Nach der Flucht eines Kriminellen aus der U-Haft kritisiert die Opposition die Justizsenatorin. Von dem Flüchtigen fehlt noch jede Spur. Möglicherweise war der Hof zu schlecht ausgeleuchtet.
Hamburg. Auch länger als zwei Tage nach der spektakulären Flucht eines 25-jährigen Intensivtäters aus der Untersuchungshaftanstalt (UHA) am Holstenglacis hat die Polizei noch keine heiße Spur. Wie das Abendblatt erfuhr, gehen die Ermittler mittlerweile davon aus, dass Thomas S. am U-Bahnhof Gänsemarkt in einen Zug gestiegen sein könnte. Die Beamten werten derzeit Videoaufnahmen aus, um den Fluchtweg des Mannes nachzuvollziehen und zu sehen, ob er möglicherweise in eine andere Bahn umstieg, und wo er ausstieg. Blutspuren hatten die Beamten am frühen Sonnabendmorgen von der Außenmauer der UHA in die Innenstadt geführt, wie die Justizbehörde am Wochenende mitgeteilt hatte.
Auf Ermittlerseite, die sich bemüht, den polizeibekannten Wohnungslosen einzufangen, zeigt man sich verärgert über die detailreiche Beschreibung der Flucht und weiterer Ermittlungsergebnisse durch Justizbehördensprecher Tim Angerer. Die Pressemitteilung lese sich wie eine „Anleitung zur Flucht“, monierte ein Beamter. Einer Öffentlichkeitsfahndung samt Foto des Ausbrechers ist bislang nicht stattgegeben worden. Dafür benötigt die Polizei einen richterlichen Beschluss. Zuvor muss sie allerdings ihre Fahndungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben.
Unterdessen wächst der politische Druck auf Justizsenatorin Jana Schiedek (SPD). „Anscheinend ist die Untersuchungshaftanstalt löchrig wie ein Schweizer Käse, anders lässt sich diese abenteuerliche Flucht nicht erklären“, sagte der CDU-Justizpolitiker André Trepoll. Man müsse sich fragen, warum nicht längst eine Öffentlichkeitsfahndung eingeleitet worden sei.
Die Opposition aus Union, FDP und Grünen hatte in der Vergangenheit mehrfach auf den Sanierungsstau in der UHA hingewiesen. In den Antworten des Senats auf Anfragen von FDP und Grünen wird der finanzielle Bedarf für die Grundinstandsetzung des B-Flügels, aus dem Thomas S. die Flucht gelang, mit zehn (2011) bzw. 14 Millionen Euro (2012) angegeben. Bis 2015 hat der SPD-geführte Senat offensichtlich bislang keine Ausgaben für die Sanierung vorgesehen.
Das ist deswegen bedeutend, weil die marode Bausubstanz des B-Flügels eine Voraussetzung für die Flucht war. Thomas S. gelang es, mit Besenstiel, Tischbein und Löffel das Mauerwerk so zu lockern, dass er Steine herausbrechen konnte. Schon vor sechs Jahren war einem Häftling auf dieselbe Art die Flucht aus dem Gebäude gelungen.
„Diese unhaltbaren Zustände hat Senatorin Schiedek zu verantworten“, sagte die FDP-Justizpolitikerin Anna von Treuenfels. Der Sanierungsstau in der UHA belaufe sich insgesamt auf 22 Millionen Euro, in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel auf 43 Millionen Euro. Die SPD-Politikerin sei „in besonderem Maße für jede Flucht verantwortlich, die durch simpelste Ausbrechertricks gelingt“, so von Treuenfels.
„Allein die Tatsache, dass das Mauerwerk mit einfachstem Gerät in 20 Minuten zerstört werden konnte, offenbart einen katastrophalen Zustand des U-Haftgefängnisses“, sagte auch Grünen-Justizexperte Farid Müller. In einer Senatsanfrage erkundigt sich Müller nach Details der Sicherungsmaßnahmen und ihrer Einhaltung.
Es sind wohl auch die äußeren Bedingungen der Haftanstalt, die die Flucht begünstigt haben. Wie das Abendblatt aus Justizkreisen erfuhr, soll die Beleuchtung in Hof 1 aufgrund der aktuellen Bauarbeiten nur behelfsmäßig und nicht ausreichend sein. Möglicherweise hätte der Bedienstete, der die Kameras in Hof 1 nach der Alarmauslösung zwischen Mitternacht und 0.45 Uhr bediente, den Ausbrecher erkannt, wäre der Hof besser ausgeleuchtet gewesen. In der Nacht des Ausbruchs lief zudem nur ein Wachmann des privaten Sicherheitsunternehmens Weko Streife. Er war für zwei Höfe der Untersuchungshaftanstalt zuständig. Allerdings sind die Höfe so voneinander getrennt, dass sie nicht eingesehen werden können. War der Weko-Mitarbeiter zum Zeitpunkt der Flucht in Hof 2 unterwegs, kann er den Ausbrecher in Hof1 nicht gesehen haben.
Wie Justizsprecher Tim Angerer auf Nachfrage mitteilte, hatte Thomas S. die 4,5 Meter hohe Anstaltsmauer an einer Stelle überwunden, die nicht mit Stacheldraht gesichert war. Grund: Dort hatte ein Wachturm gestanden, der erst kürzlich abgerissen worden war. Der Draht war noch nicht nachgerüstet worden. Angerer betonte aber, dass der 25-Jährige nach der Backsteinmauer noch die äußere Außensicherung hatte überwinden müssen, mit einem „baugleichen Sicherheitsdraht“, wie er auch auf der Mauer eingesetzt werde. „Dies tat er unter Inkaufnahme stark blutender Verletzungen.“
Rein strafrechtlich wird die Flucht für Thomas S. keine Konsequenzen haben, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwältin Nana Frombach. „Die Flucht an sich ist nicht strafbar.“ Die sei dem Freiheitsbedürfnis des Menschen geschuldet. Der Staat sei dafür verantwortlich, dafür zu sorgen, dass er nicht ausbrechen könne. „Verfolgt werden nur etwaige bei der Flucht begangene Straftaten.“ Darunter würden auch Beschädigungen am Mauerwerk der Haftanstalt fallen. Die Chance allerdings, dass bei einem Haftprüfungstermin der Haftbefehl gegen den 25-Jährigen ausgesetzt werden könnte, sei aufgrund der weiteren Fluchtgefahr wohl als äußerst gering einzuschätzen.
Welche Konsequenzen die während des Ausbruchs im Dienst befindlichen Bediensteten der UHA zu fürchten haben, ist noch nicht klar. Strafrechtliche Ermittlungen gibt es bislang nicht. Das Dezernat Interne Ermittlungen (DIE) in der Innenbehörde ist bislang nicht mit dem Fall betraut worden, erfuhr das Abendblatt. Dies wäre auch nur der Fall, sollte sich herausstellen, dass ein Mitarbeiter vorsätzlich gehandelt hat, die Flucht etwa vorbereitet hat. Dieser Verdacht besteht bislang nicht.
Thomas S. hatte sich in der Nacht zum Sonnabend mit einem Bettlaken aus dem dritten Stock des Flügels B abgeseilt, nachdem er den Fensterrahmen und Mauersteine gelöst hatte. Der Alarm, den er bei seiner Flucht ausgelöst hatte, war von den Bediensteten als Fehlalarm, als von Tieren ausgelöst, interpretiert worden. Eine Fehlentscheidung, wohl aus einer gewissen Routine heraus. So soll der Alarm in der UHA am Holstenglacis immer wieder von Katzen und Tauben ausgelöst werden. Wie das Abendblatt erfuhr, sollen durch Tiere ausgelöste Alarme in einzelnen Hamburger Gefängnissen bis zu 100-mal am Tag auftreten.