Hamburg. 25 Jahre nach der Premiere geht das Musical im Herbst zum letzten Mal über die Bühne. Warum drei Mitarbeiter immer dabei waren.

Die Betonung auf der ersten Silbe lässt den Insider erkennen. Hinter den Kulissen des Theaters spricht man, anders als die meisten Besucher, vom „Phan-tom“, wohl angelehnt an die englische Betonung. Seit mehr als zwei Jahrzehnten arbeiten Nili Siebler, Janina Bachmann und Carsten Gerloff in der Neuen Flora, sie haben die Anfänge des erfolgreichsten Musicals der Welt, des „Phantoms der Oper“, in Hamburg miterlebt. Nach Tausenden Vorstellungen gibt es Sätze, die den Mitarbeitern für immer im Kopf bleiben. „Es ist nicht mehr wie früher, Raoul“, sagen alle drei unisono, ein Dialog zwischen Christine Daée und ihrem Geliebten. Wie früher wird es tatsächlich bald nicht mehr sein, 25 Jahre nach der Premiere in Hamburg wird das „Phantom“ Ende September abgesetzt und zwei Monate später durch das Disney-Stück „Aladdin“ ersetzt.

1990 war ein Großteil des Teams sehr jung. „Früher war viel Party, heute mehr Familie“, fasst Janina Bachmann zusammen. Genau wie Bühnentechnikerin Nili Siebler hat die stellvertretende Leiterin der Maske ihren Mann in der Neuen Flora kennengelernt. „Ich war die Erste im Haus, die schwanger geworden ist“, sagt Siebler. Der Sohn der heute 45-Jährigen spielte später, als in der Neuen Flora kurzzeitig und mit mäßigem Erfolg „Titanic“ gezeigt wurde, die Rolle des jungen Jack. Das „Phantom“ von Andrew Lloyd Webber wurde 2001 abgelöst. 2013 kehrte es dann wieder in die Flora zurück.

Demonstranten protestierten bei Premiere gegen die „Yuppiesierung“

Der Erfolg des Musicals zeichnete sich bei der Premiere 1990 noch nicht ab, zumindest nicht vor der Tür des Theaters. Der ursprüngliche Plan, die Rote Flora zum Spielort zu machen, war an Protesten gescheitert. Investor Friedrich Kurz ließ daraufhin mit Unterstützung der Stadt an der Ecke Alsenstraße/Stresemannstraße die Neue Flora bauen – dort sei man dem Neubau gegenüber gleichgültiger.

Dass dem nicht so war, zeigte sich schon Tage vor der ersten Vorstellung, bis die Situation am Premierentag eskalierte. Nili Siebler und Carsten Gerloff waren am 29. Juni 1990 dabei. „Die erste Premiere ist etwas ganz Besonderes“, sagt Gerloff, der mit damals 18 Jahren einen Nebenjob an der Kasse angenommen hatte. Als besonders ist die Premiere auch in die Geschichte der Polizei eingegangen, allerdings im negativen Sinne. Während drinnen die Darsteller auf ihren Auftritt warteten, protestierten vor der Tür Demonstranten zunächst mit Sitzblockaden und Sprechchören gegen die „Yuppiesierung“ des Viertels. Die Polizei ging mit Wasserwerfern gegen die Menschen vor, die mit Farbbeuteln, Eiern und Tomaten warfen, Autoscheiben zerschlugen und Theatergäste die Treppen hinunterschubsten. Videoaufnahmen zeigen eine Besucherin, die schreiend am Boden liegt, sie hat einen ihrer Leopardenmuster-Pumps verloren.

Im Vorderhaus erlebte Carsten Gerloff die Gäste, die sich schließlich durch die aufgebrachten Demonstranten gedrängt hatten. Heute muss er bei der Erinnerung lachen. „Einige waren schockiert“, sagt er. Aber viele hätten den Aufruhr aufregend gefunden. „Sie waren fast beleidigt, wenn sie nichts von den ,coolen‘ roten Farbklecksen abgekriegt hatten.“ Bei einer Silvestervorführung wollte man die Sicherheitsmaßnahmen erhöhen. „Jemand hatte mit einem Buttersäureanschlag gedroht. Wir haben Fluchtbalken bekommen, mit denen wir im Notfall die Türen verbarrikadieren sollten.“ Passiert ist nichts.

Viele Mitarbeiter sind auch nach zwei Insolvenzen noch immer im Team

Hinter der Bühne war von den Krawallen am Premierentag nichts zu spüren, sagt Siebler. „Die Atmosphäre war toll. Ich war stolz darauf, dabei zu sein, es hat mich gar nicht interessiert, wer das gut oder schlecht findet.“ Carsten Gerloff gibt ihr Recht: „Meine Arbeit galt als coolster Nebenjob der Stadt.“

Während die Premiere dagegen für die Polizei mit Krawall begann und für viele Anwohner ein schwarzer Tag war, gab es für die Mitarbeiter andere Momente, die mehr an die Substanz gingen. Wie die beiden Insolvenzen, die das Team unter der Geschäftsführung der Stella AG mitmachte. „Das waren weniger schöne Zeiten“, sagt Bachmann. Andererseits: „Ich habe bei meiner Hochzeit davon erfahren und war schwanger. Da konnte mich nichts erschüttern“, sagt sie. Carsten Gerloff erinnert daran, wie der Insolvenzverwalter auf die Bühne kam, um die schlechte Nachricht zu überbringen, während die Mitarbeiter im Publikum saßen. „Alle haben geklatscht. Keiner hat verstanden, was gerade passiert.“

13 Jahre nach Übernahme durch Stage Entertainment sind sie noch dabei. Das „Phantom der Oper“ haben die meisten Mitarbeiter ungezählte Male gesehen. „Während so einer Show erhält man große Achtung vor der Leistung der Darsteller“, sagt Bachmann. Wenn man dann hinter der Bühne von den gestressten Darstellern geschubst oder angefahren wird, schluckt man das. „Das Phantom ist einmalig. Es ist das umfangreichste Stück, das es maskentechnisch gibt, deshalb haben wir früher auch ausgebildet.“ Natürlich gibt es Szenen, die man nach 25 Jahren nicht mehr sehen kann. „Christine und Raoul auf dem Dach ...“, sagt Carsten Gerloff nur und rollt mit den Augen. Und von „Bravo, Christine“, bekomme sie sogar im Urlaub urplötzlich einen Ohrwurm, sagt Janina Bachmann.

Anfangs sorgte noch Anna Maria Kaufmann für Ohrwürmer, inzwischen ist es Valerie Link. Die gebürtige Freiburgerin ist die letzte „Christine“ der Neuen Flora. Von Mittwoch bis Sonntag steht sie auf der Bühne, dazwischen lebt sie bei ihrem Mann in Stuttgart. Im Jahr 2000 nahm Link, damals noch in der Ausbildung, anlässlich des zehnten Geburtstags der Neuen Flora an einem „Christine“-Wettbewerb teil – und gewann. Colby Thomas, die damalige Hauptdarstellerin, saß in der Jury.

Andrew Lloyd Webber schrieb extra für Link eine neue Kadenz für „Denk’ an mich“, die er per E-Mail schickte. Am Ende bleibt es bei der alten Version. „Die war geläufiger. Aber die Mail habe ich bis heute in einer Schublade.“ Mit 35 Jahren ist Link eigentlich zu alt für die Rolle der 19-jährigen „Christine“. Passender wäre die Fortsetzung, „Liebe stirbt nie“, die zehn Jahre später spielt und im Herbst „Rocky“ im Operettenhaus ablöst ... Link steht in der engeren Auswahl.

Auch in der Neuen Flora ist dann Zeit für ein neues Stück. „Aladdin“ statt „Phantom“. Spektakel im bunten Orient statt Mysterium in der Pariser Unterwelt. „Das ,Phantom‘ unterscheidet sich von allen anderen Stücken dadurch, dass es einer richtigen Oper ähnelt“, sagt Bachmann. In den ersten Jahren zeigte sich das auch bei den Besuchern deutlich. „Man kam in Abendkleid und Frack. Es war ein riesiges Event“, sagt Gerloff, der sich Anfang der 90er-Jahre im Vorderhaus noch am Champagner „totverkauft“ hat. Wie früher ist es in der Neuen Flora tatsächlich nicht mehr. Heute wird viel Sekt ausgeschenkt.