Hamburg. Der umstrittene Generalstaatsanwalt schweigt über seine Gründe – Kollegen sind erstaunt. „Wir sind wie vom Donner gerührt.“

Die Nachricht, dass Lutz von Selle im Oktober vorzeitig in den Ruhestand geht, kam für die Staatsanwaltschaft am Dienstag völlig überraschend. Bis zuletzt wurde gemunkelt, dass der „General“ noch viel länger im Amt bleiben wolle – sogar über den 30. November 2016 hinaus. An diesem Tag wäre der 64-Jährige regulär in den Ruhestand gegangen.

„Wir sind wie vom Donner gerührt“, sagte ein Staatsanwalt dem Abendblatt. Wie üblich bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit von Selle will auch er namentlich nicht genannt werden. Offiziell heißt es zu der Personalie von der Staatsanwaltschaft: „Herr von Selle hat eine autonome Entscheidung getroffen, ohne Druck. Er wird dafür seine Gründe gehabt haben. Wenn er den Wunsch gehabt hätte, sie zu nennen, hätte er es getan“, sagte Sprecherin Nana Frombach.

Noch Ende vergangener Woche hatte von Selle nach Abendblatt-Informationen voller Tatendrang gesteckt. So hatte er eine neue Initiative in Sachen Wohnungseinbruchsdiebstahl gestartet. Demnach sollten, so die Vorstellung des Generals, von Seiten der Anklagebehörde bei diesem Delikt höhere Strafen als bisher angestrebt werden. In einer Mail vom Freitag setzte er seine Mitarbeiter in Kenntnis, dass ihm nach den Hauptverhandlungen die entsprechenden Akten vorzulegen seien, damit er auswerten könne, wie die Amtsgerichte mit dem Delikt umgehen. Noch am Montagnachmittag hatte es eine weitere Mail gegeben, in der er seine Anweisung konkretisierte.

Das klang so gar nicht nach geplantem Ruhestand. Umso mehr wurden die Staatsanwälte von der Meldung überrascht. Über die Gründe herrsche „großes Rätselraten“, hieß es.

Nun geht Hamburgs umstrittener Chef-Ankläger vorzeitig in den Ruhestand. Ausgerechnet er, dem der Ruf vorauseilte, ein Hardliner, Pedant und Aktenfresser zu sein. Und der auch deshalb immer wieder aneckte – nicht nur bei Mitarbeitern seiner eigenen Behörde, sondern auch bei Richtern, Verteidigern und der Polizei.

Mit seinem straffen Führungsstil soll von Selle eine ganze Reihe, auch erfahrene Staatsanwälte, gegen sich aufgebracht haben. Allein das rigorose Abwatschen von Dezernenten vor versammelter Mannschaft sorgte intern für große Empörung. Legendär ist beispielsweise die über den Gesamtverteiler der Staatsanwaltschaft geäußerte, harsche Kritik an einem Dezernenten, weil der in einem Wirtschaftsverfahren der vom Richter empfohlenen Einstellung des Verfahrens zugestimmt hatte. Viele Staatsanwälte empfanden das als Maßregelung. Die Hilferufe aus der Behörde erreichten auch Steffens Vorgängerin, Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD), die darauf den „General“ zu „mehr Konzilianz“ aufforderte.

Unter von Selles Ägide wurde vor allem eisern durchverhandelt, selbst wenn es hier und da Sinn gemacht hätte, eine langwierige und teure Verhandlung durch einen Deal abzukürzen. Namhafte Verteidiger wie Andreas Thiel beklagten im Abendblatt, dass sich die Staatsanwaltschaft zunehmend Kompromisslösungen verschließe. Hinzu kamen Verfahren, die mit irritierender Verve, ja Verbissenheit, geführt wurden. Wie jenes gegen den als Anwalt der linken Szene bekannten Strafverteidiger Andreas Beuth. Beuth hatte einen gelben Signalgeber (ohne Munition), der unters Waffengesetz fällt, als Beweisstück mit in den Gerichtssaal gebracht. Zahlreiche Anwälte sprangen darauf ihrem Kollegen zur Seite und beschwerten sich bei von Selle. Doch der zeigte, wie gewohnt, harte Kante. Beuth wurde angeklagt. Die Verhandlung? Eine Farce. Nach ultra-kurzem Prozess wurde Beuth freigesprochen. Die Liste ließe sich weiter fortsetzen.

All die großen und kleinen Scharmützel waren nichts im Vergleich zum letzten Eklat, der bundesweit Schlagzeilen machte: Von Selle bestand darauf, dass Linken-Fraktionschef Gregor Gysi wegen falscher eidesstattlicher Versicherung angeklagt wird, doch der zuständige Dezernent weigerte sich, weil er nach jahrelangen Ermittlungen keinen „hinreichenden Tatverdacht“ mehr sah. Dabei erhielt er sogar von Behördenleiter Ewaldt Brandt Rückendeckung, der sich damit gegen von Selle stellte. In der Folge „remonstrierte“ der Dezernent die Weisung von Selles. Mit der Frage, ob die Weisung rechtmäßig war, beschäftigt sich weiterhin eine Fachabteilung der Justizbehörde.