Hamburg. Staatschefs, Könige und Ministerpräsidenten gehen bei Helmut Schmidt ein und aus. Teil 7 der Abendblatt-Serie.
Genosse Leonid ist trotz intensiven Hungers bester Dinge, jedoch verblüfft. „Wo ist denn die Mauer?“, will er von der Gastgeberin Loki Schmidt wissen. In Anbetracht der hermetisch abgeriegelten Datschen der herrschenden Kommunisten daheim in der Sowjetunion kann sich Gospodin Breschnew partout nicht vorstellen, dass Deutschlands Regierungschef in solch bescheidenem Umfeld wie am Neubergerweg 80–82 in Hamburg-Langenhorn lebt.
Auch dem Moskauer Protokoll können die besonderen Umstände dieses Besuchs nicht absolut klar gewesen sein, sonst hätten sie ihren allmächtigen Chef besser vorbereitet. „Welche Mauer, Herr Staatspräsident?“, fragt Loki Schmidt via Dolmetscher nach. Na ja, meint Breschnew, die Sicherheitsabsperrung, der Schutzkorridor, die Mauern, das ganze Gedöns, wie der Hamburger so sagt. Dass die Mauer zwischen beiden deutschen Staaten ein gutes Jahrzehnt später fallen wird, kann der Gast aus dem Osten in diesem Moment keinesfalls ahnen, doch begreift er rasch, dass im Falle Schmidt andere Grundregeln herrschen.
Sodann wird köstlich aufgetischt. Als sich Ost und West ganz vorsichtig näherkommen, wird eine uralte Volks-weisheit wiederbelebt: Sympathie geht auch durch den Magen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. An diesem 6. Mai 1978 wird im Hause Schmidt vorweg Tomatensuppe mit Kalbfleischklößchen gereicht.
Doch delikat ist etwas ganz anderes: Da reist der seinerzeit zweitwich-tigste Mann der Welt, KPdSU-Chef Le-onid Breschnew, mit einem 130köpfigen Tross aus Moskau nach Deutschland, um ganz große Politik zu machen. Und wo setzt sich der mächti-ge Russe mit dem deutschen Kanzler an einen Tisch? In einem ganz normalen, rot geklinkerten Doppelhaus in Langenhorn. Mit Jägerzaun, kleiner Pforte, putziger Gartenlampe, Rhododendren und Tannen dahinter. Fehlen nur noch die Gartenzwerge.
Dafür gibt es jede Menge „weißer Mäuse“, wie die Hanseaten ihre Polizis-ten auf Motorrädern nennen, und schwarze Limousinen – mitten im bür-gerlichen Wohngebiet. Zeitweise ver-muteten einige, dass die Landkarte der Bundesrepublik Deutschland einer Änderung bedarf: Nicht Bonn, sondern Hamburg ist die Hauptstadt.
Der neue Besitz in Langenhorn kostet 128.000 Mark, Schmidts Vater legt dazu
Und das kam so: Anfang der 1950er-Jahre sind die Schmidts von der Elbe in eine etwas größere Wohnung am Schwalbenplatz in Barmbek-Nord gezogen. Dieser liegt zwischen Habicht- und Fuhlsbüttler Straße. 1954 geht die „Tour d’Hambourg“ eine Station weiter: Im Zickzackweg 6b, nur ein paar Meter von der Waitzstraße und der S-Bahn Othmarschen entfernt, findet die Familie ein gemütliches Rei-henhaus, das sich auf einem Reemtsma-Grundstück befindet. Bis 1961 nisten sich Loki, Helmut und Susanne dort ein, bevor das heutige Heim am Neubergerweg in Langenhorn Endstation häuslicher Sehnsucht ist.
Trauer um Helmut Schmidt
Ermöglicht wird der Erwerb dieser Immobilie, in der sich Helmut Schmidt bis zu seinem Tod am 10. November 2015 – also insgesamt 54 Jahre – hei-misch fühlen wird, durch den Verkauf des Eigentums am Zickzackweg. Dieses war im Wert erheblich gestiegen. Au-ßerdem legt Helmuts Vater Gustav noch 10.000 Mark dazu, seinerzeit sehr viel Geld. Der neue Besitz in Langen-horn kostet 128.000 Mark (umgerechnet gut 65.000 Euro).
Hannelore und Helmut Schmidt bitten immer öfter die Großen der Erde in ihr kleines Refugium. Wohnfläche in der Anfangsphase: 120 Quadratmeter. Was den Amerikanern der Landsitz Camp David, ist den Deutschen der Neubergerweg, die nach dem Mediziner Professor Theodor Neuberger benannte Verbindung zwischen Langenhorner Chaussee und Tangstedter Landstraße. Grün und beschaulich ist es hier, südlich von Ochsenzoll, dennoch absolut keine Villengegend.
Vor seinem Wechsel in das Seniorenstift in Rissen bewohnt Helmut Schmidts Vater Gustav die zweite Dop-pelhaushälfte, später zieht dort Tochter Susanne ein, anschließend nutzen Loki und Helmut beide Seiten.
Eine Art Premierengast öffentlicher Gastfreundschaft ist am 8. Juni 1976, zwei Jahre nach Schmidts Wahl zum Kanzler, Polens Parteichef Edward Gierek. Zu diesem Anlass werden die Ehrenkompanie der Bundeswehr wie auch das Bonner Protokoll in die Hansestadt dirigiert. Loki reicht ein Frühstück mit Matjessalat nach Hausfrauenart, Katenschinken, selbst eingekochter Marmelade und Rundstücken. Man kommt sich näher. Und zwar immer öfter.
In den acht Jahren schmidtscher Kanzlerschaft geben sich namhafte Persönlichkeiten fast die Klinke in die Hand. Kanadas Premier Pierre Trudeau ist in Hamburg, Ägyptens Staatschef Sadat, König Juan Carlos aus Spanien. Dänemarks Ministerpräsident Anker Jørgensen kommt mehrfach am Wochenende zum Hausbesuch, auch Griechenlands Konstantin Karamanlis ist willkommen.
Weitere Ehrengäste auf privatem Parkett sind Hollands damalige Kronprinzessin Beatrix sowie Spitzenpolitiker aus Portugal, der Tschechoslowakei, Mexiko, Kamerun und Italien. Wer sonst in Palästen und prunkvollen Sä-len Hof hält, weiß das persönliche Ambiente als Kontrast zu schätzen.
Auch die Deutschen wissen, dass Hamburg oben ist. Die anfangs karge Doppelhaushälfte hat sich zum schnuckeligen Heim gewandelt. Niemals handelte es sich um ein Reihenhäuschen, wie bis zum heutigen Tage immer wieder geschrieben wird. Das Doppelhaus befindet sich nur in einer Reihenhaussiedlung am Neubergerweg, die in Wirtschaftswunderzeiten von der Neuen Heimat und der SchiffszimmererGenossenschaft errichtet wurde.
Anfangs gab es dort noch nicht einmal eine richtige Straße. Später inves-tieren die Schmidts eine Menge Geld: 1974 rund 280.000 Mark für Anbauten, ein Schwimmbad und Garagen. 1978 werden noch einmal 145.000 Mark aufgebracht.
Außerdem droht durch die RAF Terrorgefahr. Das Heim der Kanzlerfamilie wird in eine Festung umgebaut. Auch wenn die Opposition halbherzig lamentiert, bewilligt der Haushaltsaus-schuss des Bundestags 600.000 Mark für Schutzmaßnahmen. Da an Helmut Schmidt aus der Nähe nur schwer heranzukommen ist, befürchten Sicherheitsexperten ein Bombenattentat oder gar terroristische Angriffe aus der Luft. Folglich sind am Neubergerweg zeitweise sogar Panzerabwehrraketen und Raketen mit Infrarotköpfen in Stellung gebracht.
Als Konsequenz entsteht „Fort Langenhorn“, so wie es im Prinzip heute noch trutzt – ohne dass man es auf den ersten Blick sehen kann. Die fla-che Dachebene wird gepanzert, um vor Luftattacken zu schützen. Parallel bauen Glaser Panzerscheiben ein; Handwerker verstärken die Wände. Vor der eigentlichen Haustür wird eine Sicherheitsschleuse eingerichtet, und ein Teil der Garagen zur Straße hin wird zur Polizeizentrale. Noch bis kurz vor Helmut Schmidts Tod sind hier Sicherheitskräfte postiert.
Wahrscheinlich wird das meiste so bleiben in dem Doppelhaus, das Ge-schichte schrieb. Nach Helmut Schmidts letztem Willen sollen das umfangreiche Archivgebäude im Neubau nebenan sowie das Doppelhaus als eine Art Museum erhalten bleiben. Jeder, so sein Vermächtnis, soll sich einen persönlichen Blick machen von Räumen mit historischem Charakter.
Ob auch die zahlreichen Aschenbecher bleiben? Oder Lokis diverse Sammlungen, die der Witwer Schmidt bis zum Ende heilig hielt? Bekanntlich hatte Loki die Angewohnheit, bei Weltreisen kleine, bunt verpackte Zuckerwürfel mit nach Hamburg zu bringen. Vielleicht wird sogar das Schuhwerk ausgestellt. Helmut Schmidt trug – nicht nur zu Kanzlerzeiten – gern Schuhe mit möglichst dicken Sohlen. Er meinte, so hochgewachsener zu wirken als 1,70 Meter. Darauf kommt es fraglos nicht an, aber auch ein Schmidt ist eben nur ein Mensch.
Keine Außer-Haus-Küche? Doch – nach dem Hinweis, es geht ums Kanzlerheim
Was trotz aller politischen Differenzen auch auf Leonid Breschnew zu-trifft. Die im Esszimmer von Loki und Helmut Schmidt am 6. Mai 1978 kre-denzte Speisefolge ist nach seinem Geschmack. Neben einem erwärmenden Süppchen, siehe oben, kommen Spargel, Schinken, neue Kartoffeln sowie Buttersoße auf den Teakholztisch, an dem ausgezogen zwölf Personen Platz finden. Auch das Dessert, so berichten die Tafelgäste Willy Brandt und HansDietrich Genscher später, sei nach Breschnews Gusto gewesen: sahniges Speiseeis mit Rumtopffrüchten.
Gekocht hat diesmal nicht die Hausfrau, sondern Peter Lüttgens aus der „Neuen Milchwirtschaft“ am Jahnring in der Nähe. Das läuft exzellent so, seit sich bei ihm telefonisch eine „Frau Schmidt“ meldete und nach Außer-Haus-Küche fragte. Geht leider nicht, so die Antwort. Der zaghafte Hinweis, sie sei die Frau des Kanzlers, machte dann doch Unmögliches möglich. Die Blumen für die Sowjet-Delegation hat Loki selbst ausgesucht: Anemonen, Babyrosen und Freesien, in Harmonie mit den rosafarbenen Vorhängen und dem Wandschmuck, einer rot-grünen Batik.
Gut gesättigt kommen sich der Kanzler und sein Moskauer Gast weltpolitisch näher. Ein bisschen zumindest. Auf das Klima kommt es entscheidend an. Offensichtlich hat Schmidts Langenhorner Wigwam jene spezielle Note, die es anderswo so nicht gibt.
Morgen lesen Sie: Dolce Vita am Brahmsee, dem „Lago di Sozi“