links – da liegt eine umgestürzte Eiche. Vor dem Häuschen steht noch ein alter Rhododendronstrauch. Den umklammert sie, bis sich der Sturm ausgetobt hat. Als das Schlimmste vorbei ist, ruft sie ihre Mutter an, um zu sagen, dass es ihr gut geht. Dann bricht sie zusammen.

Wenige Stunden später steht Gisela Bollmann mit ihrem Sohn vor den Überresten ihrer Gartenlaube. Der Tornado hat Kleinholz aus ihr gemacht. Während ihre Parzelle einem Trümmerfeld gleicht, hat der Tornado umliegende Anlagen weitgehend verschont. Das Dach ihrer Laube ist fünf Meter weit in einen Busch geweht, Teile des Schuppendachs sind sogar fast 100 Meter weit geflogen. Eine schwere Gartenschere ist quer durch den Garten gesegelt und hat sich mit den Klingen voran in den Boden gebohrt. Als ein Gartenbauer an einem Flieder rüttelt, kippt der Strauch zur Seite. „Es ist zum Heulen“, sagt Gisela Bollmann. Sie hoffe jetzt, dass die Versicherung des Kleingartenvereins die Schäden übernimmt. „Ansonsten sieht es schlecht aus.“

Carsten Langfelder, der ein Stück weiter an der Farmsener Höhe in einer kleinen Anlage mit acht Wohneinheiten wohnt, ist gerade erst nach Hause gekommen, als der Sturm beginnt. „Ich habe aus dem Fenster gesehen, wie der Wind von links nach rechts durch den Garten peitschte“, sagt er. „Dann kam er plötzlich aus der anderen Richtung. Und alles ging kaputt.“ Ein Trampolin aus dem Nachbargarten kommt genau auf das Fenster zugeflogen, hinter dem er steht. Es kracht vor ihm auf dem Rasen. Ein Terrakottatopf mit einem Meter Durchmesser wird wie ein Spielzeug angehoben, Dachziegel und Äste wirbeln durch die Luft. Insgesamt fallen auf dem Grundstück der kleinen Wohnanlage acht große gesunde Bäume um. Eine mächtige Eiche und eine Buche zerschlagen zwei Carportdächer. Von fünf Autos sind vier Totalschrott, auch Lengfelders neuer Mazda Van, aus dem er erst kurz vorher ausgestiegen ist.

„Wir haben die Stahljalousien runter­gelassen und sind in den Keller“

Nachbarin Diana Ehlert hat den Beginn des Unwetters am Fenster erlebt. „Mein Mann rief: ,Komm schnell, so etwas siehst du nie wieder!‘“, erinnert sie sich. Doch aus Faszination wird Angst. Von links kracht eine hohe Tanne in ihren Garten, von rechts ein Feldahorn. Im Garten des Nachbarhauses, das die neuen Besitzer genau an diesem Tag gekauft haben, hebt der Tornado das komplette Dach der Gartenlaube ab. Ein Fahrrad wirbelt durch die Luft, dicke Hagelkörner prasseln gegen die Scheibe. „Wir haben die Stahljalousien runter­gelassen und sind in den Keller“, sagt Diana Ehlert, noch immer fassungslos.

Sprachlos angesichts der Zerstörungen ist auch Andreas Wehncke, einer von 44 Mitarbeitern des Bezirksamts Wandsbek, die heute für die Schadensaufnahme und zum Aufräumen vor Ort sind. „Das habe ich in 30 Jahren Beruf noch nicht erlebt“, sagt er angesichts einer mächtigen Eiche an der Haldesdorfer Straße. Ihr hat der Tornado alle Äste abgerissen. Nur die dicken Stümpfe ragen noch in den grauen Himmel.