Hamburg. Verdachtsunabhängige Polizeikontrollen verstoßen laut Urteil gegen das Grundgesetz. Gefahrengebiete stehen vor dem Aus. Erste Reaktionen.
Folgenreiche Entscheidungen für die Hamburger Polizei: Die Einrichtung sogenannter Gefahrengebiete ist nach einem Urteil des Hamburger Oberverwaltungsgerichtes verfassungswidrig. Passanten in den Gebieten ohne konkreten Verdachtsmoment zu kontrollieren, bedeute einen unzulässigen Eingriff in die Grundrechte.
Die Richter gaben damit der Klage von Claudia Falke, einer Anwohnerin des Schanzenviertels statt. In der Nacht zum 1. Mai 2011 war sie von Polizisten innerhalb eines Gefahrengebiets in der Eifflerstraße kontrolliert und in Gewahrsam genommen worden. Bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Einsatzkräften waren in jener Nacht elf Polizisten verletzt worden. Bereits in erster Instanz hatten die Richter festgestellt, dass sie zu Unrecht für mehrere Stunden festgehalten worden war.
Polizeipräsident will Änderungen "schnell und sorgfältig" prüfen
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer versprach in einer ersten Reaktion, den Hinweisen der Richter zu folgen. „Angesichts der vom Gericht geäußerten Zweifel besteht jetzt die Notwendigkeit, erforderliche Anpassungsbedarfe unter Berücksichtigung der Urteilsgründe schnell und mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen", sagte Meyer.
Der Polizeipräsident ließ dabei aber erkennen, dass er grundsätzlich an dem Instrument festhalten wolle. "Die notwendige Prüfung muss auch die Frage beantworten, welche Folgen das Urteil für die in Hamburg noch bestehenden Gefahrengebiete hat. Eine gesetzliche Grundlage für polizeiliche Maßnahmen besteht nach wie vor“, sagte Meyer.
Die Polizei konnte die Gefahrengebiete seit 2005 abhängig von der eigenen Lageeinschätzung einrichten und darin alle Passanten verdachtsunabhängig überprüfen, ihre Taschen und Rücksäcke durchsuchen sowie Personen in Gewahrsam nehmen. Die Regelung wurde durch eine Änderung des Polizeigesetzes eingeführt. Mehrere solcher Gebiete, etwa in St. Georg und St. Pauli, galten bislang dauerhaft.
Zu Demonstrationen wurden darüber hinaus häufig für mehrere Stunden oder Tage Gefahrengebiete eingerichtet, zuletzt großflächig in St. Pauli, Altona und Sternschanze für neun Tage im Januar 2014. Anwohner hatten sich mit Aktionen und symbolischen Klobürsten gegen die Praxis demonstriert. Die Maßnahme zog bundesweite Kritik nach sich, die Polizei sprach rückblickend von „Fehlkommunikation“.
Gefahrengebiete endgültig vor dem Aus?
Ob mit dem Urteil die Gefahrengebiete endgültig passé sind, steht dahin. Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar sieht sich durch das Urteil zwar in seinen Bedenken bestätigt, wies aber zugleich darauf hin, dass das Oberverwaltungsgericht nicht verbindlich über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheiden könne. „Eine entsprechende Verwerfungskompetenz steht nur den Verfassungsgerichten zu.“
Senat muss Praxis überarbeiten
Das Oberverwaltungsgericht hatte bereits beim ersten Verhandlungstermin im April erkennen lassen, dass es die bisherige Praxis für rechtswidrig hält. Zwar müsse der Polizei die Möglichkeit gegeben werden, Gefahren im öffentlichen Raum abzuwenden – die bisherige Form der Gefahrengebiete griffen jedoch zu stark in die Freiheitsrechte der Betroffenen ein. Dabei sei auch das Gebot der Verhältnißmäßigkeit in der Vergangenheit verletzt worden. Die Linke sprach danach bereits von einer sich abzeichnenden „Riesenohrfeige“ für den Senat.
Die regierende SPD hatte sich vor dem Urteil wiederholt dafür ausgesprochen, die bisherige Praxis grundlegend beizubehalten. Die Gefahrengebiete hätten ihre Nützlichkeit bewiesen, betonte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) – die Polizei gehe „sehr flexibel, souverän und wenig aufgeregt“ mit dem Instrument um. Außerdem fühlten sich die meisten Anwohner in Gefahrengebieten nicht verdächtigt, sondern sicherer. Innensenator Michael Neumann (SPD) nannte die Gefahrengebiete eine „Erfolgsgeschichte“ bei der Bekämpfung öffentlicher Gewalt.
Polizeigewerkschaft von Urteil enttäuscht
Auf Drängen der Grünen wurde jedoch im Koalitionsvertrag der neuen Legislaturperiode vereinbart, die Regelung anhand der Hinweise des Gerichts auf den Prüfstand zu stellen. Der Senat hatte dabei angestrebt, vor allem den Prozess der Einrichtung zu verändern und die Gefahrengebiete unter stärkere demokratische Kontrolle zu stellen. Nach dem Urteil muss das Polizeinstrument nun grundlegend überarbeitet oder abgeschafft werden.
Klemens Burzlaff, stellvertretender Landesvorsitzende der deutschen Polizeigewerkschaft, zeigte sich von dem Urteil des Hamburger Oberverwaltungsgerichtes enttäuscht. "Wir bedauern das sehr. Den Beamten geht damit viel Handlungsspielraum verloren." In den dauerhaften Gefahrengebieten hätte sich die Polizeiarbeit gut etabliert.
Grüne fordern Aussetzung bestehender Gebiete
Der innenpolitische Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion Dennis Gladiator forderte am Mittwoch rasches Handeln: "Der Senat muss sich nun zügig um eine verfassungskonforme Regelung kümmern. Diese muss dem Ziel der Gefahrenabwehr gerecht werden und darf nicht von Zugeständnissen an die Grünen geprägt sein." Es sei bedauerlich, dass Innensenator Neumann bei der Anwendung die notwendige Sensibilität und Sorgfalt habe vermissen lassen. "Die Quittung hat er heute vom Oberverwaltungsgericht bekommen."
Die FDP-Fraktion verweist darauf, dass sie bereits vor mehr als einem Jahr vorgeschlagen habe, die Ausweisung von Gefahrengebieten auf eine neue gesetzliche Grundlage mit Richtervorbehalt zu stellen. "Wie appellieren an die Grünen, die unsere kritische Haltung zu diesem Thema damals geteilt haben, ihren Ankündigungen nun im Senat Taten folgen zu lassen: Rot-Grün muss diese Niederlage zum Anlass nehmen, um die Einrichtung von Gefahrengebieten zügig auf verfassungsgemäße gesetzliche Grundlagen zu stellen, etwa mit einem Richtervorbehalt“, so der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion Carl Jarchow.
Die Grünen-Bürgerschaftsfraktion fordert nun eine Aussetzung der Gefahrengebiete, bis eine neue Lösung gefunden wurde. "Auch die seit vielen Jahren bestehenden Gefahrengebiete St. Georg und St. Pauli sind nach den heutigen Feststellungen des OVG zu überprüfen", sagt die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Antje Möller. Grundsätzlich sei die Überarbeitung schon im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart. "Nun gibt es den konkreten Arbeitsauftrag dafür", sagte Möller.