Hamburg. Sozialpsychologe Ulrich Wagner über die Gründe und Folgen der Gewalt in Flüchtlingscamps. Warum reicht oft eine Bagatelle?

In den Unterkünften kommen mehrere Faktoren für Gewalt zusammen. Das Abendblatt sprach mit Professor Ulrich Wagner, Sozialpsychologe an der Universität Marburg.

Abendblatt: Warum wird aus einem Streit in Flüchtlingsunterkünften oft eine ausgewachsene Massenschlägerei?

Ulrich Wagner: Die Auslöser sind in aller Regel Bagatellen. Dazu gehört der Zugang zu begrenzten Gütern wie Waschmaschinen und die Verteilung von Essen oder Geld. Die dahinterliegenden Gründe liegen vor allem in den Problemen vor Ort: der Enge, fehlender Privatsphäre, dem Mangel an sinnhafter Betätigung. Bricht ein Streit zwischen Zweien aus, entlädt sich dann der Frust der Anderen in der Teilnahme.

Trägt die Mischung der Herkunftsländer zum erhöhten Gewaltpotenzial bei?

Wagner: Verschiedene Kulturen prallen aufeinander. Man muss sich dabei den Aufbau eines solchen Camps vor Augen halten: Alles ist provisorisch, wie ein Katastrophenschutzquartier bei einer Überschwemmung. Nur leben die Flüchtlinge nicht nur für eine Nacht so, sondern monatelang. Das ist ein dauerhafter Ausnahmezustand. Selbst Menschen, die nicht zu Gewalt neigen, können so explodieren. Wenn Psychologen sich ein Experiment ausdächten, um Menschen schnell aggressiv zu machen, würde es so aussehen.

In größeren Unterkünften scheint auch das Konfliktpotenzial zu wachsen.

Wagner: Prinzipiell ja. Entscheidend ist aber nicht die Größe der Unterkunft, sondern das Fehlen der Privatsphäre. Flüchtlinge brauchen nach traumatischen Erlebnissen einen Schutzraum in dem Sinne, dass sie sich sammeln können. Die permanente Angst, bestohlen zu werden, lässt dies etwa nicht zu. Im Gegenteil führt es zu Isolation. Eine Sicherheit für persönliche Gegenstände, sei es ein abschließbarer Schrank im Zelt, kann bereits Wunder wirken. Dies müsste aus psychologischer Sicht eindeutig Standard sein.

Vermehrt häufen sich auch die Fälle von Belästigungen und Übergriffen gegen Frauen. Lässt sich das Problem lösen?

Wagner: Große Außenbereiche in den Camps und Langeweile schaffen verstärkt Gelegenheit dazu, sich im Ton zu vergreifen. Hier kann der kulturelle Hintergrund verschärfend wirken, weil Macho-Gehabe in einigen Ländern als normal angesehen wird. Gewalt gegen Frauen wird in keinem Kulturkreis akzeptiert, aber kommt quer durch die Nationalitäten vor. Hier muss eine Kultur der Ächtung geschaffen werden.

Können negative Erlebnisse im Camp die spätere Integration verhindern?

Wagner: Die Gefahr besteht durchaus. Dass eine schnelle Verlegung in Folgeunterkünfte förderlich ist, beweist ein simpler Fakt: Der Großteil von Gewalt kommt in Erstaufnahmen vor, danach ist das Zusammenleben deutlich friedlicher.