Helmut und Loki Schmidt – das ist auch die Geschichte einer ungewöhnlich jungen und ungewöhnlich langen Liebe und Partnerschaft.
Zwei badende Frauen im Hamburger Stadtpark sind Zeuginnen. Praktisch zu ihren Füßen, auf einer Bank, lassen sich zwei junge Menschen nieder, turteln erst aufgeregt, schmusen ein bisschen – und gehen dann aufs Ganze. Zwei Herzen klopfen intensiv, als sich Hannelore und Helmut den ersten Kuss geben. Das war’s dann aber auch. Erst mal. Es ist der Beginn einer Beziehung, die Jahrzehnte anhalten und Geschichte schreiben wird. Vor allem handelt es sich um eine herzergreifende Romanze mit Tiefgang und letztlich lebenslanger Dauer. Trotz allem. 80 Jahre ist das her.
Zum Glück der beiden können die badenden Frauen das kleine Geheimnis nicht preisgeben; denn sie sind stumme Zeugen. Bei den „badenden Frauen“ handelt es sich um Skulpturen, die der Künstler Georg Kolbe aus Muschelkalk schuf. Seit bald neun Jahrzehnten stehen sie im Stadtpark, unweit des Planetariums.
„Keine Ahnung, wann das genau war“, murmelte Helmut Schmidt in der ihm typischen Art auf Nachfrage – und griff dezent verlegen zum Schnupftabakdöschen der Marke Gletscherprise.
Ehefrau Hannelore hatte dieses markante Ereignis etwas präziser im Kopf: „Ungefähr 1934/35 muss das gewesen sein, gut zwei Jahre vor dem Abi.“ Wer führt schon Buch darüber? Geradezu rührend, dass einer wie die andere bei diesem Thema selbst im hohen Alter noch einen Hauch genierlich wirkten. Dann ist aber auch Schluss mit lustig. Loki und Helmut bleiben gute Schulkameraden, verstehen sich auch außerhalb des Unterrichts prächtig, halten sich ansonsten aber zurück. Geht so genau ja auch keinen was an.
Wegen ihrer schlagkräftigen Argumente hat Loki den Spitznamen „Schmeling“
Dass alles überhaupt so kam und noch viel weiter ging, liegt an einem zunächst winzigen Ereignis ein paar Jahre zuvor. Beim Start in der Lichtwarkschule Ostern 1929 freut sich Helmut, alias „Schmiddel“, dass Deerns in der Klasse sitzen. Ganz selbstverständlich sind Mädchen und Jungen in einer Klassengemeinschaft. Auch das ist eine Ausnahme – nicht nur in Hamburg. Außerdem gibt es keine Schulbänke in Reih und Glied, sondern einzeln stehende Tische mit Stühlen. Kunst und Sport werden unterrichtet, Charakterbildung und selbstständiges Arbeiten ebenso.
Mitschülerin Hannelore Glaser, ein hochgewachsenes Mädchen mit Charakter und Chuzpe, fällt durch ihren unbeugsamen Gerechtigkeitssinn auf. Wenn dieser „Loki“ etwas nicht passt, pflegt sie sich entschlossen einzumischen. Was besonders Schulfreund Hermann Paasch schmerzhaft zu spüren kriegt: Bei einer deftigen Prügelei mit Loki ziehen sich beide blutige Nasen zu, doch schafft es Hannelore, den Rabauken zu besiegen. Nach drei oder vier ähnlichen Klarstellungen mittels schlagkräftiger Argumente sind die Fronten in der Sexta geklärt. Der ehrenvolle Spitzname „Schmeling“ ist geboren.
Ein erster Besuch mit Einfluss auf Schmidts politisches Engagement
Helmut lässt es sich nicht anmerken, findet jedoch zusehends Gefallen an ihr. Es folgen eine Einladung zu seinem elften Geburtstag, Hannelores verlorene Kopfbedeckung dort, „Schmiddels“ Fußweg zu den Glasers zwecks Rückgabe dieser Baskenmütze, erste Gefühle vielleicht, jedenfalls immer mehr Sympathie. Vor allem lernt Helmut nach diesem Fußmarsch von Barmbek nach Borgfelde für sein späteres politisches Engagement.
Anlass sind die Lebensverhältnisse der Familie Glaser. Sie wohnen in einer winzigen Zweizimmerwohnung in einem finsteren Hinterhof ohne Strom und Toilette. An der Straße steht kaum ein Baum; dafür herrscht reges Treiben mit Schwarzhändlern und fliegenden Hökern. Hartes Leben für die Erwachsenen, ein Traum für Kinder. Im Vergleich leben die Schmidts in herrschaftlichen Verhältnissen.
Sonnabends ist bei Loki Badetag: Nacheinander steigen die Sprösslinge in den Zinkbottich. Beleuchtet wird, wenn überhaupt, mit Gas. Was dazu führt, dass die von Lokis Vater gelegentlich vom Großmarkt mitgebrachten Blumen schon nach zwei Tagen die Köpfe hängen lassen. Weil Gas ausströmt. Zu allem Überfluss ist es in den beiden kleinen Zimmern auch tagsüber dunkel, weil kaum Licht durch die Fenster fällt. Der elfjährige Helmut, in bürgerlichem Umfeld aufgewachsen, ist zutiefst schockiert, lässt sich dies indes nicht anmerken. „Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen in Hamburg so einfach leben“, gibt er später zu Protokoll. Und: „In meinem Inneren regte sich Widerspruch.“
Trotz Armut und Arbeitslosigkeit kümmern sich Glasers rührend um ihre Kinder
Ganz zart keimt der Wunsch, dass man daran etwas ändern müsse. Daraus wird später ein Wille. Dabei hat Helmut eigentlich gar nicht vor, in die Politik zu gehen. Malerei, Architektur und Geschichte sind seine Steckenpferde. Mit fortschreitendem Alter wächst in ihm die Vorstellung, Städtebauer und Planer zu werden. Doch dies im Moment nur am Rande.
Auch wenn Armut und Arbeitslosigkeit des Vaters Hermann Glaser Sorgen bereiten, kümmern sich die Eltern rührend um Loki und ihre Geschwister. Es zeugt von Mumm und Vertrauen in die Zukunft, dass 1929 mit Rose das vierte Kind zur Welt kommt. Wohlgemerkt: Es herrscht die Weltwirtschaftskrise.
Da 28 Quadratmeter für sechs Personen nun wirklich absolut untragbar sind, nehmen die Glasers einen Wohnungswechsel vor: Mit Leiterwagen, Sack und Pack geht es in eine Wohnsiedlung in Horn. Im Gegensatz zum letzten Umzug kann dieser tagsüber erfolgen. Denn nun sind viele der helfenden Freunde arbeitslos oder nur stundenweise beschäftigt. Was übrigens auch dazu führt, dass die Eltern ausreichend Zeit haben, in der Lichtwarkschule Hand anzulegen.
Für Loki ergibt sich aus dem Umzug ein weiterer Weg zum Unterricht, den sie nach wie vor mit Begeisterung besucht. Sieben Kilometer Luftlinie sind es vom neuen Zuhause zur Lichtwarkschule am Grasweg. Die Strecke führt durch verlassene Schrebergärten in Horn, die wegen des Baus der mehrspurigen Sievekingsallee aufgegeben werden mussten, zum Bahnhof Hasselbrook. Dort pflegt Loki in die Vorortbahn zu steigen und bis zur Haltestelle Alte Wöhr zu fahren.
Es folgt der schönste Teil des Weges, die Passage durch den Stadtpark, morgens früh fast immer in Eile zurückgelegt. Meist an der Seite ihrer Freundin Gesine, Spitzname Gesa, marschiert sie am See vorbei, an der Grüninsel, genießt den Blick auf den Wasserturm, passiert die beiden Muschelkalk-Skulpturen des Künstlers Georg Kolbe. Siehe oben.
Lokis Leidenschaften: Pflanzen – und Zigaretten
1934/1935, zur Zeit des ersten Kusses zwischen Hannelore und Helmut ebendort, haben die Nazis das politische Heft fest in der Hand. Im Juni 1933 durfte die Bürgerschaft letztmals tagen. Im Frühjahr 1934 setzen Arbeitslose die ersten Spatenstiche für die Autobahn 1. Und 1935 wird Jazz im Radio verboten. Signale des Untergangs. Vom drohenden Unheil und den ungeheuren Verbrechen an den Juden jedoch ahnen Loki und Helmut nichts in diesen für sie trotz allem glücklichen Kindertagen.
Umso mehr wächst und gedeiht Hannelores Liebe zum Stadtpark im Norden ihrer Geburtsstadt. Auch im Alleingang, ohne Helmut also, unternimmt sie intensive Spaziergänge abseits der angestammten Wege. Eine Praxis übrigens, die sie auch im hohen Alter beibehält. Als Schülerin hat sie dort ihre ersten Rendezvous nicht nur mit Helmut, sondern auch mit der Pflanzen- und Tierwelt.
Trotz der Begeisterung für alles Grüne gibt es jede Menge Sorgen in ihrem jugendlichen Leben. Zum Beispiel, beim Zigarettenrauchen erwischt zu werden. Diesem Laster huldigt sie seit ihrem zehnten Lebensjahr. Bis zum Ende 2010, wie man weiß. Die ersten Glimmstängel der Marke Greiling Schwarz Weiß zu zweieinhalb Pfennig das Stück pafft Loki hinter einem Baum im Stadtpark. Die Sorte Ernst-August schmeckt ihr besser, doch kosteten drei dieser Zigaretten einen Groschen.
Bisweilen findet sich ein jugendlicher Kavalier, der eine oder zwei Zigaretten spendiert. Der spätere Kettenraucher „Schmiddel“ kann anfangs kaum dazu zählen, frönt er dem Nikotingenuss doch erst seit seiner Konfirmation. Da schenkt ihm ein Onkel eine Packung, und los geht’s. Und wie, bis vor ein paar Tagen noch.
Die Lichtwarkschule – Bildung für Herz und Verstand
Dass Lokis Heimkehr von der Schule nach Hause manchmal länger als die Stunde des Hinwegs dauert, haben immer öfter Helmut Schmidt und sein Bruder Wolfgang zu verantworten. „Lass uns schneller laufen – da hinten kommen die Schmidt-Jungs“, pflegt ihre Freundin Gesa zu rufen. Beide bleiben letztlich allzu gern stehen. Aus gutem Grund: Das Quartett findet spielerisch Interesse aneinander.
Die etwa eine Dekade später folgende Konsequenz für Hannelore Glaser und Helmut Heinrich Waldemar Schmidt ist bekannt. Doch auch Gesa und Wolfgang werden eines Tages heiraten.
An dieser Stelle sei ein Phänomen der Lichtwarkschule angemerkt: Von den rund 600 Absolventen der 1925 gegründeten Oberschule, die bis zur Schließung durch die Nazis 1937 das Abitur schafften, haben etwa 120 „in eigenen Reihen“ Hochzeit gefeiert. Offensichtlich sind nicht nur die schönen Künste studiert worden. Hannelore und Helmut konnten dies bestätigen.
Morgen lesen Sie: Helmut Schmidts Vater Gustav hat Angst um seine Familie. Sein Geheimnis gibt er erst 1933 preis, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.