Boston besitzt alles, um ein großartiger Gastgeber für die Spiele 2024 zu sein – nur nicht das Votum der Bevölkerung.
Seinen schwarzen Toyota Venza hat er am Straßenrand geparkt, und während im Hintergrund der Atlantik in sanften Wellen an den Strand der Dorchester Bay plätschert, nimmt David Wedge zum ersten Mal an diesem Nachmittag seine Sonnenbrille ab. Er will dem Besuch aus Hamburg das wahre Gesicht seiner Heimatstadt zeigen, und dazu gehört wohl, dass man sich in die Augen schauen kann.
„Hier“, sagt Wedge und weist mit ausladenden Armbewegungen auf das Gelände der University of Massachusetts, die alle nur „UMass“ nennen, „hier soll das Athletendorf entstehen, mit direktem Zugang zum Strand und dem großen Moakley Park als Trainingsgelände auf der anderen Straßenseite. Schön, oder nicht?“
Ja, sehr schön, und es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass sich Sportler aus aller Welt in ihrem Dorf am Atlantik ebenso wohl fühlen würden wie in der HafenCity an der Elbe, sollten die Olympischen Sommerspiele 2024 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nicht an Hamburg, sondern an Boston vergeben werden. Seit die Stadt an der nördlichen Ostküste am 8. Januar vom Olympiakomitee der Vereinigten Staaten von Amerika (USOC) im Wettstreit mit Los Angeles, San Francisco und Washington überraschend zum nationalen Bewerber bestimmt wurde, kämpft David Wedge leidenschaftlich dafür, dass sein Traum wahr wird, das weltgrößte Sportereignis in der eigenen Heimat erleben zu können.
„Uns fehlt eine olympische Historie“
Bis November 2013 arbeitete der 44-Jährige als Lokalreporter beim „Boston Herald“, dem Boulevardblatt, das sich den Zeitungsmarkt mit dem liberal-intellektuellen „Boston Globe“ teilt. Seit einigen Monaten ist er als Verantwortlicher für Medienarbeit mit seiner Agentur Northwind Strategies in die Kampagne der „Boston 2024“-Bewegung eingebunden. Eine Gruppe reicher Geschäftsleute um den Bauunternehmer John Fish, der „Boston 2024“ heute als Chairman anführt und als heimlicher Chef der Kampagne gilt, hatte Ende 2013 die Idee, Boston mit einer Olympiabewerbung zu weltweit größerer Bedeutung zu verhelfen. Seitdem ist Wedge Feuer und Flamme für Spiele in Boston, auch wenn es einen vergleichbaren Slogan dort nicht gibt.
Hamburg und Boston im Vergleich
Überhaupt nimmt, wer durch die am meisten europäisch geprägte Stadt der USA flaniert, in der nach dem harten Winter die Magnolienblüte eingesetzt hat, keinerlei Hinweise auf Olympia wahr. Aufkleber auf Bussen und Bahnen oder Flaggen und Plakate mit Slogans, wie man sie in Hamburg überall findet – Fehlanzeige. Die Zustimmung für Olympische Spiele passt zu dieser Beobachtung. Im März stimmten lediglich 36 Prozent für die Bewerbung, die jüngste Umfrage registrierte 46,6 Prozent. Dabei lebt Boston seine Sportbegeisterung mit Überschwang aus. „Title Town“ nennen die Bewohner ihre Heimat, weil die vier großen Teams (siehe Text ganz rechts) in diesem Jahrhundert bereits neun Meistertitel einfuhren, mehr als jede andere US-Stadt. An öffentlichen Plätzen stehen diverse Statuen großer Bostoner Sporthelden.
„Boston ist eine Sportstadt, keine Frage. Der Sportteil ist ein sehr wichtiges Element unserer Zeitung“, sagt David Filipov. Der 52-Jährige arbeitet seit 1994 für den „Globe“ in verschiedenen Positionen, aktuell ist er Editor im Ressort „Metro“, vergleichbar mit dem Hamburg-Teil des Abendblatts. „Aber wir haben uns noch nie für Olympia beworben, uns fehlt eine olympische Historie.“
„Menschen hier sind traditionell sehr kritisch“
Sein Kollege Mark Arsenault, 48, der im „Metro“-Ressort als einer von sechs Reportern täglich über die Olympiabewerbung schreibt, sieht die Ablehnung in einer anderen Historie begründet. „In Boston gibt es eine Geschichte des Dagegenseins. Die Menschen hier sind traditionell sehr kritisch, sie mögen es nicht, wenn man ihnen sagt, was sie tun sollen, ohne es ihnen zu erklären“, sagt er. Selbst die Forderung nach Freibier für alle „würde nicht mehr als 70 Prozent Zustimmung bekommen“.
Im Dezember 1773 begann im Hafen Bostons mit dem als „Boston Tea Party“ bekanntgewordenen Akt des zivilen Ungehorsams der Widerstand gegen die britische Kolonialpolitik. „Massachusetts ist für seine liberale Einstellung und seine Geschichtsträchtigkeit ein in den USA verhasster Staat. Deshalb haben wir in Boston einen sehr zentrierten Blick auf uns. Die Einstellung vieler Bostonians ist: Wir brauchen keinen Besuch aus der ganzen Welt, wir sind uns selbst genug“, sagt Filipov. Hamburgern, denen ihre Stadt als die schönste der Welt gilt, ist dieser Gedanke nicht fremd.
Wer die Ablehnung der Bostonians spüren will, der muss ein Community Meeting besuchen. Mehr als drei Dutzend dieser Bürgerforen hat „Boston 2024“ für die kommenden Monate angesetzt, seit die Bevölkerung gegen die Bewerbung aufbegehrt. An diesem Abend Ende April sind mehr als 300 Menschen in das Community College nach Roxbury gekommen. Der Stadtteil im Südwesten Bostons ist vergleichbar mit Wandsbek, hier lebt die untere Mittelschicht, im Publikum halten sich Schwarze und Weiße die Waage, und die Stimmung ist explosiv. Rich Davey, Geschäftsführer von „Boston 2024“, hat Paige Scott Reed mit aufs Podium gebracht, eine Anwältin, die als farbige Frau gleich zwei Ansprüche der Gleichberechtigungslobby erfüllt.
„Wir werden hier ausgegrenzt und vertrieben“
Dass sie die einzige Afroamerikanerin im Komitee ist, lässt sie wie ein Feigenblatt wirken, und die Zuhörer registrieren das. Nach dem einstündigen Vortrag über die Vorteile der Olympiabewerbung leitet Davey zur Fragerunde über, doch Fragen stellt hier kaum jemand, weil die Antworten ihnen zu schwammig sind. „Ich bin jetzt zum vierten Mal auf so einem Meeting, und ich werde meine Frage so lange stellen, bis ich eine Antwort erhalte“, sagt eine Dame mittleren Alters, die wissen möchte, welchen Einfluss die Bewerbung auf die Mietpreise im Viertel haben wird. Die meisten Wortmeldungen sind Anklagen, die auf 90 Sekunden begrenzte Redezeit kümmert viele nicht, und als Davey das Tribunal nach mehr als vier Stunden schließt, ist er froh, als die Ohren zu klingen aufhören.
Wer zugehört hat, kennt nun die beiden wichtigsten Sorgen der Menschen. Viele bezweifeln, dass die von der Bewerbungsgesellschaft auf rund neun Milliarden Dollar bezifferten Kosten der Spiele ohne Steuergeld zu tragen sein werden. Sie befürchten, dass Kostenüberschüsse zulasten der Steuerzahler gehen. Außerdem ist die Sorge groß, dass die Preise für das Mieten oder den Erwerb von Wohnraum so exorbitant steigen, dass sich alteingesessene Bostonians diese nicht mehr leisten können.
„Wir werden hier ausgegrenzt und vertrieben“, schimpft Gerald Clellan, der aus South Boston nach Roxbury gekommen ist, „dabei sind die Preise schon jetzt fast kaum noch bezahlbar.“ 500.000 Dollar kostet im ehemals stark irisch geprägten Bostoner Süden eine normale Zweizimmerwohnung. Junge, gut verdienende „High Potentials“, die durch Olympische Spiele in die Stadt gelockt würden, könnten sich das leisten, normale Amerikaner nicht. Ähnliche Befürchtungen werden auch von Hamburger Olympiakritikern formuliert.
Im November 2016 stimmen alle Wähler des Staates Massachusetts ab
Marty Walsh kennt die Sorgen seiner Bürger, und er versucht, sie so ernst wie möglich zu nehmen. Seit 2013 ist der 48-Jährige Bürgermeister, vorher vertrat er 16 Jahre lang die Demokraten im Repräsentantenhaus des Bundesstaates Massachusetts. Walsh gilt als Mann des Volkes, er überlebte im Kindesalter eine Krebserkrankung und als Teenager eine Schussverletzung, seit 18 Jahren ist er trockener Alkoholiker. So einen mögen Menschen, die im Alltag um jeden Fortschritt kämpfen müssen, sie vertrauen ihm mehr als dem Durchschnitts-Politiker.
Walsh empfängt das Abendblatt im fünften Stock des neuen Rathauses. Es ist ein hässlicher Betonklotz, der in der an schönen Bauwerken reichen Stadt als „Monument der Brutalität“ verrufen ist, und der auch von innen unfertig und marode wirkt. Eine Visitenkarte für Boston ist nur der Blick auf die Stadt aus Walshs Büro. Am Tisch, an dem der irischstämmige Stadtoberste im vergangenen Jahr Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz empfing, sitzt auch Bauunternehmer John Fish. „Olympische Spiele sind ein Katalysator für wichtige Veränderungen. Wir sehen die Bewerbung als Möglichkeit, Boston weltweit bekannt zu machen. Wir sind eine wachsende Stadt und müssen größer denken“, sagt Walsh.
Die Hamburger Bewerbung habe er zur Kenntnis genommen, sich damit aber ebenso wenig befasst wie mit den Kampagnen aus Rom und Paris. „Ich bin nur auf Boston fokussiert. Ich sehe uns auch nicht als Favoriten, alle Bewerber haben die gleichen Chancen.“ Dass mit Thomas Bach ein Deutscher Präsident des IOC ist, spiele ebenso keine Rolle wie die Tatsache, dass der US-Fernsehsender NBC als einer der wichtigsten IOC-Geldgeber mehrere Milliarden Dollar für die TV-Rechte zahlt. „Wir werden den Menschen genau erklären, warum unsere Bewerbung wichtig und richtig ist, und dann bin ich sicher, dass wir im November 2016 eine stabile Mehrheit bekommen werden“, sagt er. Dann nämlich stimmen die Wahlberechtigten unter den 6,75 Millionen Einwohnern von Massachusetts über die Bewerbung ab.
Dem US-Olympiakomitee ist der Zeitpunkt zwar ein Dorn im Auge, da bereits im September dieses Jahres alle Kandidaten beim IOC ihre Bereitschaft signalisieren müssen und danach nur noch ein nationaler Rückzug, aber kein Wechsel der Kandidatenstadt innerhalb eines Bewerberlandes mehr möglich ist. Dennoch soll der Termin nicht vorgezogen werden. „Wir wissen, dass die Bürger viele Fragen haben, und wir wollen alle beantworten. Aber wir brauchen die nächsten 18 Monate, um Antworten zu finden. Die Bewerbung ist ein Marathon, bei dem wir ganz am Anfang stehen, und wir müssen im November 2016 in Topform sein, nicht jetzt“, sagt John Fish.
Es ist seine liebste Formulierung. Er lächelt grundsätzlich, wenn er antwortet, er lobt Hamburgs Bewerbung und unterstreicht „die vielen Gemeinsamkeiten, die unsere Städte und ihre Bewerbungen haben: die Nähe zum Wasser, die Kompaktheit der geplanten Spiele und die Sportbegeisterung der Bevölkerung“. Fish ist ein Mann, der in Lösungen denkt und nicht in Problemen, er gilt als einer, der anpackt und Sachen zu Ende bringt. Dass er jedoch die Kritiker als „Dauernörgler“ abtat und ihnen den nötigen Patriotismus absprach, hat die „Boston 2024“-Bewegung beschädigt.
Das Problem ist, dass Walsh nicht, wie in Hamburg Bürgermeister Scholz und vor allem Sportsenator Michael Neumann, die treibende Kraft der Olympiabewerbung ist. Vielmehr wurde die Idee von Fish und dessen Mitstreitern an ihn herangetragen, und es gibt eine Menge Bostonians, die den privaten Investoren misstrauen, weil sie befürchten, dass diese nur nach noch mehr Geld und Macht streben, als sie sowieso schon besitzen.
Kosten werden mit neun Milliarden Dollar veranschlagt
Die Verflechtungen, die dieses Misstrauen nähren, kann wohl kaum jemand besser beschreiben als Evan Falchuk. Der 45-Jährige residiert mit seiner United Independent-Partei im zweiten Stock eines Hochhauses an der School Street im Finanzdistrikt. 2013 ging der Anwalt, der 14 Jahre lang als Führungskraft in der weltweit operierenden Medizinfirma Best Doctors arbeitete und als deren Mitinhaber finanzielle Unabhängigkeit erlangte, in die Politik, „weil ich das Gefühl hatte, dass es dort nur noch um Machterhalt und nicht mehr um Ideale geht“. Im November 2014 trat er bei der Gouverneurswahl an, die der Republikaner Charlie Baker gewann, und nahm die Drei-Prozent-Hürde, um seine Partei als offizielle Partei etablieren zu können. Seitdem ist er führender Kritiker der Olympiabewerbung.
Dabei hat Falchuk, der großer Footballfan ist, überhaupt nichts gegen die Spiele. Ihm geht es darum, aufzuzeigen, dass eine kleine Gruppe von reichen Unternehmern die Bewerbung nutzen will, um sich daran zu bereichern. „,Boston 2024’ versichert uns, dass sie keine Steuergelder nutzen werden. Aber sie haben ein Team aufgestellt, das man als ,Dreamteam‘ bezeichnen würde, wenn man darauf aus ist, Steuergelder einzutreiben“, sagt er und verweist auf ein Chart, das die Geschäftsbeziehungen der „Boston 2024“-Mitglieder dokumentiert und tatsächlich viele Fragen aufwirft. Spätestens als John Fish Anfang des Jahres den früheren Gouverneur Deval Patrick als Lobbyisten anheuern und ihm für seine Dienste ein Tageshonorar von 7500 Dollar zahlen wollte, gingen die Kritiker auf die Barrikaden.
Gegen die Untertunnelung der City ist die Elbphilharmonie ein Schnäppchen
Falchuk sagt, niemand glaube den Beteuerungen Fishs, die Spiele nur aus dem edlen Motiv heraus, der Stadt und nachfolgenden Generationen eine bessere Zukunft zu geben, nach Boston holen zu wollen. „Er hat zwar erklärt, sich mit seiner Firma Suffolk nicht für olympische Bauprojekte zu bewerben. Aber wenn andere Firmen für Olympia bauen, bleiben für Suffolk genug andere Projekte übrig.“ Das Problem sei, dass niemand nachvollziehen könne, wie viel Geld in die Kampagne fließe und woher es komme, da „Boston 2024“ nicht transparent genug sei. Verhältnisse wie in Hamburg, wo man die Bürger befragt hatte, bevor die nationale Wahl gegen Berlin entschieden wurde, und im Herbst ein zweites Votum auf Basis der dann errechneten Kosten ansteht, empfindet er als „paradiesisch, ein Muster für Demokratie“.
Falchuk kritisiert aber nicht nur, er bietet auch Lösungen an. In den USA ist die Verwendung von Steuergeld für private Vergnügen, zu denen er Olympische Spiele zählt, nicht vorgesehen. Profisportteams gehören privaten Inhabern – anders als in Deutschland, wo beispielsweise im Fußball die „50+1-Regel“ den Einfluss von Investoren begrenzt. Der Großteil der Kosten für Olympia, die Finanzierung der Sicherheitsmaßnahmen (Bundesaufgabe) und Instandsetzung der Infrastruktur (Staat und Stadt) ausgenommen, müsse deshalb von privaten Investoren aufgebracht werden.
„Wenn man ein Gesetz erließe, das den Einsatz von Steuermitteln verbietet und die Steuerzahler von der Übernahme möglicher Kostenüberschüsse ausnimmt, dann würden viel mehr Menschen der Bewerbung zustimmen“, sagt er. Ein entsprechender, von Gouverneur Baker und Bürgermeister Walsh grundsätzlich befürworteter Gesetzentwurf war am Montag vergangener Woche ohne vorangehende Aussprache vom Repräsentantenhaus abgeschmettert worden. „Das zeigt leider, dass die Sorgen der Kritiker berechtigt sind“, sagt Falchuk.
Umfragen geben ihm recht. Unter der Voraussetzung, ein solches Gesetz würde erlassen, würden mehr als 60 Prozent die Bewerbung unterstützen. Gleichzeitig befürchten rund 88 Prozent, dass Steuergeld verwendet werden muss. „Niemand glaubt außerdem, dass die Kosten nur bei neun Milliarden liegen werden. Eher muss man mit 20 Milliarden rechnen“, sagt Falchuk.
Das sieht auch Joan Vennochi so. Die Wirtschafts- und Politikkolumnistin ist beim „Globe“ eine der wenigen, die ein Einzelbüro haben. Der Schaukelstuhl für Gäste und die mit unzähligen Büchern und Dokumenten vollgestopften Regale wirken wie aus der Zeit gefallen, doch die resolute Dame, die ihr Alter mit dem Wort „Großmutter“ als ausreichend beschrieben empfindet, hat ihre zehn Finger am Puls der Welt, sie bedient die sozialen Netzwerke und gilt als pointierte Kommentatorin des politischen Geschehens.
„,Boston 2024’ hat bislang kein überzeugendes Argument geliefert, warum wir die Spiele brauchen“, sagt sie. Die Gruppe habe die Spiele wie ein Geheimzirkel an sich gerissen. „Dann sind sie von der Ablehnung der Menschen völlig überrumpelt worden.“ Dass es überhaupt ein Bürgervotum geben wird, das Bürgermeister Walsh anfangs ablehnte, sei nur dem Druck der Öffentlichkeit zuzuschreiben. Die Einführung eines neuen Board of Directors, in dem mit Baseballprofi David Ortiz, den Basketballlegenden Larry Bird und JoJo White oder Eiskunstlaufstar Michelle Kwan verdiente Sporthelden stehen, sei ein weiterer richtiger Schritt. „Aber jetzt zäumt ,Boston 2024’ das Pferd von hinten auf. Diese Dinge hätte man schon machen müssen, als die Bewerbung angeschoben wurde. Sie haben Herz und Seele der Bevölkerung überhaupt noch nicht erreicht, weil die Bostonians sich fragen, warum Olympia die Agenda bestimmen sollte, wenn die Stadt auch so genug Probleme hat.“
Aaron Leibowitz kann dem nur zustimmen. „Die Stadt setzt die falschen Prioritäten“, sagt der 23-Jährige, der Amerikanistik studiert hat und sich derzeit mit mehreren Jobs durchschlägt. Leibowitz arbeitet ehrenamtlich für die Initiative „No Boston Olympics“, eine von zwei großen Oppositionsgruppen mit jeweils mehreren Tausend Unterstützern. Sie wollen nicht, dass ihre Stadt das Versuchskaninchen wird, an dem das IOC seine auf Nachhaltigkeit und Abkehr vom Gigantismus fußende Agenda 2020 ausprobiert. „Das IOC hat immer noch zu viel Macht. Der Protest in einer Sportstadt wie Boston zeigt doch, wie störend die Spiele mittlerweile wahrgenommen werden. Wir glauben, dass Olympische Spiele so teuer sind, dass die Ressourcen abgesaugt werden, die wir für die Verbesserung der Wohnsituation, der Schulen und Unis und des Transportsystems brauchen“, sagt Leibowitz.
Einer, der sich mit allen drei Bereichen auskennt, ist Ryan Chin. Der 40-Jährige ist am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Manager für die City Science Initiative, die die Themen Stadtentwicklung, Transport und Wohnraum im Blick hat. Ein Besuch bei Chin und seinen Studenten ist wie eine Reise in die Zukunft und demonstriert die geballte Kraft des Wissens, aus der Boston mit seinen rund 300.000 Studenten schöpfen kann. Gerade arbeiten sie an faltbaren Elektroautos, die das Parkplatzproblem in Großstädten lösen sollen, aber auch an einem Apartment mit verschiebbaren Wänden, das durch optimale Raumnutzung auf 18 Quadratmetern den Komfort einer Dreizimmerwohnung ermöglicht. Ein Olympisches Dorf könnte dafür der perfekte Prototyp sein.
Chin hat zu Olympia keine festgelegte Meinung, er ist weder dafür noch dagegen, aber er möchte, dass Boston zunächst seine eigenen Probleme löst. „Das Nahverkehrssystem MBTA ist nicht funktionstüchtig und überschuldet, es produziert jährlich ein Minus von 400 Millionen Dollar“, sagt er. Im Februar, als Boston unter dem härtesten Winter seit Jahrzehnten litt, war der öffentliche Nahverkehr für mehrere Tage völlig lahmgelegt. Andererseits verfügt Boston immerhin über solche Verkehrsmittel, was im autoverliebten Amerika, wo das Benzin kaum halb so teuer ist wie hier, die Parkplätze dagegen teurer als ein opulentes Mittagessen, nicht die Regel ist. Die in Boston beliebte Spöttelei, ob man zu Fuß gehen solle oder ob Zeit genug sei, die U-Bahn zu nehmen, dürfte während Olympischer Spiele im Sommer jeder Grundlage entbehren. Ende April jedenfalls fuhr die „T“, wie die U-Bahn in Boston heißt, einwandfrei.
Den Menschen, sagt Chin, sitze allerdings noch immer der Schock des „Big Dig“ in den Gliedern. Das Autobahnprojekt, bei dem die Innenstadt untertunnelt wurde, kostete statt der veranschlagten 2,6 knapp 15 Milliarden Dollar. Dagegen ist die Elbphilharmonie ein Schnäppchen. Einer Olympiabewerbung kann Chin indes auch Positives abgewinnen. „Boston nennt sich gern eine Weltklasse-Sportstadt, aber wir nutzen unsere anderen Potenziale wie unsere Universitäten und die Forschung zu wenig. Olympia könnte den Fokus weiter fassen“, sagt er.
Als einziger aller Gesprächspartner, die dem Abendblatt zur Verfügung standen, war der Sohn zweier Hongkong-Chinesen bereits in Hamburg, er sieht viele Übereinstimmungen in den Bewerbungen. Und wenn sich „Boston 2024“ weiterhin nicht an einer Zusammenarbeit mit dem MIT interessiert zeige, dann könne er sich durchaus vorstellen, das Know-how seines Fachbereichs der Hansestadt zur Verfügung zu stellen. Mit der HafenCity-Universität (HCU) ist eine Kooperation mündlich fest vereinbart.
Der Hamburg-Botschafter stärkt die Zusammenarbeit beider Städte
Eingefädelt hat diese Bodo Liesenfeld. Der 63-Jährige ist als „Hamburg Ambassador“ unser Mann in Boston. 36 dieser Botschafter, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Hamburg und anderen Städten ankurbeln sollen, sind weltweit im Einsatz. Liesenfeld, der 2009 aus familiären Gründen in die USA übersiedelte und eine Fensterfirma betreibt, kümmert sich mit immensem Engagement darum, Hamburg und Boston auf verschiedensten Feldern zusammenzuführen. Sein jüngstes Projekt ist ein Schüleraustausch.
Natürlich weiß Liesenfeld, dass das IOC in Paragraf zehn seines Code of Conduct Kooperationen zweier Olympiabewerber untersagt, wenn sie darauf abzielt, die Vergabeentscheidung des IOC zu beeinflussen. Aber beim Frühstück im 38. Stock des noblen Downtown Harvard Clubs, mit bester Aussicht auf die Back Bay, klingen seine Vergleiche der beiden Städte so erfrischend positiv, dass der Wunsch reift, beide mögen nacheinander Ausrichter der Spiele werden und sich sogar zu gemeinsamen Themen austauschen.
Dass Boston 2017 bei der Vergabe der Spiele in Perus Hauptstadt Lima antritt, weil das Referendum im November 2016 positiv ausfällt, glauben bis auf Evan Falchuk alle Gesprächspartner. Falchuk könnte sich vorstellen, dass das US-Komitee Boston aufgrund der negativen Stimmung in der Stadt schon im August den Kandidatenstatus entzieht, um einer peinlichen Abstimmungspleite zu entgehen. John Fish kann darüber nur müde lächeln. „Wir werden in Lima antreten, und wenn wir verlieren, dann verlieren wir lieber im Wettbewerb als durch irgendwelche Formalien“, sagt er.
Man werde den Bostonians erklären, warum die Bewerbung sinnvoll sei und dass man keinerlei Steuergeld benötigen werde, weil die drei letzten US-Spiele in Los Angeles (1984), Atlanta (1996) und Salt Lake City (Winterspiele 2002) allesamt einen Überschuss erwirtschaftet hätten „und wir in Boston 70 Prozent der Sportstätten bereits haben, was die Nachhaltigkeit unterstreicht“, sagt Fish. Auch Reporter Arsenault glaubt an einen Erfolg der Bewerbung. „Die Umkehr in den Umfragen ist bereits geschafft, weil die Macher begriffen haben, dass sie den Menschen mehr erklären müssen. Und mit Bostonians ist es doch so: Sie brauchen lange, um überzeugt zu werden, aber wenn sie überzeugt sind, dann hat man Freunde fürs Leben.“
David Wedge hat die Sonnenbrille wieder aufgesetzt, den Toyota gestartet und braust mit dem Gast aus Hamburg über die Columbia Road. „Wir sind bereit für die Spiele“, sagt er, „aber noch sind nicht alle bereit, größer zu denken.“ Tatsächlich, Boston ist eine Stadt, die alles hat, um ein großartiger Gastgeber für Sommerspiele zu sein, und die es verdient hätte, ausgewählt zu werden. Sie muss es nur noch wollen.