Die Fahrt mit dem Sarg des verstorbenen Altkanzlers vom Michel bis zum Friedhof Ohlsdorf am Montag steckt voller Erinnerungen.
Es sind genau zwölf Kilometer. Zwölf Kilometer von Portal 8 des Michel bis zum Haupteingang des Ohlsdorfer Friedhofs. Auf seiner letzten Reise wird Altkanzler Helmut Schmidt (1918–2015) durch eine Stadt fahren, die er zu Lebzeiten gelobt und getadelt hat, in der er Spuren hinterließ, deren Gewissen er war. Die „schlafende Schöne“ hat er Hamburg einmal genannt, seine Stadt, seine Heimat, an der er sich auch abgearbeitet hat. Am Montag werden ihm voraussichtlich Tausende Menschen das letzte Geleit geben – auf dem Domplatz, an der Alster und zwischen dem roten Backstein, den er so schätzte.
Auf den zwölf Kilometern finden sich viele Spuren, Orte und Zitate, die mit Helmut Schmidt in Verbindung stehen – Zeit zum innehalten und um an Helmut Schmidt zu denken.
Genau gegenüber dem Michel-Hauptportal liegt das Restaurant Old Commercial Room, in dem Helmut Schmidt oft zu Gast war. Die Begründung lieferte er „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo:
„Dort gibt es das beste Labskaus der Stadt.“
Auf Höhe Domstraße fährt der Wagen dicht am Domplatz vorbei, im Hintergrund erheben sich das Pressehaus am Speersort, in dem Helmut Schmidt seit 1983 sein Büro als „Zeit“-Mitherausgeber hatte, sowie das Kontorhausviertel mit dem Chilehaus. Die Gegend ist geprägt vom roten Backstein, über den Schmidt in einem Interview sagte:
„Mein Vorbild war der hamburgische Oberbaudirektor Fritz Schumacher. Er hat den Backstein hier wieder zur Geltung gebracht.“
In die Debatte über die Bebauung des neben dem Pressehauses liegenden Domplatzes hatte sich Helmut Schmidt 2006 energisch eingeschaltet. Über den damals beinahe realisierten Entwurf befand er:
„Er nimmt weder auf Geschichte Rücksicht noch auf Tradition, noch auf das städtebauliche Umfeld. Es handelt sich um einen krampfhaft-schiefen, glasverkleideten Stahlskelettbau. (...) tatsächlich ist er ein als modern erscheinen sollendes Bürogebäude, wie es heute ebenso oder ähnlich in Shanghai, Dubai, São Paulo oder irgendwo auf der Welt gebaut wird.“
Der Wagen passiert dann die Petrikirche, die Schmidt aus seinem Büro sehen konnte. Über die Hamburger Kirchturm-Silhouette hatte er einst – nüchtern wie immer, aber nicht ohne stolz – geschrieben: „Zur hamburgischen Tradition gehört, dass den über Elbe und Alster weit herausragenden Türmen der großen Kirchen und des Rathauses keine Wolkenkratzer Konkurrenz machen.“
Der Trauerkonvoi nähert sich der Binnenalster, wo das geschäftige Treiben für einige Momente eingestellt wird. Die vor allem abends zu bemerkende Verödung der City hat Helmut Schmidt gelegentlich kritisiert, aber auch vor dem Versuch gewarnt, diesen Zustand durch pseudo-moderne Projekte zu verändern: „Abgesehen von den Flaniermeilen am Hafenrand und an der Binnenalster, wird die Hamburger Innenstadt hauptsächlich bloß Arbeits- und Geschäftsraum bleiben, nur tagsüber genutzt. Wenn das aber nicht zu ändern ist, dann sollte man wenigstens die eigenen Traditionen wahren!“
Trauer um Helmut Schmidt
Am Ende des Ballindamms passiert der Trauerzug dann beim Ferdinandstor die rechts davon liegende Kunsthalle, in der noch bis zum Februar die Ausstellung „Nolde in Hamburg“ gezeigt wird.
„Ich bin ein Anhänger von Emil Nolde seitdem ich 13 Jahre alt war“,
bekannte Helmut Schmidt, der während seiner Kanzlerzeit sein Bonner Büro auch in „Nolde-Zimmer“ umbenennen ließ.
Nachdem der Trauerzug die Kreuzung überquert hat, wird die Außenalster sichtbar, die in Helmut Schmidts Jugend eine große Rolle gespielt hat. Hier lernte er Segeln und Rudern. Unter anderem, war er auch Kapitän der Schülerruderriege. An das Rudern hatte Schmidt ziemlich durchwachsene Erinnerungen:
„Rudern kann ein schlimmer Sport sein, weil man gezwungen ist, sich im gleichen Takt zu bewegen wie der Schlagmann. Und der war ein Bulle, der hatte doppelt so viel Kraft wie der kleene Schmidt“, sagt er dazu in dem Buch „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“.
Schmidt hat sich selbst zu seiner „frechen Klappe“ bekannt, die er schon als Junge hatte. Eine Kostprobe davon hängt auch mit der Alster zusammen. In dem Buch „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt“ gestand er: „Ich erinnere, dass mich mal jemand im Ruderclub an der Alster, in dem wir Schüler unsere Boote liegen hatten, festgehalten und gefragt hat: ,Wo willst du denn hin?“ Und ich habe wohl gesagt: ,Ich will aufs Scheißhaus.’ Das hat einen Riesenwirbel ausgelöst. Es war natürlich eine Frechheit von einem 13- oder 14-Jährigen, so mit einem Erwachsenen zu reden.“
Die frühen Jahre des Helmut Schmidt
Immer wieder ist Helmut Schmidt gefragt worden, warum er als Staatsmann nicht in ein repräsentativeres Privathaus gezogen sei – zum Beispiel an die Außenalster. In einem Gespräch in seinem Langenhorner Haus antwortete Schmidt auf die Frage des Loki-Schmidt-Biografen Reiner Lehberger „Warum wohnt Familie Schmidt nicht an der Alster oder an der Elbe?!“ mit der Gegenfrage: „Warum sollten wir an der Alster oder an der Elbe wohnen, wo wir hier doch so schön wohnen?“ Und bei anderer Gelegenheit antwortete er auf die gleiche Frage schlicht: „Das ist mir zu vornehm.“
Am Schwanenwik fährt der Konvoi am Literaturhaus vorbei, das Ende der 80er-Jahre von Gerd Bucerius für die „Zeit“-Stiftung gekauft worden war. Bucerius war es auch, der seinen langjährigen Weggefährten Helmut Schmidt 1983 als Mitherausgeber zur „Zeit“ holte. Schmidt erinnerte sich: „Er meinte: Das Gehalt bestimmen Sie. ich habe gesagt, ich wüsste nicht, was Herausgeberin Marion Dönhoff bekommt, aber er müsste mir dasselbe zahlen. Mit dem ersten Gehalt habe ich dann gemerkt, dass Marion Dönhoff nicht übermäßig bezahlt wurde.“
Nach dem Schwanenwik folgt die Herbert-Weichmann-Straße, die an den gleichnamigen ehemaligen Hamburger Bürgermeister erinnert. Über ihn schrieb Helmut Schmidt:
„Diese Freundschaft bleibt mir wichtig. Sie umfasst den Respekt vor einem erfüllten, mutigen Leben und den Dank für guten Rat. Er hat mir viel bedeutet, weil er immer durchdacht und hilfreich war. Als er (...) zurücktrat, waren viele Hamburger tieftraurig. Ich habe meine Tränen damals nicht unterdrücken können.“
Auch der Name Bebelallee ist für Helmut Schmidts Leben von Bedeutung. Der „Arbeiterkaiser“ August Bebel war für den Altbundeskanzler während dessen Amtszeit so sehr Vorbild, dass er sich ein Gemälde Bebels in seinem Büro an die Wand hängen ließ. Die aktuell in der Straße bestehende Baustelle wird extra für den durchfahrenden Trauerkonvoi geöffnet.
Nicht weit entfernt von den Winterhuder Straßenzügen lag am Grasweg Helmut Schmidts Schule, die Lichtwarkschule, die heute in der Heinrich-Hertz-Schule aufgegangen ist. In der damaligen Reformschule hatte sich die Freundschaft zwischen Schmidt und Hannelore Glaser, seiner späteren Ehefrau vertieft. „Die unterrichteten auf ziemlich revolutionäre Weise“, erinnerte sich Schmidt später an diese Zeit.
Die Fahrt mit dem Sarg Helmut Schmidts endet auf dem Ohlsdorfer Friedhof, wo das Familiengrab der Schmidts liegt. Hier sind unter anderem auch Helmut Schmidts Eltern und seine Ehefrau Loki (1919–2010) bestattet, mit der er 68 Jahre lang verheiratet war.
Helmut Schmidt hat sich nicht öffentlich zu religiösen Themen geäußert, das sei „Privatsache“. Er hat aber immer deutlich gemacht, dass er nicht an ein Weiterleben nach dem Tode glaubt. Stattdessen hat er bekannt, dass er und Loki dieselbe Vorstellung vom Tod hatten. Das habe sich bei Gesprächen herausgestellt, die beide über das Thema führten.
Loki Schmidt hat dazu einmal gesagt:
„Wenn ich erst einmal auf der Schwelle stehe, habe ich auch keine Angst mehr (...) Ich bin wirklich der Meinung, dass man sich, weil man aus vielen Atomen und Molekülen besteht, in all die Bestandteile auflöst, und Mutter Natur setzt das alles neu und anders wieder zusammen. Man verschwindet körperlich nicht. Man lebt in einer völlig anderen Weise oder bleibt der Erde auf eine völlig andere Weise erhalten. Und das, finde ich, ist ein tröstlicher Gedanke.“
Helmut Schmidt hat diese Gedanken seiner Frau geteilt.