Die Diskussion um Gefahrengebiete beschäftigt Hamburg weiter. An ihrer rechtlichen Grundlage will die SPD-Alleinregierung aber nichts verändern. Dr. Christian Ernst, Experte für Verwaltungsrecht kritisiert dies.

Hamburg. Die Hamburger Polizei muss beim Erlass der umstrittenen Gefahrengebiete nach Meinung des Verwaltungsrechtsexperten Christian Ernst genauere Vorgaben bekommen. „Man muss sich fragen: Ist das eine effektive Grenze, wenn man es allein der Polizei überlässt, wie groß ein Gefahrengebiet sein soll, wie lange es besteht und wer dort konkret kontrolliert wird?“, sagte der Rechtswissenschaftler von der Bucerius Law School in einem Interview. Die Polizei hatte nach schweren Krawallen im Dezember vergangenen Jahres und Angriffen auf Polizisten ein Gefahrengebiet in bislang ungekannter Größe eingerichtet. Dort konnte sie verdachtsunabhängig jeden kontrollieren.

In Hamburg hat die Polizei das Recht, Gefahrengebiete auszurufen. Ist die Hansestadt damit ein rechtlicher Sonderfall in Deutschland?

Dr. Christian Ernst: Es gibt durchaus vergleichbare Vorschriften in anderen Bundesländern. Das Besondere an diesen Regelungen ist, dass man anlassunabhängig Personen kontrollieren kann. Das gibt es beispielsweise auch in Grenzgebieten. Zudem haben einige Bundesländer Vorschriften, die solche Kontrollen im öffentlichen Verkehrsraum ermöglichen.

Und was unterscheidet diese Regelungen von jenen in Hamburg?

Ernst: Der größte Unterschied ist, dass sich die Auswirkungen in einem Stadtgebiet wie Hamburg anders zeigen, als in einem Grenzgebiet oder in einem Flächenstaat. Dort betrifft es praktisch vor allem den Verkehr auf Bundesstraßen oder vergleichbaren Durchgangsstraßen. In Hamburg betrifft es aber generell den „öffentlichen Raum“, und das heißt, den Wohnort und Lebensmittelpunkt Zehntausender Einwohner.

Warum gibt es so viel Kritik daran? Das Verwaltungsgericht hat doch bestätigt, dass die Regelung verfassungskonform ist.

Ernst: Das stimmt. Das Verwaltungsgericht hat aber die Berufung zugelassen. Das heißt, sie haben den Weg geöffnet, dass sich auch das Oberverwaltungsgericht der Sache noch mal annehmen kann. Das passiert nicht oft. Das Verwaltungsgericht hat sich sehr ausführlich mit dem Gesetz auseinandergesetzt. Aber man muss sich überlegen, ob wirklich alle Probleme der Vorschrift erörtert sind.

Sie sehen da also noch offene Fragen?

Ernst: Das Verwaltungsgericht hat sich vor allem mit den Maßnahmen beschäftigt, die dieser Paragraf in Hamburg erlaubt: das Anhalten von Personen, die Identitätsfeststellung und die Inaugenscheinnahme mitgeführter Sachen. Sie haben sich aber nicht damit beschäftigt, ob schon die Ausweisung eines solchen Gefahrengebietes eine eigene gesetzliche Grundlage bräuchte. Im deutschen Rechtssystem braucht jeder Grundrechtseingriff durch eine staatliche Maßnahme eine Rechtsgrundlage.

Und die Einrichtung eines Gefahrengebiets ist per se ein Grundrechtseingriff?

Ernst: Viele Menschen fühlen sich dadurch in ihrem Alltag beeinträchtigt. Sie verhalten sich anders, ziehen sich zum Beispiel anders an. Das wird man als Grundrechtseingriff verstehen können. Die Vorschrift enthält allerdings keine Befugnis, ein Gefahrengebiet auszurufen. Ohne eine gesetzliche Grundlage dürfte die Polizei aber nicht in Grundrechte des Bürgers eingreifen. Die Vorschrift scheint lediglich davon auszugehen, dass es so etwas wie ein Gefahrengebiet bereits gibt. Dementsprechend ist auch nicht einmal ausdrücklich geregelt, in welcher Art und Weise es zustande kommt.

Kann die Polizei damit bei seiner Einrichtung schalten und walten wie sie will? Es gibt keine Grenze?

Ernst: Die Grenze sind allenfalls „konkrete Lageerkenntnisse“, die im Hinblick auf Straftaten von erheblicher Bedeutung bestehen sollen. Jetzt kann man fragen: Was sind konkrete Lageerkenntnisse? Das sollen vor allem polizeiliche Erfahrungen und von der Polizei gesammelte Informationen sein. Man muss sich fragen: Ist das eine effektive Grenze, wenn man es allein der Polizei überlässt, wie groß ein Gefahrengebiet sein soll, wie lange es besteht und wer dort konkret kontrolliert wird? Angesichts der Auswirkungen sollte der Gesetzgeber der Polizei konkretere Vorgaben machen.

Ernst: Wenn sich andere Bundesländer an Hamburg ein Vorbild nehmen würden: Müssen wir dann einen Flickenteppich an Sonderzonen mit Bürgerrechtseingriffen in deutschen Städten befürchten?

Ernst: Theoretisch wäre das denkbar. Praktisch halte ich es für kein realistisches Szenario. Ich habe Zweifel, ob das, was in Hamburg passiert ist, für andere Länder und Städte als Vorbild taugt.

Dr. Christian Ernst ist Dozent an der Bucerius Law School in Hamburg. Der 35 Jahre alte Rechtswissenschaftler beschäftigt sich vor allem mit dem Verwaltungsrecht, zu dem auch das Hamburger Polizeirecht zählt.