Es war eine Tat, die Deutschland schockte: Mit 23 Messerstichen hatte der Deutsch-Afghane das Leben der 16-Jährigen ausgelöscht - weil Morsal Freiheit wollte. Und leben wie andere junge Frauen auch. Hier sehen Sie Prozess-Bilder. - Hier sehen Sie Bilder aus Morsals Leben.
Sein Gesicht ist blass, seine Augen sind hasserfüllt. Nichts hält Ahmad-Sobair Obeidi mehr auf der Anklagebank, als der Vorsitzende Richter seine Urteilsbegründung beendet hat. Freiheitsstrafe. Lebenslang. Wegen Mordes an seiner Schwester.
Der 24-Jährige springt auf. "Du bist ein Hurensohn, eine Fotze", brüllt der Deutsch-Afghane den Staatsanwalt an, wirft einen Stapel Papier durch den Gerichtssaal. Aus Obeidi sprechen Wut und Empörung. Justizbeamte müssen den Angeklagten zurückdrängen, bringen ihn zu Boden. Und führen ihn durch unterirdische Gänge ins Gefängnis.
Es ist das vorläufige Ende eines Prozesses, der bundesweit für Aufsehen sorgte. Ein Prozess um den Mord an Morsal Obeidi. Die 16-Jährige musste sterben, weil ihre Familie mit dem modernen Lebensstil des Mädchens nicht zufrieden war. Mit dem Fall kam auch ein Tabuthema hoch, der Begriff der Ehre, ein bizarrer soziokultureller Hintergrund, den ein Schwurgericht nun aufarbeiten musste. Zwei Welten prallten aufeinander: Hier die afghanischen, archaischen Traditionen mit ultrastrengen Regeln, dort die Wertvorstellungen einer aufgeklärten westlichen Gesellschaft.
Was mag in Ahmad Obeidi vorgehen, in den Sekunden, als er verurteilt wird? An früheren Prozesstagen, vor Wochen, als er noch auf Milde der Richter hoffen konnte und der Ausgang des Verfahrens ungewiss war, da hatte er auch schon mal Tränen vergossen. Aber waren die Tränen damals echt?
Im Moment vor dem Urteil nun murmelt der 24-Jährige apathisch vor sich hin, die Hände hat er gefaltet wie zum Gebet. "Im Namen des Volkes, lebenslange Haft wegen Mordes", sagt der Vorsitzende Richter Wolfgang Backen, Obeidi wird kreidebleich. Er geht ein paar Meter nach hinten zur Wand, wie in Trance. Vergräbt sein Gesicht hinter seinen Händen. Nimmt wieder Platz. Szenen wie aus einem Film, im Zeitraffer. Obeidi zeigt in diesem Moment keine Regung. Starrt ins Leere. Seine Eltern, seine ältere Schwester und sein jüngerer Bruder, auch seine Freundin (eine Jura-Studentin) sitzen in der ersten Reihe bei den Zuschauern, hinter Panzerglas vom Angeklagten getrennt. Sie brechen in ein Wehgeheul aus, werden aggressiv. Hämmern gegen das Glas, wie von Sinnen. "Wer hier Krach macht, der fliegt raus", sagt der Vorsitzende Richter.
Wie versteinert sitzt Obeidi minutenlang auf seinem Platz, als Wolfgang Backen das Urteil der Großen Strafkammer 21 des Landgerichts erläutert. Eine Stunde dauert die Urteilsbegründung. Die Richter sehen es als erwiesen an, dass der junge Mann seine Schwester am 15. Mai 2008 aus Wut über ihren westlichen Lebensstil ermordete. Dass er Morsal durch einen Cousin auf einen düsteren Parkplatz am Berliner Tor in Hamburg-St. Georg locken ließ und sie mit 23 Messerstichen gezielt tötete. Die Tat sei nicht spontan gewesen, sondern "heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen". Damit folgen die Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte auf eine milde Strafe wegen Totschlags plädiert.
Der Vorsitzende Richter spricht von einem "Blutbad", das der Angeklagte vorsätzlich plante, vollendete, weil alle anderen Möglichkeiten zur "Disziplinierung" Morsals scheiterten. "Wir haben nicht den geringsten Zweifel, dass Sie Morsal getötet haben, weil Sie ihre Einstellung, wie deutsche Mädchen leben zu wollen, nicht toleriert haben. Morsals Unglück war, dass sie eine Frau war."
Entgegen der psychiatrischen Sachverständigen, Marianne Röhl, die verminderte Schuldfähigkeit annahm, geht die Kammer davon aus, dass der Angeklagte voll schuldfähig war. Auch ein anderer Gutachter des Gerichts hatte Ahmad Obeidi volle Schuldfähigkeit attestiert, war allerdings im Verfahren wegen Befangenheit abgelehnt worden. Die Richter folgten ihm dennoch in der Sache.
Einige Prozessbeobachter hatten nicht ernstlich mit einer Verurteilung wegen Mordes, sondern wegen Totschlags gerechnet, so wohl auch der Angeklagte. Nun wird er frech. Zeigt ein anderes Gesicht. Diesmal sein wahres? Obeidi, cool, machohaft, respektlos. Seine Augen wirken stechend kalt. Richter Backen: "Der Angeklagte tötete, um die sogenannte Ehre der Familie wiederherzustellen." Obeidi ruft dazwischen: "Sag mir, welche Ehre? Ich kenne keine Ehre." Eine andere Szene: Backen weist darauf hin, dass eine solche Tat auch in Kabul strafbar sei. Obeidi ruft dazwischen: "Nee, da wäre ich schon längst draußen."
Der Vorsitzende, sachlich und unaufgeregt während des gesamten Prozesses, bleibt auch bei solchen Verbalattacken souverän. Und fährt fort. Es sei Heimtücke, weil Morsal gezielt zu dem dunklen Tatort am Berliner Tor gelockt worden sei, weil Ahmad Obeidi sich ihr mit einem hinter dem Rücken verborgenem Messer genähert habe. Das verletzte Ehrgefühl als Tatmotiv habe im Vordergrund gestanden, somit habe Obeidi auch aus "niedrigen Beweggründen" gehandelt. Wolfgang Backen erläutert: "Maßstab ist die Wertevorstellung der Rechtsgemeinschaft in Deutschland, nicht die einer afghanischen Volksgruppe." Er spricht Klartext über den Angeklagten: "Er tötete aus reiner Intoleranz."
Auch Morsals Eltern kritisiert der Vorsitzende scharf. Über ihre Schuld habe das Landgericht zwar nicht zu befinden, denn weder Mutter noch Vater seien angeklagt worden. "Aber wenigstens eine hohe moralische Mitschuld trifft sie." Die Eltern hätten ihren ältesten Sohn möglicherweise "zum Vollstrecker ihrer Erziehungsmethoden" gemacht.
Backen spricht vom jahrelangen Martyrium, das Morsal durchlebt hatte. Seit 2005 hatte die Familie Morsal geschlagen, drangsaliert, auch eingesperrt. Morsal musste nach Afghanistan, wo sie ein Jahr lang zwangsweise nach eigenen Angaben "wie ein Tier" gelebt habe. Ambivalent sei das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und Morsal gewesen. Backen: "Einerseits liebte er sie, andererseits war er wütend und fürchtete, sie werde die Ehre der Familie beschmutzen", weil sie sich schminkte, mit Jungen ausging, Alkohol trank.
Belastend auch: Mehrfach hatte der Angeklagte früher gedroht, Morsal umzubringen, auch kurz vor der Tat. "Er fürchtete, der Einfluss der Familie auf Morsal würde sich reduzieren. Das Motiv für die Tat liegt darin, dass der Angeklagte der Auffassung war, Morsal beschmutze durch ihr Verhalten ihre sogenannte Ehre und die ihrer Familie."
Auf der Flucht habe Obeidi einem Taxifahrer gegenüber die Tat gerechtfertigt und ihm gesagt, er hoffe, dass Morsal tot sei.
Der Angeklagte ist kein unbeschriebenes Blatt: Seit dem 18. Lebensjahr nahm er Drogen, dealte zeitweilig auch, so die Richter. Schon mit 14 Jahren war er als ein sogenannter Intensivtäter aufgefallen, hatte seitdem zwölf Strafverfahren.
Während Backen so spricht, über Tat und Täter, dringt das Wimmern und Weinen von den Zuschauerbänken immer wieder durch das Sicherheitsglas. Das letzte Aufbäumen der Familie. 10.21 Uhr: Die Freundin des Angeklagten, eine junge afghanische Jura-Studentin, bricht in Tränen aus. Schreit. Verliert sich in Hysterie. Justizbedienstete bringen sie hinaus. "Ihr könnt euch nur an Frauen vergreifen", brüllt Obeidi den Beamten frech hinterher.
Auch die Schwester bekommt einen Weinkrampf, wird aus dem Saal gebracht. Draußen bricht sie zusammen. Sie wird mit einem Rettungswagen in ein Krankenhaus gefahren. Auch der jüngere Bruder des Angeklagten hat seinen Auftritt: Er springt plötzlich auf, hämmert gegen die Glasscheibe, brüllt wie von Sinnen. Beamte bringen auch ihn hinaus.
Die Mutter des Angeklagten bricht mehrmals in Tränen aus, auch sie ruft immer wieder dazwischen. "Hören Sie sich die Begründung an oder gehen Sie raus", versucht Backen zu beruhigen. Ihr Wehklagen wird leiser, doch nicht lange. Dann schreit und pöbelt sie wieder lauthals, vor allem, als ihr Sohn aus dem Gerichtssaal ins Gefängnis gebracht wird. Abschied für lange Zeit, mindestens für 15 Jahre, sollte das Urteil rechtskräftig werden. Minutenlang verweilt die Mutter an der Glasscheibe, die Zuschauer und Angeklagten trennt. Die Verzweiflung steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie weint, schreit und schimpft den Richtern auch dann noch hinterher, als diese längst gegangen sind. Auch draußen bekommt die Mutter sich nicht mehr in den Griff. Tumultartig sind die Szenen, die sich abspielen. Die Mutter randaliert weiter. Sie droht, aus einem Fenster des Gebäudes zu springen. Unüberhörbar für alle sind die Schimpftiraden auf Deutschland und die Justiz, auf Gott und die Welt. Draußen nimmt Ghulam-Mohamad Obeidi, der Vater von Morsal und Ahmad, eine brennende Kerze mit einem aufgedruckten Bild seiner Tochter in die Hand. Jemand hat sie zur Mahnwache vor dem Gerichtseingang aufgestellt. Er schleudert die Kerze auf die Straße, ohne zu zögern. Gewalt, Hass, bis zuletzt, von der Familie gegen Morsal.
Menschenrechtler, die vor Ort mit Transparenten an das Leiden der Deutsch-Afghanin erinnern, zünden die weiße Kerze wieder an. Ein letzter Gruß für Morsal. Ein letztes Gedenken an diesem eisigen Wintertag an jene junge Frau mit dem sympathischen Lachen, die nur leben wollte. Wie andere Teenager auch.