Hamburg. Der Jurist beurteilte eine Staatsanwältin in herabwürdigender Weise. Die Justizbehörde stoppte ihn. Von Selle erklärt sich.

Es war eine dürre Dreizeilenmeldung aus der Justizbehörde, die in der vergangenen Woche wie eine Bombe einschlug und nicht nur rund um den Sievekingplatz, dem Zentrum der hamburgischen Rechtspflege, die Gerüchteküche anheizte. „Zum 1. Oktober 2015 tritt Generalstaatsanwalt Lutz v. Selle auf eigenen Wunsch in den Ruhestand“, lautete die lapidare Mitteilung. Die Stelle des „Generals“ werde zeitnah ausgeschrieben.

Seitdem wird darüber gerätselt, was den von allen Beobachtern als völlig überraschend eingeschätzten Schritt des Generalstaatsanwalts ausgelöst hat. Von Selle war nicht zuletzt wegen seines Führungsstils und seiner Unerbittlichkeit gerade bei seinen Mitarbeitern sehr umstritten. Andererseits gilt der Chefankläger als pflichtbewusster Beamter mit ausgeprägtem Hang zur Pedanterie. Warum wirft so einer Knall auf Fall die Brocken hin, zumal es lange als ausgemacht galt, dass von Selle eher noch über seinen regulären Pensionstermin 30. November 2016 hin­aus arbeiten wollen würde?

Jetzt stellt sich heraus: Unmittelbarer Anlass für den vorzeitigen Rückzug aus dem Amt ist eine Auseinandersetzung zwischen der Justizbehörde und dem streitbaren von Selle über eine Personalie. Konkret geht es um die Beurteilung, die der Chefankläger über eine Abteilungsleiterin der Staatsanwaltschaft zum Ende ihrer sechsmonatigen Probezeit geschrieben hatte. Nach Informationen des Abendblatts enthielt der Text neben einer fachlichen Bewertung auch Passagen, in der die Oberstaatsanwältin in menschlich-persönlich herabwürdigender Weise beurteilt wurde. Die Beamtin legte Widerspruch gegen die Beurteilung ein und drohte mit rechtlichen Schritten. Die Personalabteilung der Justizbehörde kassierte daraufhin die Beurteilung von Selles mit Billigung von Justizsenator Till Steffen (Grüne).

Von Selle wertete das offenbar als Eingriff in seine Personalhoheit und zog für sich die Konsequenzen. Allerdings gab es nach Abendblatt-Informationen einen politischen Vorlauf, der für die Einschätzung der Reaktion von Selles nicht unerheblich ist. Ausgangspunkt sind die fortgesetzten Klagen aus der Staatsanwaltschaft über den Führungsstil und einzelne Anordnungen von Selles, aber auch das Erscheinungsbild der Staatsanwaltschaft in der Öffentlichkeit, das daraus entstand.

Erster Anwendungsfall der Ankündigung des Senators

Nachdem Steffen im Frühjahr als Senator in die Justizbehörde zurückgekehrt war, soll er in einem Gespräch mit dem Generalstaatsanwalt deutlich gemacht haben, dass er seinen justizpolitischen Kurs nach außen stets unterstützen werde, andererseits den ruppigen Führungsstil von Selles nicht toleriere, weil er das Klima in der Staatsanwaltschaft beschädige. „Nach innen eng führen“, soll die Ansage des Senators an den weisungsgebundenen Generalstaatsanwalt gelautet haben. Er werde, so Steffen angeblich, von den Möglichkeiten der Dienstaufsicht notfalls Gebrauch machen.

Aus Sicht von Selles war der Stopp seiner Beurteilung für die Staatsanwältin durch die Justizbehörde der erste Anwendungsfall der Ankündigung des Senators. Nach ähnlichen Vorfällen hatte Steffen-Vorgängerin Jana Schiedek (SPD) den „General“ lediglich zu mehr „Konzilianz“ aufgefordert.

Von Selles vorzeitiger Abgang ist auch das Ende einer ungewöhnlichen Liaison. Es war ausgerechnet der linke Grüne Steffen, der den konservativen Hardliner von Selle 2009 ins Amt holte. Es war die Zeit der schwarz-grünen Koalition, aber von Selle war nicht der Favorit der CDU, was vielleicht nahe liegend gewesen wäre. Drei Bewerbungen hatte es für die Stelle des Generalstaatsanwalts gegeben. Die Union favorisierte einen Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, der aber in der Präsentation einen eher schwachen Eindruck hinterlassen haben soll. Auch der Leitende Oberstaatsanwalt Ewald Brandt soll nicht alle Anwesenden überzeugt haben, während sich der Dritte, von Selle, nach Einschätzung eines Teilnehmers glänzend präsentierte. Steffen entschied sich für von Selle – seine Berufung war für Außenstehende ähnlich überraschend wie seine jetzige Ankündigung zum Rückzug.

Von Selle und der Fall Gysi

Möglicherweise haben die Umstände, die zur Demission von Selles führten, bei dem als prinzipienfest geltenden Chefankläger doch Verletzungen hinterlassen. Zunächst war von allen Seiten glaubwürdig abgestritten worden, dass der Streit über die Frage einer Anklageerhebung im Fall des Linken-Bundestags-Fraktionschefs Gregor Gysi bei von Selles Rückzug eine Rolle gespielt habe. Von Selle hatte den ermittelnden Staatsanwalt, der das Ver­fahren einstellen wollte, angewiesen, Anklage zu erheben. Über die Remonstration (Einwendung) des Beamten hat Justizsenator Steffen noch nicht entschieden. Nachdem Steffen jetzt in einem Interview folgerichtig behauptet hatte, der Fall Gysi habe bei der Entscheidung von Selles keine Rolle gespielt, soll der den Senator angerufen haben. Der „General“ soll gefragt haben, wie Steffen auf diese Behauptung komme. Merkwürdig nur: Vom Fall Gysi war vorher nie die Rede ...

Von Selle nahm zu den Vorwürfen am Donnerstag wie folgt Stellung: "Es ist unzutreffend, dass eine Mitarbeiterin in herabwürdigender Weise beurteilt wurde. Es ist weiter unzutreffend, dass die Justizbehörde eine Beurteilung 'gestoppt' oder 'kassiert' hat.“