Im Zug erfährt Helmut Schmidt zufällig von einem Seegrundstück, das ein Bauer in Schleswig-Holstein verkaufen will. Teil 8 der Serie.

Ach, waren das herrliche, fast legendäre Zeiten! Als Käpt’n Schmidt mit einer Jolle auf dem Brahmsee kreuzte, Loki im Garten herumpuzzelte und das Leben weitgehend in Ordnung war – nicht nur in Hamburg und Schleswig-Holstein. Zeitweilig sorgten namhafte Besucher, Sicherheitsleute, Referenten aus dem Kanzleramt, Journalisten und Kiebitze für Auftrieb in der ländlichen Idylle, 65 Kilometer nordöstlich von Hamburg. Meistens jedoch fanden die Schmidts genau das vor, was sie so inniglich suchten und am meisten schätzten: Ruhe, Frieden, Harmonie und Natur.

Während die ganz große Politik außerhalb Bonns in Langenhorn gemacht wurde, empfing Helmut Schmidt in seinem Ferienhäuschen am See überwiegend Freunde, Vertraute und unkomplizierte Staatsmänner aus den Nachbarländern.

Der später ermordete Olof Palme aus Schweden reiste ebenso nach Holstein wie Norwegens Premier Odvar Nordli, der niederländische Ministerpräsident Joop den Uyl oder Österreichs Regierungschef Bruno Kreisky. Zu den Freunden, die dort ebenfalls willkommen geheißen wurden, gehörte neben dem Schriftsteller Siegfried Lenz auch Hamburgs langjähriger Bürgermeister Henning Voscherau. Im Laufe der Jahre reisten auch Künstler wie Celibidache, Menuhin oder Bernstein an.

Lang, lang ist’s her, weit mehr als drei Jahrzehnte. Vor seinem Tod am 10. November 2015 ließ sich Helmut Schmidt – soweit es Zeit und Gesundheit zuließen – gelegentlich von einem Chauffeur an den Ort fahren, der ihm so viel bedeutete. Auch das ist nun vorbei. War es nach Lokis Tod 2010 dort schon zu ruhig geworden, so wird es zukünftig fast gespenstisch still sein auf dem Grundstück des verstorbenen Ehepaars. Vielleicht soll es verkauft werden, an Freunde, Nachbarn oder Fremde? Kaum vorstellbar, dass Tochter Susanne, neben der Stiftung die Haupterbin, das geliebte Feriendomizil auf Dauer erhalten wird. Sie lebt in Kent im Süden Englands und ist nur selten in ihrer norddeutschen Heimat.

Solche privaten Momente sind eher selten: Helmut Schmidt auf seinem Segelboot auf dem Brahmsee]
Solche privaten Momente sind eher selten: Helmut Schmidt auf seinem Segelboot auf dem Brahmsee] © picture-alliance / Sven Simon | dpa Picture-Alliance / SVEN SIMON

Apropos Heimat. Zeitweise fühlten sich viele Deutsche heimisch an dem einen Quadratkilometer großen und bis zu 10,4 Meter tiefen Gewässer – gefühlt zumindest. Denn vor allem zwischen 1974 und 1982 war der Brahmsee in vielen Medien omnipräsent. Wenn Helmut Schmidt mit Lotsenmütze und Pfeifchen an der Pinne saß, war das Boot auf Kurs. Das K-&-K-Prinzip: Kanzler und Kapitän.

Dabei begann das Ganze mit einem Zufall. Und zwar mit einer Dienstfahrt im Winter 1957/58, die erheblich länger dauerte als im Fahrplan eigentlich vorgesehen.

Irgendwo zwischen Bonn und Hamburg bleibt der Schnellzug der Bundes­bahn in Schneeverwehungen stecken. Nichts geht mehr. Der 39 Jahre alte Hamburger SPD-Bundestags­abgeordnete Schmidt ist unwirsch und genervt. Die Wartezeit nutzen drei Herren in einem Erste-­Klasse-­Abteil zum Gespräch. Neben dem künftigen Kanzler sitzt sein (Partei-)Freund Willi Berkhan. Den späteren Wehrbeauftragten lernte er (wie in Teil fünf dieser Serie beschrieben) während des Studiums in Hamburg kennen.

Der Dritte im Bunde ist ein Busunternehmer aus Kiel. Er preist die Vorzüge Schleswig-Holsteins. Ganz speziell schwärmt er vom Brahmsee. Das Interesse steigt, als der Busunternehmer von einem seiner Fahrer erzählt. Der wiederum kenne einen Bauern namens Steffen, der sein etwa 10.000 Quadratmeter großes Grundstück direkt am Brahmsee verkaufen wolle. Irgendwann kann der Zug seine Fahrt fortsetzen, doch zu Hause ist das Gespräch nicht vergessen. Auch Loki Schmidt findet die Idee spannend. Beim Wort „Naturpark“ spitzt sie die Ohren. Der Kontakt zum Busunternehmer wird aktiviert, und im Februar 1958 stehen die beiden Schmidts am Brahmsee, blicken auf den gefrorenen See – und sind begeistert. Helmut gibt später knur-rend zu Protokoll: „Es war ein miserabler Acker, ein karger Sandboden.“

Noch indes existiert ein Hindernis: der Preis. Weil 10.000 Mark (umgerechnet gut 5000 Euro) ein Batzen Geld sind – genau zehn Jahre nach der Währungsreform. Zwar verdienen die Schmidts doppelt, doch sind die Parlamentsbezüge noch bescheiden. Des finanziellen Rätsels Lösung: Das Areal wird zwischen dem Zug fahrenden Trio brüderlich geteilt.

Spartanische Ausstattung mit einer kleinen Küche und einem Plumpsklo

Jeder zahlt dem Landwirt etwas mehr als 3000 Mark und erhält dafür ein gut 3000 Quadratmeter umfassendes Grundstück mit 30 Meter Seeufer. Es gibt einen gemeinsamen Zugangsweg, der über einen Moränenhügel und vorbei an Weideflächen mit Holzgattern führt. Ein Traum! Als Eigentümerin lässt Helmut Schmidt seine Ehefrau eintragen – zur materiellen Absicherung. Die Schmidts beauftragen eine Firma aus der Umgebung Elmshorns, eine Gartenbude zu errichten. „Quasi aus dem Katalog“, sagt Helmut.

Das Lebensumfeld fällt spartanisch aus: ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine kleine Küche mit zwei Herd-platten. Dazu ein Plumpsklo. Luxus sieht anders aus. Alles auf anfangs 30 Quadratmetern untergebracht. Bausubstanz: ein bisschen Holz, Wände aus Presspappe. Strom? Fließend Wasser? Heizung? Komplett Fehlanzeige. Beleuchtet wird die Butze mit Funzeln; für Wärme sorgt ein Petroleumofen. Dieser erfüllt die in der Neuzeit gültigen Sicherheitsnormen offensichtlich ganz und gar nicht. Denn irgendwann fällt Loki des Nachts fast ohnmächtig aus dem Bett. „Hätte auch unser Ende sein können“, befindet Helmut Schmidt lakonisch.

Immerhin steht die Datscha stabil und trotzt den Holsteiner Böen. Innen ist die Bude urgemütlich, nachdem Zimmermeister Spießhofer mächtig Hand angelegt hat. Bilder, bunt bemalte Bauernteller, ein Mobile mit Schiffchen und die Sitzecke mit der Holzbank schaffen eine heimelige Atmosphäre. Das Häuschen ist durch eine dichte Reihe von Birken, Buchen und Sträuchern für Neugierige nicht einsehbar.

Wenn der Chef, also Helmut, zur Sense greift, um den Rasen zu kürzen, müssen nicht selten Lokis geliebte rosa­-violetten Heidenelken dran glauben. Dabei freut sie sich doch so sehr darüber, dass die Rosenbüsche (Rosa canina) sogar auf dem gelben Sand­boden blühen und gedeihen.

Irgendwann erscheint auch der Brunnenbauer aus dem Nachbardorf. In etwa 500 Meter Entfernung schlägt seine Wünschelrute aus Haselnusszweigen tatsächlich heftig aus. Seitdem ist auch die Grundwasserzufuhr am See gesichert.

Nur bedingt Verlass ist auf die Fotoaufnahmen aus dieser Zeit, viele sind trügerisch und gaukeln das Paradies auf Erden vor: Nur in Ausnahmefällen hat der Bundeskanzler Zeit, Schach zu spielen, segeln zu gehen oder schlicht zu faulenzen. Dolce Vita am „Lago di Sozi“ ist selten. So wird der beschauliche See inoffiziell genannt.

„Der liebe Gott hat mich als Arbeitstier geboren“, raunzt Schmidt einen lästig fragenden Pressemann an. Stets hat er Aktenberge dabei und vertieft sich stundenlang darin. Manchmal bis 2 Uhr nachts. Was ihm von Loki den Spitznamen „Nachteule“ einbringt. Selbst im Sommerurlaub am Brahmsee ist Schmidt niemals ganz außer Dienst. Also müssen Vorkehrungen getroffen werden.

Nebenan wird ein zweites Gebäude errichtet. Mit Aufenthaltsräumen für vier Sicherheitsleute sowie den Fahrer und einem kleinen Büro für die Sekretärin. Das Kontor ist mit Telefon und Fernschreiber ausgestattet. Dann und wann bringt ein Mitarbeiter neues Aktenmaterial, und gelegentlich schauen Referenten, Staatssekretäre oder auch Minister vorbei. Ab und zu gehen die Schmidts auch zum Bratkartoffelschmaus (mit Schwarzsauer oder Sülze) in den lokalen Dörpskrog oder schauen bei der Gärtnerei Schnack vorbei. Nomen est omen.

Am schönsten jedoch ist die traute Zweisamkeit. Große private Urlaubs-reisen buchen die beiden höchst selten. Warum auch, wenn das Gute liegt so nah!

Ein 6,5 Hektar großes Grundstück wird zu Lokis Freude ein Naturbiotop

Bisweilen fliegt der Altkanzler auch nach Mallorca, um an seinen Büchern zu arbeiten, auch 2012 noch. Massentourismus, Kreuzfahrten oder ähnliche Vergnügungen waren den Schmidts immer ein Gräuel. Manchmal nutzt das Kanzlerehepaar Staatsbesuche zu einem anschließenden Kurzurlaub. Zum Beispiel im Januar 1976, als die Schmidts nach Regierungs­gesprächen in Athen für neun Tage die Luxusvilla des Milliardärs Basil Goulandris bewohnen dürfen. Das muss man sich heutzutage mal vorstellen. Der 2012 zurückgetretene Bundespräsident Christian Wulff lässt gequält grüßen.

Doch zurück an den Brahmsee. Aus der einstigen „Baracke“, so Schmidts damaliger Regierungssprecher Klaus Bölling, wird im Laufe der Jahre durchaus etwas Ansehnliches – wenn auch weit von jenem Luxus entfernt, den sich andere Staatsmänner im Ruhestand zu gönnen pflegen. Hinzu kommen nach und nach zwei Garagen, ein Schuppen, eine komfortablere Küche, eine Gästetoilette, ein Whirlpool, eine Dusche in Helmut Schmidts Arbeitszimmer und ein Bootsschuppen mit Terrasse.

Dazugekauft wurde außerdem ein 6,5 Hektar großes Grundstück in der Nachbarschaft, das zu Lokis Begeisterung als Naturbiotop erhalten bleibt. Erst 1998, nach fast vier Jahrzehnten ohne Heizung, wird das Ferienhaus erheblich technisch modernisiert. Der Charme der in aller Welt bekannten Bude mit der Fichtenholztäfelung und dem hellgrünen Filzteppich bleibt jedoch erhalten, die Außensauna ebenso. Nichts auf der Welt, da waren sich die Schmidts zeitlebens einig, ist so schön wie der Norden Deutschlands.

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