Jork/Hamburg. Justizsenator Steffen (Grüne) prüft die Schließung der Hamburger Strafanstalt. Kommen die Häftlinge nach Schleswig und Neumünster?

Der berühmteste Gefangene der Hamburger Jugendstrafanstalt Hahnöfersand bei Jork in Niedersachsen war nie dort. „Schau ich zum Fenster hinaus, fließt da durch mein weiches Spiegelbild die Elbe; mach ich die Augen zu, hört sie nicht auf zu fließen, ganz bedeckt mit bläulich schimmerndem Treibeis ... Widerwillig beobachte ich die Krähen, die, scheint’s, eine Verabredung in Stade haben.“ So lyrisch berichtet Siggi Jepsen, Held und Icherzähler in Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“, über seinen unfreiwilligen Aufenthalt auf der Elbhalbinsel gegenüber von Wedel.

Auf den ersten Blick hat sich seit Anfang der 50er-Jahre nicht viel verändert, als Lenz Siggi Jepsen als Strafarbeit hinter Gittern einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ an­fertigen ließ. Wer an einem trüben und regenverhangenen Oktobermorgen das Eingangstor passiert hat, sieht zwar nicht mehr die Elbe, weil die Halbinsel seit den 70er-Jahren eingedeicht ist. Aber Kormorane, Reiher, Bussarde und Enten streifen wie eh und je über Wiesen und Nebenarme der Elbe. Seit 2008 steht die Halbinsel unter Naturschutz.

Der identifizierte Sanierungsbedarf liegt bei 16,5 Millionen Euro

Von dem Gefängnis kommen neben dem fünf Meter hohen Zaun mit aufgesetztem Stacheldraht als Erstes die flachen Backsteingebäude der Werkstätten in den Blick. Sie sind noch weitgehend im Originalzustand aus den 20er-Jahren erhalten. Dass sich so wenig verändert hat auf Hahnöfersand, ist heute das Problem. Vor allem für Justizsenator Till Steffen von den Grünen. „Wir haben einen identifizierten Sanierungsbedarf von 16,5 Millionen Euro. Das wird in den nächsten zehn, 15 Jahren noch deutlich mehr“, sagt Steffen bei einem Ortstermin.

Wie schlimm es um die Bausubstanz steht, zeigt der Besuch im Wirtschaftsgebäude, auch ein Backstein­relikt aus den 20er-Jahren. Zentimeterdicke Risse an den Wänden, zum Teil verfugt und mit einem Datum versehen, das Jahre zurückliegt und nur den Stillstand aller Bemühungen und somit den fortschreitenden Verfall dokumentiert. Wo die Wäsche für die Gefangenen gereinigt und in Uraltregalen gelagert wird, sackt der Boden dort ab, wo das Haus nicht unterkellert ist. „Das arbeitet alles hier“, sagt der Justizvollzugsbeamte ungerührt.

Eine Zelle des nicht sanierten Sicherungs- und Beobachtungstrakts ohne Abtrennung der Nasszelle
Eine Zelle des nicht sanierten Sicherungs- und Beobachtungstrakts ohne Abtrennung der Nasszelle © Hernandez

Seit dem Bau vor 90 Jahren hat sich auch in der Sicherungs- und Beobachtungsstation wenig verändert. Hier kommen die Jugendlichen hin, die gewalttätig gegen Mitgefangene oder Beamte geworden sind oder die auf andere Weise gegen die Regeln verstoßen haben. Hartnäckige Fälle werden bis zu 22 Stunden am Tag in eine Einzelzelle eingeschlossen, in der Klo und Waschbecken nicht abgetrennt sind – heute üblicher Gefängnisstandard.

Moderne Gefängnisbauten verfügen über Schallschutz – im Interesse der Mitarbeiter. Wenn sich in der Sicherungsstation zwei Gefangene stundenlang quer über den Flur lautstark unterhalten, berichtet die Vollzugs­beamtin, braucht man angesichts des starken Halls schon gute Nerven. In den Zellen, in denen suizidgefährdete Gefangene zu ihrem Schutz gefesselt werden können, gibt es Probleme mit der Heizung und Lüftung.

Das „Schmuckstück“ der Vollzugsanstalt ist das Christian-Koch-Haus, ein doppelgeschossiger Backsteinbau mit blau gekacheltem Treppenhaus. Es war bei seiner Eröffnung Ende der 20er-Jahre das Vorzeigeprojekt für zeitgemäßen, reformerischen Umgang mit straffälligen Jugendlichen. „Der Jugendstrafvollzug in Deutschland ist geprägt von Hahnöfersand. Hier ist eine Wiege des modernen Jugendstrafvollzugs“, sagt Steffen, als er über den Flur geht, und es klingt fast etwas andächtig. Aber das Christian-Koch-Haus ist heute das Symbol für den schleichenden Niedergang der Anstalt: seit 2012 geschlossen, wegen der sinkenden Gefangenenzahlen. Heute buchen Filmteams das Haus, wenn sie eine historische „Knast-Location“ suchen.

In der Jugendstrafanstalt sind aktuell nur 106 von 172 Plätzen belegt

Dem Senator ist nicht nach Kintopp zumute. Steffen stehen angesichts der nahenden Schuldenbremse und anderer Baustellen im Justizbereich die Kosten in großen Lettern vor Augen – nicht nur die für die überfälligen Sanierungen, auch die Betriebskosten. Dazu kommt die Unterauslastung der Anstalt – von 172 Plätzen sind nur 106 belegt.

Ein Zentimeter dicker Riss im Wirtschaftsgebäude
Ein Zentimeter dicker Riss im Wirtschaftsgebäude © Hernandez

Dabei werden auf Hahnöfersand 18 qualifizierte Ausbildungsmaßnahmen angeboten, was einen hohen personellen Aufwand bedeutet. Rund 180 Mitarbeiter sind auf der Halbinsel beschäftigt, was nicht einmal zu viel ist, denn Steffen sagt: „Es gibt eine Unterdeckung beim Personal. Wir erreichen nicht die Stärke, die für eine ordentliche Arbeit nötig wäre.“ Hinzu kommen noch die Überkapazitäten der Hamburger Strafanstalten insgesamt – mehr als jede vierte Zelle ist leer.

Das ist die Ausgangslage. Und so kam Steffen auf die Idee, Hahnöfersand ganz zu schließen. Er hat sich schon die Jugendstrafanstalten in Schleswig und Neumünster angesehen und war nicht enttäuscht. Die Idee: Die jugendlichen Gefangenen aus Hamburg werden in Schleswig-Holstein untergebracht, und die weiblichen Gefangenen des nördlichen Nachbarn kommen in die Justizvollzugsanstalt Billwerder. Denn auch die Hamburger Frauen, die noch in einer Teilanstalt auf Hahnöfersand untergebracht sind, ziehen voraussichtlich im Frühjahr nach Billwerder.

Noch ist aber nichts entschieden, die Gespräche mit Schleswig-Holstein dauern an. „Derzeit läuft die Prüfungsphase. Die Frage lautet: Aufgabe des Standorts – ja oder nein?“, sagt Steffen. Aber der Senator macht auch deutlich, dass es bei einem Erhalt wohl trotzdem nicht mehr Geld geben wird.

Die Mitarbeiter sind empört. Bei einer Personalversammlung am gestrigen Donnerstag wehte der Wind für Steffen von vorne. Hahnöfersand ist eine Strafanstalt, mit der sich die Mitarbeiter in hohem Maße identifizieren. Etliche wohnen in der Nähe, andere kommen von weit her, um hier zu arbeiten. Viele sehen gerade hier in der ländlichen Umgebung die Bedingungen für die Jugendlichen, sich zu qualifizieren und in ein straffreies Leben zurückzufinden, als günstig an. Und es gibt Alternativen: Das bald leer stehende Gebäude mit 90 Plätzen, in dem noch die Frauen untergebracht sind, wurde erst 1998 gebaut. Hierhin könnten die Jugendlichen umziehen.

Ein Erhalt wäre also möglich, wenn man will – und genug Geld aufbringt.