Polizei nimmt entflohenen Häftling am Mittwochabend in Lohbrügge fest. Zuvor hatte es Lücken in der Fahndung nach Thomas S. gegeben. Untersucht wird derzeit, warum der 25-Jährige aus der U-Haft entweichen konnte.
Jenfeld/Lohbrügge. Vier Tage hat es gedauert, bis am Mittwochabend um 19.15 Uhr die Handschellen klickten. In Lohbrügge im Bezirk Bergedorf ging die spektakuläre Flucht von Thomas S. zu Ende, Polizisten nahmen den Ausbrecher fest. Tagsüber waren erhebliche Vorwürfe an der Arbeit der Ermittler bekannt geworden, denn offenbar gab es eine Lücke in der Fahndung – der 25 Jahre alte Häftling soll bei seiner Mutter in Jenfeld aufgetaucht und von ihr verarztet worden sein, ohne dass die Polizei das mitbekam.
Von den Saga-Hochhäusern an der Schweidnitzer Straße in Jenfeld sind es nur wenige Hundert Meter bis zur Landesgrenze und ins schleswig-holsteinische Barsbüttel. Hier ist Thomas S. aufgewachsen, hier kennt er sich aus. Es gibt Grünanlagen zu beiden Seiten, eine Unterführung führt zu Sport- und Spielplätzen und zu einem Kindergarten. Wie ein Band aus Dominosteinen ziehen sich die auf den ersten Blick überaus gepflegten mehrstöckigen Bauten entlang der Straße. Seine Mutter wohnt noch immer im obersten Stockwerk eines der Häuser.
Anfang dieser Woche erhielt die Frau unerwarteten Besuch. Wie das Abendblatt erfuhr, soll der 25-Jährige Intensivtäter seine Mutter wenige Stunden, vielleicht auch Tage, nach seiner Flucht aufgesucht haben. Sie soll ihn versorgt und seine Wunden am Arm, die er sich beim Übersteigen eines Sicherheitszauns am Holstenglacis zuzog, verbunden haben. Diese Informationen stammen aus einem Gespräch zwischen der Mutter des Mannes und Ermittlern. Allerdings soll sich die Mutter selbst nicht ganz sicher gewesen sein, wann dieser Besuch stattgefunden habe. Darüber hinaus verweigert sie die Zusammenarbeit mit der Polizei.
Die „Bild“-Zeitung hatte am Mittwoch einen Nachbarn zitiert, der Thomas S. drei Tage nach der Flucht in dem Wohnblock gesehen haben will. Dem Abendblatt gegenüber hatte die Frau hingegen erklärt, ihren Sohn seit längerer Zeit nicht mehr gesehen zu haben. Zudem wünsche sie gar keinen Kontakt mehr zu ihm. Die Polizei hatte nach dem Gespräch mit der Mutter des Entflohenen einen Durchsuchungsbeschluss beantragt und am Dienstag die Wohnung der Frau sowie die Kellerräume des Wohnblocks durchsucht. Die Aktion war jedoch ohne Erfolg geblieben.
„Wenn die Polizei die Mutter als erste Bezugsperson beziehungsweise deren Wohnung nicht lückenlos überwacht hat, dann ist das wenig verständlich“, sagte André Trepoll, justizpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion. „Es ist ein Rätsel, wieso er da ein- und ausgehen konnte.“ Wie das Abendblatt erfuhr, ist für eine durchgehende Observation von Personen – wie auch bei einer Durchsuchung oder einer Verhaftung – ein richterlicher Beschluss nötig. Bei „Gefahr in Verzug“ kann der Beschluss auch im Nachhinein angefordert werden. Die rechtlichen Hürden für eine solche Überwachung sind hoch. Ob ein solcher Beschluss für die Mutter des 25-Jährigen vorliegt, ist nicht bekannt. Andernfalls hätten die Zivilfahnder nur die Möglichkeit, sporadisch bei ihr anzuklopfen, sagte ein erfahrener Beamter.
Der 25-Jährige, der wohnungslos ist, habe mehr als ein Dutzend Anlaufstellen in der Stadt, erfuhr das Abendblatt. Zudem sei das Gelände an der Schweidnitzer Straße relativ schlecht zu überwachen, da die Keller aller Aufgänge miteinander verbunden seien, es zahlreiche Verstecke und Schleichwege auf dem Gelände gebe. Der Gesuchte kenne sich in seinem Viertel sehr gut aus. Nachbarn berichteten, dass sie Thomas S. vor drei bis vier Wochen auf dem Hinterhof des Wohnhauses gesehen haben. Er habe oft auf dem Sportplatz hinter dem Haus mit anderen jungen Männern gesessen und geraucht.
Mitte Juni hat S. eine 60-Jährige in ihrer Wohnung in einer Anlage an der Oppelner Straße, nur zwei Parallelstraßen vom Wohnort der Mutter entfernt, überfallen und sexuell genötigt, so der Vorwurf. Nach seiner Flucht waren bei der Polizei mehrere Hinweise eingegangen, darunter „einige sehr gute“, sagte Pressesprecher Andreas Schöpflin. Am Dienstag hatte die Polizei ein Foto des 25-Jährigen veröffentlicht, die Staatsanwaltschaft hatte zudem eine Belohnung in Höhe von 2000 Euro für Hinweise ausgesetzt, die zur Ergreifung des Flüchtigen führen.
Untersucht wird derzeit, warum der 25-Jährige in der Nacht zu Sonnabend aus der U-Haft entweichen konnte. „Die technischen Systeme haben funktioniert“, sagte Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD) mit dem Abendblatt. Ob folglich menschliches Versagen für den Ausbruch verantwortlich war, ließ sie offen.
Thomas S. hatte unter anderem die Geräuschkulisse des Dom-Feuerwerks genutzt, um mit einem Besenstiel, einem Tischbein und seinem Besteck ein Loch in die marode Mauer des Zellenflügels B der Haftanstalt am Holstenglacis zu brechen. Dann seilte er sich mit seinem Bettlacken ab und verschwand über den Hof, die Mauer und einen äußeren Sicherheitszaun. Seine Spuren endeten am U-Bahnhof Gänsemarkt. Welchen Weg er danach nahm, ist unklar. Auch wo er sich während seiner Flucht aufgehalten hat, werden erst die weiteren Ermittlungen ergeben.