Seinem Ruf als fleißiger und forscher Staatsmann bleibt der Hanseat treu. Teil 6 der Abendblatt-Serie.
Wahrscheinlich würde es diese Serie ohne die Vorkommnisse des 5. Mai 1974 gar nicht geben, ein für die Familie Schmidt erneut besonders bedeutsamer Tag. Die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume führt zum Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt. Konsterniert sitzt der SPD-Politiker mit seinen Getreuen in Bad Münstereifel beisammen. Ein Agent als persönlicher Referent in seiner direkten Nähe: eine Katastrophe!
Schon bevor die Beratungen losgegangen sind, steht Brandts Entschluss fest. Aus dem Bauch heraus wirft er in die Runde: „Der Helmut muss das machen!“ Der damit gemeinte Finanzminister Schmidt reagiert alles andere als begeistert. „Ich hatte Schiss!“, bekannte er sehr viel später offenherzig. Letztlich sagt er in typischer Weise zu Ehefrau Loki: „Erst mal muss ich das jetzt ja wohl machen.“ Aus „erst mal“ werden acht Jahre.
Elf Tage nach den Gesprächen von Bad Münstereifel, am 16. Mai 1974, wird der Hamburger Helmut Schmidt vom Bundestag mit 267 von 492 Stimmen zum fünften Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Was 1946 mit dem Eintritt in die SPD in Neugraben begann, wird nunmehr gekrönt. Nach drei Jahren als Wirtschafts- und Finanzminister hat er den Gipfel seiner politischen Laufbahn erreicht: ein Hanseat ganz oben! Von der Tribüne des Plenarsaals aus verfolgen Gattin Loki, Tochter Susanne und Schmidts Sekretärinnen den großen Moment. Eines späteren Tages wird Helmuts Vater Gustav Schmidt Loki fragen: „Wie heißt das noch, was der Helmut da macht?“
Er macht eine ganze Menge, bringt wirtschaftlichen Sachverstand, außenpolitisches Know-how, sein internationales Netzwerk und vor allem seine pragmatischen Fähigkeiten ins Spiel. Natürlich zieht nun auch Loki in den Kanzlerbungalow nach Bonn. Beide schmerzt der Umzug aus der geliebten Heimatstadt immens. Nur an den Wochenenden kann das Ehepaar mit einem Bundeswehr-Jet von Köln/Bonn nach Hause fliegen – wenn überhaupt.
Der „Stern“ nennt ihn Herrscher, das Magazin „Capital“ Le Feldmarschall
Loki setzt sich zum Ziel, alles andere als eine grinsende Kanzlergattin zu sein. Nichts hasst sie so sehr wie die Bezeichnung „First Lady“. Im Bonner Kanzlerbungalow widmet sie sich der Inneneinrichtung. Sie hängt ein Ölbild aus Bali an die Wand, platziert die besonders von Helmut geschätzten Landschaften von Christian Modersohn, stellt ihre afrikanischen Masken und exotische Pflanzen auf. Helmut kennt das schon von ihr.
An medienwirksamen Auftritten mangelt es keineswegs. Eine Lotsenmütze wird zur Marke. Viel Qualm, ob Pfeife oder Mentholzigarette, gehört dazu. Wahrlich nicht nur zum Spaß marschiert der Bundeskanzler eines Morgens um 8.30 Uhr mit einer Trillerpfeife durch den Park ins Amt, in die er kräftig bläst. „Das war ein Anpfiff!“, lässt der Chef wissen. Schmidt präsentiert sein wunderschönes Haifischlachen.
Über den Regierungsstil des pflichtbewussten und emsigen Hanseaten streiten sich von Anfang an die Geister. Die Einstufung als direkt und forsch ist höflich formuliert. Eingeweihte berichten, „Schmidt Schnauze“ fahre seinen Mitarbeitern gelegentlich über den Mund oder sei in Fachgesprächen ein Oberlehrer.
Der „Stern“ befindet in seiner Ausgabe vom 3. Oktober 1974, der Kanzler kommandiere lieber, als dass er diskutiere. Unter dem Titel „Der Herrscher“ schreibt das Magazin „Capital“, der Norddeutsche regiere als Staatschef wie Charles de Gaulle im Nachbarland Frankreich. Le Feldmarschall heißt er dort. Schmidt fühlt sich geehrt.
Im Büro trinkt das Arbeitstier stark gesüßten Kaffee, jede Menge Cola und manchmal auch warme Milch. Und sonst? „Helmut, du kannst ja nicht immer nur Suppe zu dir nehmen“, meint Loki verzweifelt.
Trauer um Helmut Schmidt
Der Grund: Bei dieser Form flüssiger Nahrung kann der Kanzler mit der rechten Hand löffeln und mit der linken gleichzeitig noch in Aktenordnern blättern. Spart Zeit. Bis in die Puppen sitzt er bei gedämpftem Licht an seinem Palisander-Schreibtisch und schafft – meist 14 Stunden und mehr. Eine Klimaanlage saugt den Zigarettenrauch auf. Auch sie hat reichlich zu tun.
Mit der arbeitsamen Idylle ist es drei Jahre nach Amtsantritt vorbei: Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) bedrohen Deutschland – und die Familie Schmidt ganz persönlich. Der „Deutsche Herbst“ sorgt für Angst und Schrecken. Alarmstimmung im sonst so beschaulichen „Bundesdorf“ Bonn.
Vor dem hermetisch abgeriegelten Park mit dem Kanzlerbungalow haben Soldaten des Bundesgrenzschutzes hinter Sandsäcken Stellung bezogen – mit Maschinengewehren im Anschlag. Und als Loki zu Hause fernsieht, derweil Helmut im Einsatz ist, liegt auf dem Kühlschrank eine geladene Walther PP, Kaliber 7,65.
Der Entführung des Berliner CDU-Bürgermeisterkandidaten Peter Lorenz 1975 folgen 1977 die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback sowie der tödliche Anschlag auf Jürgen Ponto, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Nicht nur in Deutschland herrscht ein bedrückendes Klima – wie aktuell nach den Terroranschlägen in Paris.
Am 5. September 1977 kommt es zum nächsten Anschlag: Um 17.25 Uhr wird der Industrielle Hanns Martin Schleyer entführt. Vier Stunden später, um 21.30 Uhr, ist ein zutiefst betroffener, jedoch entschlossener Kanzler im deutschen Fernsehen zu hören: „Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte reagieren!“ In einer außerordentlichen Ansprache an die Nation erbittet der Regierungschef die Mithilfe der Bevölkerung. Ernst wie selten zuvor blickt der Kanzler durch seine dunkle Brille. Eine absolute Sicherheit, so seine erschreckende Botschaft, könne es nicht geben.
Nach 44 Tagen als Geisel wird Schleyer vom Terrorkommando ermordet. Das Land ist erschüttert. Auch im Fall der von der GSG9 später in Mogadischu befreiten Lufthansa-Maschine „Landshut“ lässt sich die Regierung nicht in die Knie zwingen. Bei seiner Rede an die Nation am 20. Oktober 1977 im Bundestag sagt der alles andere als gottesfürchtige Kanzler: „Gott helfe uns!“ Er wird diesen Appell in seinem Leben nicht wiederholen.
Schmidt wird von einem dreifachen Sicherheitskordon geschützt. Den äußeren Bereich stellt der Bundesgrenzschutz mit Profis, die Schnellfeuerwaffen, Pistolen und Raketenabwehrmunition am Mann haben. Den zweiten Ring bildet die Sicherungsgruppe Bonn des BKA. Sie bewacht Helmut Schmidt auf dem Gelände des Kanzleramts, auf dem Flur seines Arbeitszimmers im zweiten Stock, schirmt das Palais Schaumburg ab und steht ihm bei Reisen zur Seite. Die innerste Schutzzone wird von vier Leibwächtern übernommen.
Der Kanzler besteht allerdings darauf, dass diese Männer seines Vertrauens aus seiner Heimatstadt Hamburg kommen. Einer von ihnen ist Ernst-Otto Heuer, der im späteren, ruhigeren Leben der Schmidts noch „Spezialaufgaben“ übernehmen wird: zum Beispiel als Barkeeper im Doppelhaus in Langenhorn.
Wie schwer sich Helmut Schmidt und seine Loki tun, dokumentiert ein erst viel später bekannter Entschluss des Ehepaars. Nach einem Terroranschlag in Schweden gehen die beiden durch den kleinen Park neben dem Kanzlerbungalow: „Was soll geschehen, wenn einer von uns Opfer einer Entführung wird?“ Es ist ein Gespräch, das an die Nieren geht.
Entschlossen, doch schweren Herzens, suchen Loki und Helmut Schmidt am Folgetag den Kanzleramtschef auf. „Falls einer von uns beiden gekidnappt wird, darf uns der Staat nicht austauschen“, geben sie dort sinngemäß zu Protokoll. Dieser Wille wird von beiden unterschrieben.
Nach seiner Abwahl bereiten ihm die Hamburger einen ergreifenden Empfang
Die Amtsgeschäfte gehen weiter – im In- und Ausland. Details, darunter die Ostpolitik mit privaten wie dienstlichen Reisen auch „nach drüben“, werden im neuen Abendblatt-Buch „Helmut Schmidt – ein Hamburger Staatsmann“ geschildert, das im Dezember erscheint.
Am 1. Oktober 1982, einem nicht nur für Sozialdemokraten kühlen Herbsttag, endet die Mission an der politischen Spitze. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum der Opposition im Bundestag wird Bundeskanzler (und Außenminister) Helmut Schmidt gestürzt und von Helmut Kohl abgelöst. Schmidt reicht seinem CDU-Widersacher die Hand. Am Tag darauf, es ist ein Sonnabend, trifft Schmidt mit dem Flugzeug in Fuhlsbüttel ein und wird von dort nach Langenhorn gefahren. Einer wie Schmidt lässt sich zwar keine Gefühle anmerken, aber seine letzte Dienstfahrt berührt ihn zutiefst.
Vom U-Bahnhof Kiwittsmoor bis zur Tangstedter Landstraße und weiter bis zum Schmidt-Haus am Neubergerweg bereiten ihm die Hamburger einen ergreifenden Empfang. Tausende Hamburger sind es, die meisten schweigen, fast alle haben brennende Fackeln in den Händen. Man muss kein Sozialdemokrat sein, um eine Gänsehaut zu bekommen.
Vor dem Doppelhaus Neubergerweg 80–82 steigt Helmut Schmidt auf die Ladefläche eines in aller Eile organisierten Pritschenwagens. Und da steht er nun, der stolze Hanseat mit dem Schal und der Helgoländer Lotsenmütze, erdverwachsen und unerschütterlich. Er richtet ein paar Worte an die Wartenden. Er harrt in der Dunkelheit aus, bis so gut wie alle vorbeigelaufen sind. Dann geht er allein ins Haus. Dort wartet Loki.
Morgen lesen Sie: Sowjet-Chef Leonid Breschnew sucht die Mauer – in Hamburg-Langenhorn.