Musicals ziehen mehr Zuschauer an als alle Sprechbühnen zusammen. „Das Wunder von Bern“ hat an diesem Sonntag Weltpremiere. Es ist das neueste Kapitel einer Erfolgsgeschichte der Stadt.
Der 18. April 1986 war ein Freitag. Draußen regnete es in Strömen, drinnen im Foyer des Operettenhauses am Spielbudenplatz floss der Champagner. Und Hamburg „hielt angestrengt Ausschau nach Prominenz, sofern man nicht selbst dazu gehörte“, schrieb damals ein junger Musikkritiker in der „Zeit“ über den Premierenempfang vor dem ersten Auftritt der Katzen. Dann filetierte er dieses erste „richtige“ Musical, das ein gewisser Friedrich Kurz an die Elbe gebracht hatte, mit dem feuilletonistischen Säbel: „Cats hat nämlich erstens so gut wie keine Handlung, und zweitens bewegen sich dort nur Menschen, die eben Katzen spielen und nicht Menschen. Ein Tier zu verkörpern, das noch dazu so üppig geschminkt und kostümiert ist wie eine ,Cats‘-Katze, ist eine mit Hilfe schauspielerischer Technik verhältnismäßig leicht zu lösende Aufgabe, deren Ergebnis ein Publikum schnell überzeugt ...“
Der Kritiker war damals nicht der Einzige, der augenscheinlich „litt“. Nein, Hamburg war entsetzt – jedenfalls die kulturbeflissenen Hanseaten, die „Cats“ als ein Machwerk aus den abgrundtiefen, kommerziellen Niederungen der Belanglosigkeit empfanden – auch wenn Angelika Milster in der Rolle der Grizabella rasch verehrt wurde. Gute 28 Jahre später sind diese Dünkel zwar noch immer nicht ganz verflogen, aber die Stadt selbst hat sich von diesem Kulturschock erholt, und wie: Noch in diesem November wird mit der Weltpremiere des Musicals „Das Wunder von Bern“ im neuen Theater an der Elbe die vierte große Musicalbühne eröffnet. Und wenn diesem Stück ein ähnlicher Erfolg beschieden sein sollte wie Disneys „König der Löwen“ gleich nebenan im Theater am Hafen, dürften sich zu den Aufführungszeiten die Barkassen an den Landungsbrücken noch mehr drängeln, als sie es heute eh schon tun: Dann müssen voraussichtlich 1,2 Millionen statt bisher 700.000 Zuschauer pro Jahr über den Strom geschippert werden.
Hinter dem Musical-Boom steckt in erster Linie die Firma Stage Entertainment des Niederländers Joop van den Ende. Allein ihre drei Hamburger Produktionen werden jedes Jahr von zwei Millionen Menschen besucht. Disneys „König der Löwen“ läuft dabei bereits seit 2001, und seit dem vergangenen Jahr geistert auch das „Phantom der Oper“, das sein Unwesen schon von 1990 bis 2001 hier trieb, erneut durch die Neue Flora. 2012 startete zudem „Rocky“ im Operettenhaus und boxte sich schnell nach oben (das Stück wurde im Frühjahr 2013 sogar an den Broadway exportiert, wo es nach 200 Vorstellungen jedoch wieder aus dem Programm flog). Und jetzt warten die Fans gespannt darauf, ob nach einem Boxring bald auch ein ganzes Fußballstadion als Bühnenbild herhalten muss – für das „Wunder von Bern“.
Als das mit Abstand erfolgreichste Musical in Hamburg gilt „Der König der Löwen“. Fast zehn Millionen Zuschauer haben diese Show seit der Deutschland-Premiere am 2. Dezember 2001 gesehen. Damit hat sie die Klassiker „Cats“ (6,2 Millionen) und „Phantom der Oper“ (6,8 Millionen) weit überholt. Doch weil die Anzahl der Zuschauer unter anderem von der Zahl der Sitzplätze im jeweiligen Theater sowie der Anzahl der gespielten Vorstellungen abhängt, kann sie nicht das alleinige, ausschlaggebende Kriterium für den Erfolg eines Stücks sein. Der bemisst sich auch anhand von Faktoren wie Produktionskosten, Anzahl der Darsteller, Orchestergröße, erzielte Durchschnittspreise sowie eine mögliche Weiterverwertung.
Gerade deshalb darf man das im Verhältnis viel kleinere Schmidt-Theater am Spielbudenplatz im Konzert der Großen nicht überhören. „Die Aufführungszahlen für unser Musiktheaterstück ,Heiße Ecke‘ sind geradezu absurd“, sagt Schmidt-Chef Corny Littmann, heute der einflussreichste unter den Pionieren der niveauvoll-schrägen Unterhaltung im Rotlichtbezirk St.Pauli. „Nach elf Jahren Laufzeit kratzen wir an der Zwei-Millionen-Marke. Vor gut zwei Monaten wurde die 3000. Vorstellung gefeiert. Unsere ,Villa Sonnenschein‘ bringt es inzwischen auch auf annähernd 600 Vorstellungen. Und für ,Die Königs vom Kiez‘ sage ich eine ebenso lange Laufzeit voraus wie für die ,Heiße Ecke‘.“
Erfolgreiche Musicals rechnen sich also – vor allem für die Stadt. Denn pro Jahr geben die Zuschauer zusätzlich zu den Kosten ihres Theaterbesuchs (Eintrittskarten, Garderobe, Programmhefte, Merchandising, Bar und Gastronomie innerhalb des Theaters) mindestens weitere 600 Millionen Euro aus: für Anreise, Hotels, Restaurants, Einkäufe, den Nahverkehr und andere Veranstaltungsbereiche. Auch wenn der Musicalbesuch zumeist der primäre Anlass für eine Reise an die Elbe ist, zeigt die Mehrheit der Gäste (nach einer von Hamburg Tourismus in Auftrag gegebenen Studie) zudem Interesse an Museen, Ausstellungen, anderen Theatern. 95 Prozent der Städtetouristen, die für diese „kulturelle Wechselwirkung“ sorgen, kommen übrigens aus dem Inland; die meisten aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.
Darüber hinaus zählt die Musical-Branche inzwischen zu den 30 größten Arbeitgebern in der Stadt: Die Stage Entertainment AG allein beschäftigt derzeit rund 1000 Menschen. Und an der Großen Freiheit eröffnete im Dezember vergangenen Jahres die neue Zentrale des „Show-Weltmeisters auf den Weltmeeren“ – das Aida-Entertainment-Haus. Hier laufen auf sieben Etagen mit insgesamt 4360 Quadratmeter Fläche alle Fäden des gesamten Unterhaltungsprogramms der Aida-Kreuzfahrtflotte zusammen; hier werden nicht nur neue Shows entwickelt, sondern auf den vier Probebühnen auch gleich einstudiert. Eine hauseigene Kostümschneiderei fehlt ebenso wenig wie ein inzwischen riesiger Fundus. „Kein Unternehmen in Europa produziert mehr Live-Unterhaltung am Tag als wir“, sagt der zuständige Geschäftsführer Borris Brandt, „nämlich 2760 Minuten oder 46 Stunden am Tag. Über 800 Kollegen an Bord sorgen für beste Unterhaltung. Und das alles entwickeln wir hier in Hamburg – mit höchsten Ansprüchen an Qualität und Vielfalt.“
Für die Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler steht schon seit Längerem fest: „Musicals sind ein zentraler Bestandteil im kulturellen Leben unserer Stadt.“ Und da diese Publikumsmagneten ohne staatliche Subventionen arbeiten müssen, kommt der Politikerin dieser Satz vermutlich sehr leicht über die Lippen. Eine ihrer Vorgängerinnen, die ebenfalls parteilose Helga Schuchardt, hätte sich in ihrer Amtszeit Mitte der 80er-Jahre mit solch einem Bekenntnis wohl kräftig den Mund verbrannt. Die klassische Operette war schließlich mausetot, das ehrwürdige Operettenhaus am Spielbudenplatz abbruchreif, denn auch Freddy Quinns zwei Jahre währender Versuch, die marode Bühne mit Revueprogrammen zu retten, war grandios gescheitert.
Mithilfe von Sponsoren sanierte Friedrich Kurz das Operettenhaus
Doch dann tauchte plötzlich dieser Friedrich Kurz auf. Ein Provinzler aus dem beschaulichen Nürtingen, der keineswegs erfolglos schon als Fußballprofi (in den USA) und als Skilehrer gearbeitet hatte, der sich inzwischen im Filmgeschäft umtrieb, der als „hervorragend vernetzt“ galt und, was noch viel wichtiger war, ein Fass voller Ideen vor sich her rollte. Dieser irgendwie genialische Tausendsassa, zu dessen wichtigster Charaktereigenschaft nach eigenem Bekunden die „Renitenz“ zählt, schaffte es, die Kultursenatorin von seiner Vision zu überzeugen: „Warum sollen Musicals, die in New York oder London funktionieren, nicht auch in Deutschland erfolgreich sein?“
Nach unzähligen „Geheimverhandlungen“ erhielt Kurz das Operettenhaus vorerst zum Nulltarif (was der Stadt monatlich 50.000 Mark Unterhaltskosten ersparte). Er sanierte es mithilfe von Sponsoren und konnte nun die Katzen loslassen; das weltweit erfolgreiche Musical seines Londoner Freundes Andrew Lloyd Webber. „Das alles war wie ein Wunder“, sagte Friedrich „Fritz“ Kurz viele Jahre später dem Hamburger Abendblatt, „man gab meinen Katzen damals gerade sechs Monate. Es wurden schließlich fast 15 Jahre.“ Schon wenige Monate nach der Premiere galt er als „Musical-Mann“, der einerseits geliebt und hofiert, andererseits für die „McDonaldisierung“ der Kultur von den Feuilletons geächtet und angefeindet wurde. Doch Kurz baute unverdrossen den telefonischen Ticketverkauf aus, gründete sein Unternehmen Stella, schloss weitreichende Kooperationen mit Hotels, Reiseunternehmen, der Deutschen Bahn und eroberte nebenbei Bochum mit dem „Starlight Express“ – der dort bis heute mit großem Erfolg gespielt wird.
Für sein nächstes Hamburger Prestigeprojekt, das „Phantom der Oper“, musste er aber wieder lange kämpfen. Und die erbittert geführten Auseinandersetzungen um die geplante Spielstätte für das schwülstige Liebesdrama in den Katakomben unterm Pariser Opernhaus beherrschten bald monatelang die Schlagzeilen in der Stadt – und stürzten den Hamburger Senat unter dem damaligen Ersten Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) in eine tiefe Krise. Schuld daran trug im Grunde der Komponist Andrew Lloyd Webber. Dem Engländer hatten nämlich die Graffiti an der Flora am Schulterblatt im Schanzenviertel so gut gefallen, dass er die Premiere seines „Phantoms“ unbedingt in diesem ehrwürdigen Konzerthaus aus dem Jahre 1888 feiern wollte. Dort, wo die Hamburger Kaufmannsfamilie Kertscher viele Jahre ihr lukratives 1000-Töpfe-Geschäft betrieb, hatten nämlich schon die Don Kosaken gebrummt; waren unter anderem Claire Waldorff, Zarah Leander und Hans Albers aufgetreten. Kurz plante daraufhin, das Gebäude bis auf die Fassade abreißen und in ein Musicaltheater mit 2000 Plätzen verwandeln zu lassen. Und der Hamburger Senat unterstützte anfangs das Projekt, lieferte ihm alle erforderlichen Genehmigungen im Eiltempo. Keiner der Beteiligten schien sich an den Titel jener Revue zu erinnern, die bereits im Jahre 1921 in der „Flora“ aufgeführt worden war: „In Hamburg ist der Teufel los“.
Hamburger Bürger liefen Sturm gegen Theater-Pläne der Stadt in der „Flora“
Mit Beginn der Abrissarbeiten und weil eine 100 Jahre alte Linde gefällt wurde, begann knapp 70 Jahre später im „Chancenviertel“ die Wiederaufführung dieser Revue. Allerdings fand dieses Remake auf der Straße statt. Autonome, Stadtteilaktivisten und sogenannte brave Bürger demonstrierten plötzlich Seite an Seite vor dem Bauzaun gegen eine „Giganto-Kommerzkultur in Betonleichtbauweise“. Mit Flugblättern, spontanen Kundgebungspartys, Eiern, Molotow-Cocktails, Flaschen und Feuerwerkskörpern liefen sie Sturm gegen die Theater-Pläne, besetzten das Baugelände, errichteten ein Hüttendorf und drohten unverhohlen damit, jeden Stein zurückzuschmeißen, der abgerissen wird.
Dem Hamburger Senat, noch immer unter dem Schrecken der langjährigen Hafenstraßen-Erfahrungen, blieb nichts anderes, als zurückzurudern. Zunächst versagte er Kurz die Erteilung der endgültigen Baugenehmigung, dann machten sich Voscherau und Co. auf die Suche nach einer Kompromisslösung, die an der Ecke Stresemann- und Alsenstraße auch bald gefunden wurde. Am 29. Juni 1990 feierte das „Phantom“ seine Premiere in der extra erbauten „Neuen Flora“ – und das mit zwei Weltstars in den Hauptrollen: Anna-Maria Kaufmann und dem Wagner-Tenor Peter Hofmann. Trotzdem kam es zum Skandal, denn nicht wenige Gemüter im Schanzenviertel hatten sich auch mit dem neuen Standort nicht anfreunden können. „Ich warnte Lloyd Webber, der an diesem Abend dabei war, vor der demonstrierenden Masse von gewaltbereiten Menschen“, erzählte Friedrich Kurz später, „doch er sagte: ,Fritz, du hast dieses Theater gebaut, und wir werden es durch den Haupteingang betreten!‘“ An jenem sonnigen Juniabend wurde Hamburgs Hautevolee mit einem Hagel aus Eiern und Farbbeuteln empfangen. Trotz dieses Auftakts wurde das „Phantom der Oper“ ein gigantischer Erfolg für die noch junge Musical-Szene in Deutschland. Und der Boom sollte erst richtig beginnen.
„Das Wunder von Bern“ basiert auf dem preisgekrönten Film Sönke Wortmanns
Ausgerechnet Kurz aber sollte bei der Ernte leer ausgehen. Sein Stella-Imperium verglühte rund zehn Jahre nach der „Cats“-Premiere – trotz fantastischer Zuschauerzahlen. Denn in Berlin produzierte der expansionsbesessene Mann mit den Musicals „Carrie“ und „Marlene“ zwei Flops, die ihn Millionen kosteten, und auch seine Ausflüge ins Filmgeschäft reüssierten nicht. Außerdem wurde unternehmensintern nicht nachhaltig genug gewirtschaftet. Am Ende war Kurz, der zwischen Deutschland und seinem Zweitwohnsitz Sundance im amerikanischen Bundesstaat Utah hin und her pendelte, gezwungen, seine Stella-Anteile an den Stuttgarter Investor Rolf Deyhle zu verkaufen. Als ihm sein Freund Robert Redford dann auch noch seine Lebensgefährtin, die Hamburger Malerin Sibylle Szaggar, ausspannte, „brach alles um mich herum zusammen. Ich musste mich aufgrund ihrer falschen Anschuldigungen nach der Trennung vor einem Mormonen-Gericht verantworten, verlor in einem unfairen Prozess unglaublich viel Geld, zwei Häuser und Pferde.“ Im Grunde war es der perfekte Musical-Stoff. In den letzten Jahren fand Kurz nach einem „Erweckungserlebnis“ in Dänemark (damals war er mit der Sängerin Gitte Haenning zusammen) zum Glauben an Jesus Christus. „Ich bin dadurch ein anderer Mensch geworden und sicher, dass Gott in meinem Leben schon immer Regie geführt hat.“
An den deutschen Musicaltheatern führt seit dem Jahr 2000 die Stage Entertainment unangefochten Regie, seit sie die Musicalanteile der Stella übernahm und binnen eines Jahrzehnts die Industrialisierung der leichten Muse perfektionierte. „Man spürt zwar noch immer, dass es hier und da Vorbehalte gegen Musicals gibt. Sie sind aber aus Deutschland nicht mehr wegzudenken“, sagt Helmut Baumann, der 15 Jahre Intendant des Theaters des Westens in Berlin war und mit dem „Ball im Savoy“ zurzeit eine Operette aus den 30er-Jahren in der Komischen Oper inszeniert. „Kein Stadttheater kann heute mehr ohne Musicals auskommen, daher ist auch die Ausbildung inzwischen an vielen staatlichen Hochschulen erstklassig. Wir haben jedenfalls keine Nachwuchssorgen.“ Baumann glaubt jedoch, dass freche, auch durchaus sozialkritische Stoffe über kurz oder lang die großen Ausstattungsstücke und Schmonzetten ablösen werden.
Bereits heute gilt: Musicals ziehen mittlerweile innerhalb eines Jahres mehr Zuschauer an als alle klassischen Sprechbühnen in Deutschland zusammen – oder die gesamte Fußball-Bundesliga, womit sich der Kreis zum Fußball schließt und die Frage gestellt werden muss: Wie will Stage Entertainment das 3:2, „das Wunder von Bern“, das sich 1954 im Berner Wankdorfstadion zwischen Deutschland und Ungarn abspielte, auf eine Musicalbühne bringen? „Jedenfalls nicht mit einem Fußballstadion“, verrät Regisseur Gil Mehmert, der auch für das Buch der Bühnenfassung verantwortlich ist.
Das Ganze basiert ja auf dem vielfach preisgekrönten Spielfilm von Sönke Wortmann aus dem Jahre 2003. „Die herzergreifende Familiengeschichte aus dem Ruhrpott im Nachkriegsdeutschland bietet genügend großartige Theatermomente auch abseits des Fußballfelds“, sagt Mehmert. Und Stage-Entertainment-Eigner Joop van den Ende fügt hinzu: „Kaum ein Ereignis hat die Deutschen so positiv geprägt wie dieses. Die Hoffnung der Menschen auf ein besseres Leben, eine Nation im Aufbau und ein einzigartiger Moment, der dem ganzen Land neuen Lebensmut bescherte.“ Und der Stadt Hamburg von diesem Sonntag an vielleicht noch einige Hunderttausend Musicalgäste mehr.