Insassen müssen sich für brutalen Überfall auf Mitgefangenen Angelo O. vor Gericht verantworten. In der Justizvollzugsanstalt war dem Personal bekannt, dass die Knastclique Ärger macht.
Hamburg/Jork. Es war eine grausame Tat der jugendlichen Gefangenen: Ende April 2013 sollen drei Insassen der Jugendstrafanstalt Hahnöfersand in die Zelle eines Mitgefangenen gestürmt sein, ihn mit einer Suppenkelle bewusstlos geschlagen und mit einer Rasierklinge ein großes V in den Rücken geritzt haben. Weil sie ihr Opfer für einen Polizeispitzel hielten. V für V-Mann. Zuvor sollen sie und andere Angelo O., 23, wochenlang schikaniert und genötigt haben. So steht es in der Anklageschrift der Staatsanwalt. Insgesamt sieben Männer, darunter Berhan I., der im Streit um 20 Cent vor fünf Jahren einen Mann totgeprügelt hatte, müssen sich deshalb zurzeit vor dem Landgericht verantworten. Alle Angeklagten sind unter 25 Jahre alt, tragen die Haare hinten raspelkurz, haben einen Migrationshintergrund – und trotz ihres jugendlichen Alters eine erstaunliche kriminelle Karriere hinter sich. Gewaltdelikte inklusive.
Der Fall ihres Mandanten sei ein Beispiel für den rüden Umgang hinter den Gittern von Hahnöfersand – wenn auch ein sehr drastisches, sagt die Anwältin von Angelo O., Karin Prasetyo. Die Justizbehörde verzeichnet in der Jugendstrafanstalt jährlich rund 40 bekannt gewordene Tätlichkeiten unter den Gefangenen – 45 waren es 2013, der höchste Wert seit mindestens fünf Jahren. Vorwiegend erfasst worden seien demnach „situationsbedingte Körperverletzungen“, Nötigungen und Beleidigungen. In keiner anderen Justizvollzugsanstalt in Hamburg sitzt die Faust so locker wie in Hahnöfersand, zumindest, wenn man die Zahl der körperlichen Auseinandersetzungen in Relation zur Zahl der Gefangenen setzt.
Studie: Für jugendliche Strafgefangene sind Gewalterfahrungen alltäglich
Das geht aus der Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage des CDU-Innenexperten André Trepoll hervor. Aus Sicht der Justizbehörde ein Ergebnis, das kaum überrascht. In der Forschung gelte es als gesichert, dass Gewalt unter Gefangenen im Jugendstrafvollzug besonders häufig vorkommt, weil die Täter selbst Gewalterfahrungen gesammelt hätten und zum großen Teil wegen Gewaltdelikten verurteilt worden seien. Forscher der Uni Köln, die sich seit 2010 mit dem Projekt „Gewalt und Suizid im Jugendstrafvollzug“ befasst, kommen zum Schluss, dass „Gewalterfahrungen für nahezu jeden jugendlichen Strafgefangenen“ alltäglich sind.
Dabei bildet Hahnöfersand im Bundesvergleich keine Ausnahme. Im Gegenteil: Die Ausgangsbedingungen seien „grundsätzlich positiv“, sagt Thomas Baehr, Sprecher der Justizbehörde. So habe das Antifolterkomitee des Europarats festgestellt, dass die Überbelegung von Haftanstalten und die Mehrfachbelegung von Hafträumen die Ausbildung „subkultureller Strukturen“ begünstige. Beides sei im Hamburger Jugendvollzug nicht der Fall, so Baehr. Vom 1. November an soll zudem ein wissenschaftlich begleitetes Projekt des UKE zur Gewalt- und Suchtprävention in Hahnöfersand starten.
Außerordentlich ist der Fall Angelo O. allemal. „Der jetzt vor dem Landgericht verhandelte erschütternde Vorfall ist in dieser Form ein Einzelfall“, sagt Baehr. Als Lehre daraus habe man bereits nachjustiert. Meint: Situationen wie Gefangenenbesuche sowie die Sport- oder Freizeitbereiche werden ab sofort besser überwacht, ein Auge haben die Justizbeamten künftig auch auf die „Ausgestaltung des Einkaufs“. Aufgabe und Ziel des Jugendvollzugs sei es schließlich, jungen Leuten zu vermitteln, dass Gewalt eben keine Lösung ist. Die Behörde setzt daher auf spezielle Antikonfliktprogramme.
Angelo O. hat lange gezögert, vor Gericht als Zeuge auszusagen. Aus Angst vor den Angeklagten. Nach seiner Entlassung war er nach Angaben seiner Anwältin von Unbekannten überfallen worden. Sie hatten ihn gewarnt, er solle „aufpassen, was er sagt“. Danach tauchte der 23-Jährige unter. Zu seiner zeugenschaftlichen Vernehmung ist er aber jetzt doch vor Gericht erschienen. „Mein Mandat hat sich dazu entschlossen, weil er über die Missstände und Strukturen in Hahnöfersand berichten will“, sagte Prasetyo dem Abendblatt. Das tat Angelo O. auch, ausführlich und ungeschönt. Er sei längst nicht der Einzige gewesen, der von der Knastclique als Drogenkurier missbraucht werden sollte, der massiv unter Druck gesetzt worden sei. Wer sich der Gruppe entgegenstellte, sei mit Drohungen und Schlägen gefügig gemacht worden.
So wie er selbst. Gerade die Besuche bei den Gefangenen sind laut Angelo O. die Einfallstore für Drogen in die Jugendstrafanstalt. Er und mindestens zwei weitere Gefangene seien genötigt worden, für die Angeklagten Drogen ins Gefängnis zu schmuggeln – sie sollten am Freitag als Zeugen gehört werden, erschienen aber nicht. Angelo O. sollte ein Handy und „25 Haschkugeln“ über seine Freundin und seine Kinder in die Anstalt bringen lassen. Angelo O.: „Die brauchten einfach nur einen Doofen, der ihnen die Sachen hineinbringt. Und sie wollten meine Kinder benutzen. Aber nicht mit mir.“ Seine Weigerung kam den 23-Jährigen teuer zu stehen.
In der Justizvollzugsanstalt war dem Personal bekannt, dass die Knastclique von Station 4.3. Ärger macht. Eine Beamtin habe ihm gesagt, er solle „aufpassen“, es handele sich um eine „schlimme Station“, so Angelo O. Neben dem verbalen Terror der Angeklagten, die auf der Drogenlieferung beharrten, stahlen sie ihm Tabak, Kaffee und Getränkegranulat. Als die Situation unerträglich wurde, sei er zwar auf die benachbarte Wohngruppe 4.4. verlegt worden – doch da sei die Schikane gleich weitergegangen, die kriminellen Netzwerke funktionierten offenbar stationsübergreifend. Auf 4.4. liefen die Fäden nach Aussage von Angelo O. bei Mohammed „Cisco“ B. zusammen. Mit einem Leidensgenossen habe er sich „mehrfach“ an die Justizbeamten gewandt. Passiert sei zu wenig, die Beamten hätten bloß abgewiegelt. Die Justizbehörde widerspricht: Die Bediensteten hätten korrekt reagiert und die beiden von Angelo O. benannten Peiniger umgehend von ihm getrennt und auf eine andere Station verlegt. Auch sie sollen noch als Zeugen gehört werden.
Angelo O. erlitt eine Verletzung der Milz und eine schwere Gehirnerschütterung
Dem Gefängnispersonal fällt eine hohe Verantwortung im Jugendknast zu: Ihnen steht ein breites Tableau an disziplinarischen Instrumenten zur Verfügung. Wer sich krass danebenbenimmt, dem kann das Betreten der Räume von Mitgefangenen verboten, der kann sogar auf einer isolierten Station untergebracht werden. Zudem werde jeder Verdacht einer Straftat zur Anzeige gebracht – dergleichen ist nach Aussage von Angelo O. in seinem Fall aber nicht passiert.
Seinen Peinigern waren die Gespräche mit den Justizbeamten indes aufgefallen. Die Legende war nach der Verlegung von zwei der jetzt Angeklagten schnell herbeifantasiert: Angelo müsse ein V-Mann der Polizei sein. Wenn der hier den Spitzel spielen wolle, gebe es „auf die Fresse“, ließ man ihm ausrichten. Am 28. April sollen dann der bullige Cumali D., Yusuf A. und ein weiterer, bisher unbekannter Mann ihn verstümmelt haben. Laut Anklage war das V, das die Männer in seinen Rücken geritzt hatten, 24 Zentimeter lang. Vier Wochen musste sich 23-Jährige, der zudem eine Verletzung der Milz und eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hatte, im Krankenhaus erholen. Von den psychischen Folgen zu schweigen.
Nach Angaben von Anwältin Prasetyo, die bereits häufig mit Gewalt in Hahnöfersand zu tun hatte, handelt es sich um eingeschliffene Strukturen der Gewalt und der Unterdrückung. „So gut wie niemand, den ich dort besucht habe, hatte keine Beulen“, sagt sie.
Der Prozess gegen die sieben Mitgefangenen von Angelo O. zieht sich bis Ende September. Bis auf die Schläger werden die meisten Angeklagten, so ließ es das Gericht bereits durchblicken, wohl mit Geldstrafen und Erziehungsmaßregeln davonkommen.