Der Fall einer verdeckten Ermittlerin befeuert den Konflikt zwischen den Besetzern der Roten Flora und der Polizei. Die Autonomen machen jedes Detail des Einsatzes öffentlich. Es gehe ihnen um Transparenz.
An einem Tag im November 2013 geht die Polizistin, die sich einmal Iris Schneider nannte, in eine Einrichtung, um sich und ihre Dienststelle vorzustellen. Sie arbeitet beim Hamburger Landeskriminalamt, Abteilung 7014, Prävention islamischer Extremismus. Sie berichtet von den Erfahrungen, muslimische Jugendliche und Konvertiten davon abzuhalten, zu Gotteskriegern zu werden. Unter den Zuhörern befindet sich ein Mensch, den sie vor langer Zeit einmal kennengelernt hatte. Die beiden sehen sich tief in die Augen. In dem Moment weiß der Zuhörer, dass alles stimmte, was einst über diese Frau gesagt und getuschelt wurde. Und der Polizistin, die an diesem Tag unter ihrem richtigen Namen auftritt, ist klar, dass sie von nun an Schutz braucht.
Iris Schneider hat im Auftrag des Staates gelogen, sie hat Freundschaften vorgetäuscht, die keine waren, und hat Vertrauen genossen, das sie sich erschlich. Die heute 41-jährige Kriminalbeamtin war von 2000 bis 2006 als verdeckte Ermittlerin in der Roten Flora und in anderen linken Gruppen aktiv, hat bei Radiosendungen des Freien Senderkombinats FSK 93,0 mitgearbeitet und im Café „Niemandsland“ in der Flora geholfen. Seit ihrer Enttarnung hat eine Recherchegruppe der „Flora“ ein Jahr daran gearbeitet, das Wirken der Beamtin in der Szene zu dokumentieren und nachzuzeichnen.
„Wir wurden mit geheimdienstlichen Mitteln ausgeforscht, das steht der Polizei nicht zu“, sagt Andreas Blechschmidt, Sprecher der Flora. Nun steht eine 18-seitige Dokumentation im Internet, samt Klarname und Hamburger Privatadresse von Schneider. Ein Racheakt der Szene? „Nein, wir wollen Transparenz schaffen über staatliche Spitzelmethoden“, sagt Blechschmidt.
Das Verhältnis zwischen dem autonomen, besetzten Kulturzentrum und der Stadt ist ambivalent. Während die Flora für sich reklamiert, „systemoppositionell“ zu sein und radikalen, antikapitalistischen, anarchistischen und sozialistischen Ideen Raum zu geben – „Flora bleibt unverträglich“ lautet der Slogan des Zentrums –, müht sich die Stadt, den Ort zu befrieden. Dass sie kein „katholischer Jugendpfadfinderverein“ (Blechschmidt) sind, ist auch im Hamburger Verfassungsschutzbericht von 2013 nachzulesen. Autonome aus dem Umfeld der Roten Flora würden alle zwei Monate die Szenezeitschrift „Zeck“ veröffentlichen, und dort zu Demonstrationen aufrufen oder sich zu vorangegangenen Brandstiftungen oder anderen Sachbeschädigungen bekennen. Auch bei den Krawallen am 21. Dezember 2013 seien Autonome aus der Flora beteiligt gewesen.
Autonome oder potenzielle Gewalttäter?
Aber sind alle Besucher und Nutzer der Roten Flora Autonome oder potenzielle Gewalttäter? Wie weit darf ein Staat gehen, wenn er etwas über seine Gegner erfahren will? Wo endet die Freiheit der offenen Gesellschaft, wo beginnt der Schutz der Demokratie? Und warum kauft die Stadt Hamburg das autonome Zentrum für 820.000 Euro und stellt es den Floristen als eine Art selbstverwalteten Abenteuerspielplatz zur Verfügung, wenn andererseits offenkundig so hohe Bedenken gegen die Rechtsstaatlichkeit der Nutzer bestehen, dass man sie bespitzeln lässt?
Es wäre spannend, über solche Fragen mit den Behörden zu sprechen. Aber weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft mögen Auskunft geben, auch nach mehreren Versuchen nicht – die Geheimhaltung! Innensenator Michael Neumann (SPD) gibt nach Auskunft seines Sprechers „keinen Kommentar zu Internetveröffentlichungen“.
So muss jede Recherche im Fall „Ines Schneider“ Stückwerk blieben, da ihre möglichen Ermittlungsergebnisse zwischen den Aktendeckeln der Behörden verborgen bleiben und nicht klar ist, ob ihr Einsatz geholfen hat, „Straftaten von erheblicher Bedeutung“, wie es im Gesetz für den Einsatz verdeckter Ermittler heißt, aufzuklären – oder um es nur um die bloße Ausforschung ging.
Perfekte Legende für einen Neuankömmling
Der Fall lässt sich nur über Gespräche mit Betroffenen und die Internetdokumentation rekonstruieren. Im Jahr 2000 entscheidet die Polizeiführung, eine junge Beamtin in die Flora einzuschleusen. Es sind unruhige Zeiten in Hamburg: 1999 wird der Dienst-BMW des damaligen SPD-Innensenators Hartmuth Wrocklage vor seinem Privathaus angezündet. Ein Jahr später geht ein Lufthansa-Dienstwagen in Flammen auf, kurze Zeit später fliegen Farbbeutel auf das Wohnhaus des damaligen Lufthansa-Chefs Jürgen Weber in Hummelsbüttel. Das LKA sieht im Bekennerschreiben eine Nähe zum autonomen Spektrum.
Die ausgewählte Beamtin wird mit der Tarnlegende „Iris Schneider“ ausgestattet, macht sich acht Jahre jünger und taucht zunächst im Café „Niemandsland“ auf. Sie gilt als fleißig, hilfsbereit und schließt schnell lose Freundschaften. Auch in der „queeren“ Kickboxgruppe kämpft die Polizistin mit. Sie erzählt, dass sie offen lesbisch lebe und sich daher mit ihrer Familie in Hannover überworfen habe. Die Legende passt beinahe perfekt für einen Neuankömmling, der sich in der Flora engagieren möchte – Themen wie Sexismus, Rassismus und Geschlechter-Diskriminierung haben hier einen hohen Stellenwert.
Über das Engagement im Café landet sie im „Flora-Plenum“, dem Entscheidungs- und Diskussionsgremium des Zentrums, in dem die verschiedenen Gruppen des Hauses ihre Vertreter senden. Iris Schneider geht auch mindestens zwei längere Liebesbeziehungen ein. Übertreibt sie es mit der Legendierung? Oder verliert sie einfach den Überblick über ihre zwei Leben? Das sind Fragen, die sich viele ihrer damaligen „Freunde“ stellen.
Zwei Flora-Gruppen stehen sich gegenüber
Bald schöpfen einige Floristen Verdacht. Irgendetwas stimmt doch nicht mit Iris Schneider, die angibt, bei Kaufhof in der Verwaltung zu arbeiten. Eine „Recherchegruppe“ gründet sich, die prüfen soll, ob Schneider einer von ihnen ist – oder nicht. Schon in diesem Stadium diskutieren die Flora-Leute, ob das statthaft ist: Ist es nicht unsolidarisch, jemanden auszuspionieren, ohne ihn mit dem Verdacht zu konfrontieren? Die linke Szene lebt ja von der politischen Intimität, dem Gemeinschaftsgefühl, dem Miteinander gegen die kalte Gesellschaft da draußen, die so dringend umgestaltet werden müsste. Ist man noch besser als der Rest, wenn man sich so verhält?
Andererseits: Wenn „der Staat“ zu solchen Mitteln greift, muss man sich wehren, lautet die Losung. Mitglieder der Recherchegruppe gehen in eine konspirative Wohnung an der Rentzelstraße, in der Schneider angeblich lebt. Die ist auffällig karg ausgestattet, doch Schneider hält an ihrer Rolle fest. Die Rechercheure kommen nicht weiter. Mit dem Verdacht konfrontiert, bricht Iris Schneider in Tränen aus, ruft Freunde in der Flora als Unterstützer zusammen – und dreht den Spieß um: Da der Verdacht nicht zu beweisen ist, fordert sie eine Entschuldigung der Recherchegruppe. So stehen sich zwei Gruppen gegenüber: Die Skeptiker und ihre Anhänger. „Die hat uns gespalten“, sagt ein Mitglied der Szene heute.
Bis 2006 arbeitet die Polizistin auch im FSK-Radio mit. Dort betreut die verdeckte Ermittlerin die Sendung „Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen“ und gilt auch dort als „fleißig und hilfsbereit“, wie sich Redakteur Werner Pomrehn erinnert. „Wir sind ein offenes Projekt, wir können neue Leute ja nicht überprüfen“, sagt der FSK-Mann. „Das Schlimmste an dieser Sache ist der Vertrauensbruch.“ So steht auch die Hausdurchsuchung des Senders von 2003, als zwei Hundertschaften die Redaktionsräume durchkämmten, in einem neuen Licht.
Damals suchten die Beamten ein Tonband, auf dem ein Mitarbeiter ein Telefoninterview mit dem Leiter der Polizeipressestelle aufgezeichnet und – nicht autorisiert – gesendet hatte. Das Bundesverfassungsgericht geißelte die Durchsuchung 2011 als grundgesetzwidrig, unverhältnismäßig und Verstoß gegen die Runfunkfreiheit – eine Schlappe für Hamburgs Polizei und Justiz.
„Überzogene geheimdienstliche Methoden“
Hatte Schneider damit zu tun? Bestand denn der Verdacht, dass aus der Redaktion des Senders heraus „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ verübt wurden? Im Jahre 2006 verlässt Schneider die Szene abrupt, gibt an, nun in den USA zu leben. Ihr Einsatz ist offenbar beendet.
Die Grünen-Politikerin Antje Möller verlangt jetzt Aufklärung vom Senat. „Dort wurden geheimdienstliche Methoden angewandt, die völlig überzogen sind.“ Der Einsatz decke sich „wohl kaum mit den rechtlichen Grundlagen für den Einsatz von verdeckten Ermittlern. Ich habe das Thema auch zur nächsten Innenausschusssitzung angemeldet, damit jetzt Klarheit in die Sache kommt“, sagt Möller.
Die „Welt am Sonntag“ hat auch den renommierten Hamburger Strafverteidiger Thomas Bliwier um eine Stellungnahme gebeten. Er verteidigt unter anderem NSU-Opfer im Münchner Prozess. Sein lakonisches Fazit: „Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers in der Flora hatte zu keinem Zeitpunkt eine gesetzliche Grundlage und stellt einen schweren Verfassungsbruch und einen unglaublichen Eingriff in die Grundrechte der so bespitzelten Personen dar.“
Fahrt nach Rahlstedt, zur Beamtin, sie wohnt in einer schneeweißen Neubausiedlung kleiner Reihenhäuser am Waldrand. Was denkt die Polizistin heute? War der Einsatz gerechtfertigt? Mochte sie ihre Freunde, oder war wirklich alles gespielt? Was hat das alles gebracht?
Früher standen hier zwei Namen, an der Klingel, nun ist der richtige Name der Polizistin überklebt. Eine junge Frau öffnet die Tür. „Ich habe damit nichts zu tun“, wiederholt sie mehrfach. Und kennen sie Iris? „Dazu sage ich nichts.“ Dann kommen drei Zivil-Polizisten, sie sollen den Schutz des Hauses verbessern. Iris Schneider ist nicht da.