Der Vorschlag von „Mehr Demokratie“, die Stadt in eigenständige Gemeinden aufzuteilen, stößt auf erbitterten Widerstand bei der SPD. Sie fürchtet, dass dann „St. Florian“ regieren wird. Ein Streitgespräch.
Hamburg. Die Beteiligung an der Wahl zu den Bezirksversammlungen war so schlecht wie nie zuvor. Zugleich gab es sehr viele ungültige Stimmen. Bürgermeister Olaf Scholz und SPD-Fraktionschef Andreas Dressel sehen Gründe dafür auch im komplizierten Wahlrecht und der Kopplung an den Termin der Europawahl. Beim Streitgespräch in der Abendblatt-Redaktion diskutiert Dressel mit einem der Erfinder des Wahlrechts, Manfred Brandt vom Verein Mehr Demokratie, über mögliche Veränderungen. Brandt kontert die Kritik mit einem revolutionären Vorschlag: Er will Hamburg in mehr als sieben Einzelgemeinden zerlegen – und dies per Volksentscheid parallel zur nächsten Bundestagswahl durchsetzen. Hamburg brauche echte Kommunalpolitik, so Brandt. SPD-Mann Dressel warnt: Mit einer Zersplitterung würde Hamburg handlungsunfähig.
Hamburger Abendblatt: Herr Brandt, wie viele Kandidaten aus Ihrem Wahlkreis kannten Sie persönlich oder wussten zumindest, wer sich da zur Wahl stellte?
Manfred Brandt: Alle kannte ich natürlich nicht persönlich, aber ich kannte eine ganze Menge, sodass ich meine Wahlentscheidung richtig gut treffen konnte. In Städten wie München oder Frankfurt gibt es noch viel mehr Kandidaten, und dort ist das überhaupt kein Problem. In Hamburg haben wir leider ein unschönes Phänomen: Die Parteien haben das Wahlrecht noch nicht angenommen, deswegen machen sie ihre Kandidaten der hinteren Plätze nicht bekannt. Sie werben nur für die Spitzenkandidaten und verhindern, dass andere Bewerber sich selbst bekannt machen. Das muss sich noch ändern.
Andreas Dressel: Wie groß soll der Schilderwald denn noch werden? Die Stadt war doch voll mit Kandidaten-Plakaten. Wir sollten nicht drumherum reden: Die Wahlbeteiligung ist dramatisch um fast 14 Prozent zurückgegangen. Wir sollten uns gemeinsam ansehen, ob das auch am Wahlrecht gelegen hat – oder an der Kopplung der Bezirksversammlungswahlen an die Europawahl. Mehr Demokratie ist nicht, wenn weniger zur Wahl gehen. Auch die hohe Zahl von ungültigen Stimmen, zum Teil mehr als fünf Prozent, muss uns zu denken geben.
Brandt: Ich finde es interessant, dass die SPD und der Bürgermeister jetzt genau das Wahlrecht kritisieren, mit dem sie 2011 die absolute Mehrheit in der Stadt gewonnen haben. Denn dieses Wahlrecht galt ja damals auch schon. Die Kopplung an die Europawahl ist auch keine Besonderheit. Das wird bei Kommunalwahlen in zehn anderen Bundesländern auch so gehandhabt. Die niedrige Wahlbeteiligung hat übrigens auch viel damit zu tun, dass die 16- und 17-Jährigen, die erstmals wählen durften, sich kaum beteiligt haben ...
Dressel: Ja, auch das müssen wir angehen – mit noch mehr Aufklärungsarbeit an den Schulen.
Brandt: ... und natürlich ist es es nicht gut, wenn es viele ungültige Stimmen gibt. Aber wir befinden uns auch in einem Lernprozess. Ein gutes Wahlrecht ist immer ein Kompromiss aus zwei Elementen: Es soll so einfach wie möglich sein, den Wählern aber auch so viel Einfluss wie möglich geben.
Dressel: So einfach wie möglich? Zumindest in den Bezirkswahlkreisen kannten die meisten keinen oder nur wenige Kandidaten. Es darf doch kein Wahllotto werden, bei dem nachher einfach nach Beruf oder Wohnort gewählt wird – gerade Letzteres benachteiligt gute Kandidaten aus kleinen Stadtteilen. Im Sinne demokratischer Auswahl, bei der auch Inhalte entscheiden sollen, ist das nicht.
Brandt: Deswegen sage ich ja: Schicken Sie Ihre Kandidaten in der Kommunalpolitik zu den Menschen. Das müssen Leute sein, die sich um ihre Stadtteile kümmern. Dann sind sie präsent und werden bekannt und werden auch gewählt. Das ist die Aufgabe der Parteien.
Kann es sein, dass die geringe Beteiligung auch damit zu tun hat, dass die Menschen wissen, dass die Bezirksversammlungen so gut wie keine Entscheidungsbefugnis haben?
Brandt: Ja, das hat sehr viel damit zu tun. Die Bezirksversammlungen haben in Hamburg kaum etwas zu entscheiden. Sie können ja noch nicht einmal ein Verkehrsschild umstellen, das entscheidet am Ende die Innenbehörde. Das ist natürlich in einer Demokratie ein richtig großes Problem, dass Sie Leute wählen sollen, die überhaupt keine abschließende Kompetenz haben.
Und warum war Ihnen dann ein neues Wahlrecht so wichtig, wenn die Bezirksversammlungen doch nur vergleichsweise unwichtige Verwaltungsgremien sind?
Brandt: Wir befinden uns seit 1998 in einem Prozess – hin zu mehr echter Kommunalpolitik. Hin zu mehr Einfluss der Menschen vor Ort, auch über Bürgerentscheide. Dieser Prozess läuft noch.
Und wo soll er enden?
Brandt: Aus unserer Sicht sollte er bei echten Gemeinden innerhalb Hamburgs enden. Ein Bundesland ohne kommunale Ebene, das funktioniert auf die Dauer nicht gut, weil die Menschen vor Ort nicht genug Beachtung finden und zu wenig Einfluss haben. Wir sind dafür, Hamburg in mehrere echte Gemeinden zu gliedern. Die Zahl sollte nach unseren ersten Überlegungen höher sein als die der Bezirke, weil manche Bezirke sehr willkürlich geschnitten sind. Wir arbeiten derzeit an einem Gesetzentwurf. Unser Ziel ist ein Volksentscheid über die Einführung von Gemeinden in Hamburg parallel zur nächsten Bundestagswahl.
Dressel: Wir sind strikt gegen die Zersplitterung Hamburgs in Gemeinden. Wir sind ein Stadtstaat mit einer langen Tradition. Alle Herausforderungen der letzten Jahrzehnte – vom Wiederaufbau angefangen – hat Hamburg als Einheit gemeistert. In unserer Stadt jetzt neue politische Grenzen hochzuziehen ist doch absurd in einer Zeit, wo wir Kooperationen in der Metropolregion ausbauen. Mit einer Rückkehr zur Kleinstaaterei würden nur neue Probleme geschaffen und kein einziges gelöst. Das wäre fatal für die Handlungsfähigkeit dieser Stadt.
Brandt: Warum das denn?
Dressel: Weil man viele Dinge einfach nur gemeinsam als Stadt organisieren kann. Wir sind ein eng gewachsener und vielfältig verflochtener Siedlungsraum – kein kleiner Gemeindeverband im bayerischen Wald! Nehmen Sie zum Beispiel den Wohnungsbau: Diese Herausforderung können Senat und Bezirke nur gemeinsam stemmen – Gleiches gilt für den Straßenbau oder die Aufnahme von Flüchtlingen in der Stadt.
Brandt: Dafür könnte es doch Verteilungsschlüssel geben, und die Bezirke könnten dann wie jede Gemeinde in einem Flächenland auch entscheiden, wo Wohnungen gebaut oder Flüchtlinge untergebracht werden.
Dressel: Das bedeutet dann noch mehr Bürokratie. Nutzungskonflikte können in einer Großstadt nur gemeinsam entschieden werden. Das Sankt-Florians-Prinzip würde endgültig überhandnehmen, weil jede Kommune bei schwierigen Flächenfragen erst einmal sagt: nicht bei mir. Und: Macht jeder dann seine eigene Verkehrsplanung? Sollen dann Radwege an der Gemeindegrenze von Barmbek nach Wandsbek enden? Insgesamt wäre das für Hamburg schlimm. Diese Stadt ist sehr gut gefahren als Stadtstaat, die Hamburger fühlen sich auch primär als Hamburger! Mit der Auflösung würden wir an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Ich bin ganz sicher, dass es gegen eine Zersplitterung Hamburgs ein überparteiliches Bündnis geben wird.
Brandt: Ich verstehe das gar nicht. In allen Parteiprogrammen steht doch, dass die Bezirke gestärkt werden sollen.
Dressel: Richtig. Wir haben den Bezirken mehr Rechte und mehr Geld gegeben – z. B. aus dem Quartiersfonds und dem Förderfonds Bezirke.
Brandt: Ja, so ein bisschen Spielgeld. Was die Bezirke tun dürfen: Sie dürfen Bebauungspläne erstellen. Aber damit handeln sie sich ja nur Ärger ein und sehr viel Arbeit in den zunehmend unterbesetzten Bauämtern. Aber nicht mehr Steuereinnahmen für Kitas und viele andere Dinge, die in Kommunen wichtig sind.
Dressel: Falsch, gerade da haben wir die Bezirke gestärkt, da sie z. B. Einnahmen aus Gebühren für Baugenehmigungen für neue Bauprüfer verwenden können. Wir haben ein Anreizsystem geschaffen, wo aus den Mitteln des Wohnungsbaus Investitionen in die soziale Infrastruktur finanziert werden können. Natürlich können die Bezirke keine Steuern erheben, das ist Aufgabe der Gesamtstadt. In einem zusammenhängenden Siedlungsraum wie Hamburg sind wir alle aufeinander angewiesen: Wirtschaft, Wohnen, Bildung, Arbeit – all diese Funktionen können wir nur gemeinsam organisieren. Da ist der Streit um die Elbvertiefung noch eine Kleinigkeit für Hamburgs Zukunftsfähigkeit gegen Ihr Vorhaben, Hamburg in viele Gemeinden zu zersplittern. Da kann ich wirklich nur eindringlich davor warnen.
Kann es sein, dass die SPD ein bisschen die Lust an der direkten Demokratie verloren hat?
Dressel: Nein, wir haben sie noch ausgebaut, weil wir sie richtig und wichtig finden. Seit 2011 haben wir gemeinsam mit Mehr Demokratie die Volksentscheide und die Bürgerbegehren novelliert. Das war gut für die politische Kultur. Auch wenn wir den Volksentscheid zu den Energienetzen knapp verloren haben, war es ein demokratischer Gewinn für Hamburg, und wir setzen Volkes Wille jetzt exakt um. Aber es gibt auch Themen, bei denen Herr Brandt und ich anderer Meinung sind – wie jetzt bei seinem Vorhaben, Hamburg aufzuspalten.
Brandt: Das Kernproblem, das wir haben, ist doch die abnehmende Akzeptanz der Parteien und damit auch der parlamentarischen Demokratie. Die Wahlbeteiligung sinkt, wir erleben eine soziale Spaltung der Stadt. Wie aber können wir diese Probleme lösen? Wir sagen: Das geht nur, wenn die Parteien in den Stadtteilen überzeugende Kandidaten aufbauen. Die Menschen müssen merken: Hier sind welche, die sich um uns kümmern. Die setzen sich für unsere Belange ein, die können wir wählen. Das ist die Grundidee, warum wir uns für Gemeinden in Hamburg einsetzen wollen.
Aber diese Idee hängt doch nicht mit der Wahlrechtsänderung zusammen.
Brandt: Wir haben ja darüber gesprochen, dass die Bezirksversammlungen nicht einmal Schilder aufstellen dürfen und im Grunde vollkommen machtlos sind. Vieles wird sich ändern, wenn Kommunalpolitik wirklich wichtige Dinge entscheiden kann. Und das neue Wahlrecht wird sich weiter einüben. Man geht von drei Wahlperioden aus, danach ist das eingeübt.
Dressel: Herr Brandt, Sie haben ein Idealbild von einem informierten Bürger, der sich alle Parteiprogramme und lange Kandidatenlisten durchliest. Diese Wahl hat doch gezeigt, dass das leider nicht durchgängig der Realität entspricht.
Brandt: Ach, wissen Sie, dieses dauernd wiederholte Argument, die Hamburger seien mit dem Wahlrecht überfordert, das beleidigt doch auch die Wähler. Warum klappt das denn woanders seit Jahrzehnten ohne Probleme? Die Hamburger sind doch nicht dümmer als andere.
Dressel: Nein, aber was uns Sorgen macht, ist die soziale Schere, die sich auch durch die Ergebnisse zieht. In Wohldorf-Ohlstedt hatten wir 40,6 Prozent Wahlbeteiligung und in Jenfeld 19,8 Prozent. Gerade die Schwächeren in der Stadt, die auf gute Politik besonders stark angewiesen sind, gehen unterdurchschnittlich zur Wahl. Das muss uns doch gemeinsam alarmieren.
Brandt: Das Wahlrecht bietet ja gerade die Chance zu einer positiven Veränderung. Die Parteien brauchen mehr engagierte Leute vor Ort. Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel: Wir haben mal untersucht, wo die Bürgerschaftsabgeordneten wohnen. Die wohnten alle, durchweg alle, in den bevorzugten Stadtteilen.
Dressel: Das muss schon lange her sein, heute sind wir überall vor Ort verankert.
Brandt: Ja, weil es sich durch das neue Wahlrecht geändert hat. Und das ist auch gut. Sie müssen endlich echte Kümmerer in die Stadtteile bekommen. Und diese müssen von den Parteien gefördert werden. Dann wird auch die Wahlbeteiligung wieder wachsen. So ist das Wahlrecht angelegt. Aber davor stehen derzeit parteiinterne Machtfragen.
Meine Herren, Sie haben zuletzt bei der Volksgesetzgebung viel zusammengearbeitet. Diese Zeiten scheinen vorbei. Die SPD will das Wahlrecht offenbar wieder ändern, und Mehr Demokratie die Einheitsgemeinde per Volksentscheid auflösen. Ein offener Konflikt. Wie geht das weiter für Hamburg?
Dressel: Alleingänge der SPD zur Änderung des Wahlrechts wird es nicht geben. Wir wünschen uns aber einen offenen Dialog in der Stadt darüber, ob es Schwächen im Wahlrecht gibt – gerne gemeinsam mit Mehr Demokratie. Das bezieht sich zum Beispiel auf die Frage, ob man auch in den Bezirkswahlkreisen ergänzend eine Parteienstimme einführt, weil viele Kandidaten einfach nicht bekannt genug sind. Auch über die Verknüpfung mit der Europawahl sollte man reden. Was die Zersplitterung Hamburgs in viele Gemeinden angeht, habe ich es klar gesagt: Wir lehnen eine solche Volksinitiative ab.
Brandt: Was das Wahlrecht angeht, so sollte nach so vielen Jahren endlich mal Ruhe sein. Und auch beim Thema Gemeinden gilt, und das ist ja das Schöne: Am Ende entscheiden das die Wähler.
Das Gespräch führten Jens Meyer-Wellmann, Peter Ulrich Meyer und Matthias Iken
Folgen Sie dem Autor bei Twitter: @jmwell