Hamburg. Sozialsenatorin: Hamburg hat klare Regeln zum Kinderschutz. Sozialverband kritisiert „Wird schon gut gehen“-Mentalität.
Nach dem gewaltsamen Tod des kleinen Tayler geht die Diskussion um die Frage nach dem möglichen Versagen des Jugendhilfesystems weiter. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) räumte ein, dass es „vergleichbare Konstellationen zu früheren Fällen zu geben scheint“. Die Regeln bei Verdachtsfällen von Kindeswohlgefährdungen in Hamburg seien klar vorgeschrieben. „Es hat eine Vorstellung beim Kinderkompetenzzentrum des UKE zu erfolgen. Das ist sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag erreichbar. Das sind ganz klare Handlungsanweisungen, die auch für jeden Mitarbeiter abrufbar sind. Restriktiver geht es eigentlich nicht mehr“, so die Sozialsenatorin.
Auch im Fall Tayler war das UKE eingebunden. Nach einer schweren Schulterverletzung bereits im August haben Rechtsmediziner den Jungen untersucht. Es bestand der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung. Eine Strafanzeige aber hat es nicht gegeben. „Es liegt keine Anzeige vor“, sagte Carsten Rinio, Sprecher der Staatsanwaltschaft, dem Abendblatt auf Nachfrage. „Von diesem Vorfall haben wir erst jetzt erfahren.“ Warum hat sich das UKE nicht schon im Sommer an die Ermittlungsbehörden gewandt? Dazu gibt das UKE keine Auskunft. „Es handelt sich um ein laufendes Verfahren“, sagt Saskia Lemm, Sprecherin des Universitätsklinikums.
Die Regeln sehen vor, dass bei einem Verdacht von Kindesmisshandlung das Jugendamt das Kind in Obhut nimmt. Das passierte auch im Fall Tayler. Allerdings ist der Junge schon im Oktober wieder aus der Bereitschaftspflegefamilie zurück in die Obhut seiner Mutter gekommen. Sie erhielt die Auflage, sich von einer Sozialpädagogin betreuen zu lassen.
Am Montag hat die Hamburger Jugendhilfeinspektion in Bezirksamt Altona offiziell die Arbeit aufgenommen. Diese Instanz ist Teil der Sozialbehörde und überprüft regelmäßig die Arbeit der Jugendämter. Bei aktuellen Krisenfällen greift sie ebenfalls ein. Nun verschaffen sich die vier Mitarbeiter einen Überblick über die Aktenlage. Sie erstellen eine Chronik des Falls und bewerten das Vorgehen der Jugendamtsmitarbeiter sowie die Arbeit der Rechtsmediziner und Sozialpädagogen. Es geht generell um die Frage, ob die Regeln richtig angewandt wurden.
Im konkreten Fall Tayler geht es um die Fragen, weshalb das Jugendamt Altona entschied, den Jungen wieder in seine Familie zurückzuführen und weshalb die Sozialpädagogin des Rauhen Hauses Gesichtsverletzungen des Kindes nicht gemeldet hat. Zu diesen Details wollte das Bezirksamt mit Verweis auf die laufenden Untersuchungen keine Auskünfte erteilen.
Dem Jugendamt war Taylers Mutter Jacqueline B. seit vielen Jahren bekannt, weil sie noch als Minderjährige ihr erstes, heute sechs Jahre altes Kind geboren hatte. Beide Kinder stammen nach Abendblatt-Information vom selben Vater, von dem sie sich aber getrennt hatte.
CDU-Bezirksabgeordnete fordert, das Kindeswohl stärker zu berücksichtigen
Im Laufe der Jahre soll das Jugendamt keine Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen festgestellt haben. Auch soll es keine Berichte über Drogen, Gewalt oder ähnliche Probleme in der Familie gegeben haben. Allenfalls sollen Mitarbeiter gelegentlich kleine Ermahnungen an die junge Mutter gerichtet haben: Etwa, dass das Kinderzimmer mal wieder aufgeräumt werden müsse.
Der Jugendhilfeausschuss des Bezirks ist am Freitag über den Fall informiert worden. Die CDU-Jugendpolitikerin Susanne Schütt will aber weiter nachhaken und hat eine Anfrage zu den Details gestellt. „Ich bin erschüttert“, sagt sie. Dem Jugendamt Altona bescheinigte die Politikerin aber „einen sehr guten Ruf unter Hamburgs Jugendämtern“. Man müsse aber wohl bei der Abwägung über eine mögliche Rückführung in die eigene Familie künftig das Kindeswohl stärker berücksichtigen, fordert die Juristin.
Klaus Wicher, Landesvorsitzender des Sozialverbandes Deutschland (SoVD), kritisiert scharf die „Wird schon gut gehen“-Mentalität im Hamburger Kinderschutz. Bei jedem neuen tragischen Fall wurde stets „Handlungsbedarf“ angemeldet und angekündigt, Untersuchungsausschüsse wurden eingerichtet, gegenseitige Schuldzuweisungen großzügig medial in Szene gesetzt – aber passiert sei offenbar nichts, was den jetzigen neuerlichen Fall verhindert hätte. „Der Tod des einjährigen Jungen in Altona zeigt, dass die Verantwortlichen aus Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt haben. Damit steht die Sozialsenatorin in der Pflicht, endlich aktiv zu werden und durchzugreifen.“
Die tragischen Todes- und Misshandlungsfälle seien jedem noch in Erinnerung. „Mehr aber wohl auch nicht, denn offenbar wurde weiter herumgewurschtelt.“ Einzelne Mitarbeiter des Jugendamtes oder den Betreuungsträger als Schuldige zu suchen und abzustrafen, werde weitere Fälle in der Zukunft nicht verhindern können. „Die Fehler liegen offensichtlich im System und sind eben keine Einzelfälle.“
Spätestens seit dem Tod von Yagmur fordert der SoVD einen Kurswechsel und eine qualitative Neuausrichtung des Hilfesystems. Wicher: „Das bestehende Jugendhilfesystem ist unfähig, sich selbst zu reformieren und zu verändern. Der Senat muss unverzüglich unabhängige Experten aus Praxis und Wissenschaft beauftragen, ein Konzept zu erstellen, dass das Jugendhilfesystem sicherer macht. Als alleiniger Maßstab darf der Schutz und das Wohl der Kinder eine Rolle spielen – Finanzierungsvorbehalte oder auch tradierte Vorstellungen von Elternrechten müssen außen vor bleiben.“
Sozialsenatorin Melanie Leonhard sagt, dass die Regelungen in Hamburg eindeutig seien. „Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass die Umstände im Fall Tayler noch gar nicht geklärt sind, täte ich mich schwer, strengere und härtere Regelungen zu fordern.“ Im Übrigen seien die Ermessensspielräume bei Gewalt in der Familie „praktisch abgeschafft“. Leonhard: „Wichtig ist vor allem, sich an die bestehenden Regelungen zu halten.“