Beim Bau des Rathauses glaubte man, die Alsterburg entdeckt zu haben. Jetzt wird am Hopfenmarkt eine Anlage ausgegraben, die den Fund infrage stellt. Die Stadtgeschichte müsste umgeschrieben werden.
Neustadt. Wenn Kay-Peter Suchowa Gäste durch seine Schatzkammer führt, dann kann sich niemand seinem Entdeckergeist entziehen. Nach wenigen Minuten hat der Besucher fast das Gefühl, selber die Geheimnisse gelüftet zu haben, die hier 1000 Jahre lang in der Erde versteckt waren. Modrig ist er, der Atem der Geschichte. Uraltes, feuchtes Holz, Menschenknochen, mittelalterliche Backsteine, Kacheln aus dem 15. Jahrhundert sind die Fundstücke, über die der 44-jährige Suchowa mit einer Begeisterung berichtet, als hätte er einen Goldschatz entdeckt. Und irgendwie hat er das ja auch, hier am Hopfenmarkt, im Schatten der Nikolaikirche. „Wenn unsere Hypothese sich bestätigt, dann muss die Stadtgeschichte umgeschrieben werden.“ Wieder einmal.
Hinter einem Bauzaun, unter einem Zeltdach, liegt das gut 100 Quadratmeter große Areal, in dem der Archäologe mit seinem 15-köpfigen Team seit August gräbt. Und die Ergebnisse sind auch für den Laien wie ein offenes Buch. Da sind natürlich Reste der Mauern des 1962 gebauten Geschäftshauses, dessen Abriss den Forschern überhaupt erst die Möglichkeit gab, hier zu graben. Daneben sind ältere Steine und in den Boden gerammte Holzpfähle zu sehen. „Die stammen von einem im 19. Jahrhundert errichteten Wohnhaus“, erklärt Suchowa. Aber um das geht es natürlich auch nicht. Was diesen Ort so geschichtsträchtig macht, liegt tiefer: zum einen die alte Nikolaikirche, die im 12. Jahrhundert gebaut, mehrfach erweitert und 1842 ein Opfer des Großen Brandes wurde. Vor allem aber sind es die Reste einer noch älteren Burg, deren Rätsel jetzt endlich gelöst werden soll: die sogenannte Neue Burg.
Dass hier mal eine Feste stand, ist alles andere als ein Geheimnis. „Schon im Mittelalter hieß die Straße hier Neue Burg, und die alten Befestigungswälle sind auch schon mehrfach untersucht worden“, sagt Prof. Rainer-Maria Weiss. Der Chef der Hamburger Bodendenkmalpflege, wie es auf Amtsdeutsch heißt, will auch gar keine Burg entdecken – er will eine verschwinden lassen: die Alsterburg.
Um das zu verstehen, braucht es einen Blick ins Hamburger Geschichtsbuch. Da ist zunächst die Keimzelle, die Hammaburg am Domplatz, die unter Weiss’ Ägide vor knapp zwei Jahren ja endlich gefunden wurde. Die ist nach mehrmaligen Überfällen und Plünderungen um 1020 eingeebnet worden. Stattdessen haben die Hamburger den „Heidenwall“ gebaut, eine Art früher Stadtmauer zum Schutz vor Überfällen der Slawen. In dieser Zeit gab es einen regelrechten Bauboom in der Stadt: Um 1025 wurde der Mariendom errichtet (noch aus Holz), 15 Jahre später die Bischofsburg, die der erste Steinbau der ganzen Region gewesen sein soll – damals eine Sensation. Und dann heißt es, die Billunger Grafen hätten 1043 ebenfalls eine Burg errichtet: die „Alsterburg“. Die soll etwas weiter weg, in der Nähe des heutigen Rathauses, gestanden haben, Bauherr war Graf Bernhard II. 1061 dann soll sein Sohn Ordulf die „Neue Burg“ geschaffen haben, allerdings aus Holz.
Gefunden wurde die Alsterburg nie. „Beim Bau des Rathauses in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts war man auf alte Steinreste gestoßen“, sagt Weiss. Damals war man sicher, die Alsterburg entdeckt zu haben. Doch heute ist nachgewiesen, dass die Steine wesentlich jünger sind. Historische Klarheit herrscht erst für die Zeit nach dem 12. Jahrhundert. Damals wurde die Neue Burg aufgegeben, stattdessen siedelten die Stadtherren (nach dem Aussterben der Billunger waren das die Schauenburger Grafen) dort Kaufleute an. In dieser Neustadt begann der Aufstieg Hamburgs zur Handelsmetropole.
Zweifel an den vielen Burgen des 11.Jahrhunderts gibt es schon länger, denn die Neue Burg ist die einzige, deren Reste wirklich entdeckt wurden. Und es gibt nur eine schriftliche Quelle: die Kirchenchronik des Erzbischofs Adam von Bremen, wohl aus dem Jahr 1076. Dort ist die Rede davon, dass der Herzog „ein festes Haus“ errichtet habe. Das wurde so gedeutet, dass es sich um eine steinerne Burg gehandelt haben müsse: die Alsterburg. Und diese vermeintliche Gewissheit wurde jahrhundertelang nie infrage gestellt.
Prof. Weiss hat sich den lateinischen Originaltext angeschaut. Dort ist in Bezug auf die Burg von „domum“ die Rede – Haus. Im selben Text geht es auch um die Bischofsburg, die allerdings als „domum lapideum“, steinernes Haus, beschrieben wird. „Ein Steinbau in Hamburg war damals so außergewöhnlich, dass es natürlich betont wurde“, sagt Weiss. Er sagt, dass es die steinerne gräfliche Burg womöglich nie gegeben hat – und dass die Alsterburg somit ein Phantom der Geschichte sein könnte. Dafür spricht auch eine gewisse innere Logik. Denn warum hätte Ordulf eine neue Burg aus Holz errichten sollen, wenn es eine väterliche aus Stein gegeben hätte?
Diese Arbeitshypothese hält auch der Grabungsleiter Kay-Peter Suchowa für überzeugend. Demnach gäbe es nur eine Burg, eben die „Neue“. Und die wäre dann auch nicht erst 1061 gebaut worden, sondern 30 bis 40 Jahre früher. Suchowa: „Es könnte sein, dass Bernhard II. zwischen 1020 und 1030 die Neue Burg gebaut hat, die sein Sohn Ordulf um 1060 dann erweiterte.“ Und dass die zwei in den Quellen erwähnten Burgen tatsächlich ein und dieselbe sind.
Um aus einer Hypothese eine Tatsache zu machen, bedarf es handfester Beweise. Und das Schöne ist: Die wird es bald geben. Denn Suchowa ist sicher, dass er das Alter der Burg am Hopfenmarkt exakt bestimmen kann: mithilfe der „Dendrochronolgie“, der „Lehre vom Baumalter“. Dafür braucht man gut erhaltene Baumstämme, die im Labor untersucht werden. Entscheidend sind die Jahresringe. An denen kann man nicht nur ablesen, wie alt ein Baum geworden ist, sondern eben auch, wann er gefällt wurde. „Das ist wie ein Fingerabdruck“, sagt Suchowa. Je nach Klima und anderen Umwelteinflüssen wächst ein Baum mal schneller, mal langsamer. Wertet man das Jahresring für Jahresring aus, ergibt sich ein typisches Bild für eine bestimmte Baumart aus einer bestimmten Region für eine bestimmte Zeit.
Wenn man beispielsweise heute im Sachsenwald eine umgekippte 1000-jährige Eiche untersucht, hat man ein Wachstumsbild für diese Region, das bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht. In den Datenbänken der Forscher befinden sich Hunderttausende verschiedener Baumchronologien, sodass man genau zuordnen kann, wann und in welcher Region ein Baum gefällt worden ist. Wenn nun die Untersuchungen ergeben, dass die Bäume vom Hopfenmarkt zwischen 1020 und 1030 gefällt wurden, wäre das ein Beweis für das Alter der Anlage. Wenn es ausreichend verschiedene Proben gibt.
Der Glücksfall ist, dass Suchowa und sein Team am Hopfenmarkt Dutzende sehr gut erhaltener Bäume gefunden haben. „Denn der Burgwall bestand aus unbearbeiteten Baumstämmen, die mit Klei- und Grassoden befestigt wurden“, erklärt der Archäologe. 4,5 Meter hoch war der Wall, davor befand sich ein Graben, auf dem Wall wiederum eine Palisade. Suchowa: „Das ist die typische Bauweise für diese Zeit.“ Von einer steinernen Burg mit Mauern und Zinnen kann also keine Rede sein. Im Inneren der Burg kann es vielleicht ein Wohnhaus aus Stein gegeben haben, allerdings gibt es dafür keinerlei Spuren. Und da die Forscher nur ein kleines Areal zur Verfügung haben, durch das der Wall verlief, wird diese Grabung darüber auch keine Erkenntnisse bringen können.
Das Alter der Anlage wird aber bald feststehen – spätestens im Februar werden die Ergebnisse der dendrochronologischen Untersuchungen erwartet. Verschiedene Proben wurden nach Berlin geschickt, parallel wird in Hamburg an den gleichen Proben gearbeitet, um Fehler ausschließen zu können.
Dass der 1000 Jahre alte Wall unberührt erhalten ist, ist übrigens dem Hochwasser zu verdanken. Damals stand die Anlage nahe am Alsterlauf. Und deswegen hat man im 12.Jahrhundert, als die Burg aufgegeben wurde, die Wälle nicht eingeebnet, sondern aufgeschüttet – fast wie auf einer Hallig.
Während Suchowa ungeduldig auf die Analysen wartet, legt er mit seinen Mitarbeitern behutsam immer mehr frei. Dabei stoßen sie auch auf makabre Funde – so schaut aus einer Grabungskante die Hälfte eines menschlichen Oberschenkelknochens hervor – Reste der Gräber in der alten Nikolaikirche. „Nach Abschluss der Arbeiten werden alle Gebeine in Ohlsdorf christlich beigesetzt“, sagt Suchowa.
Es gibt auch sehr viel jüngere Spuren, die durchaus spannend sind. So kann man sogar die Arbeitsweise der Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen: Am oberen Rand einer Mauer des Wohnhauses aus dem 19. Jahrhundert, das zerbombt wurde, ist ein ungeordneter Haufen von Ziegelsteinen freigelegt worden. „Die Mauern wurden nach dem Krieg eingedrückt, alle guten Steine eingesammelt – und mit dem Rest hat man das entstandene Loch zugeschüttet“, erklärt Suchowa. Archäologischen Beifang könnte man das wohl nennen, genau wie die Reste eines alten Kachelofens oder die lasierte Bodenfliese. Eine echte Schatzkammer eben, hier im Herzen Hamburgs.