Achteinhalb Jahre wurde Natascha Kampusch in einem Keller festgehalten, geschlagen und missbraucht. Jetzt erscheint ihr Buch.
Dreitausendundsechsundneunzig Tage lang dauerte die Gefangenschaft von Natascha Kampusch . 3096 Tage, das waren acht Weihnachten, neun Ostern und alle Geburtstage vom elften bis zum achtzehnten. Vielleicht hat sie selbst diese Ewigkeit zum ersten Mal in Zahlen gefasst, vielleicht war es auch einer der Polizisten und Reporter, die versucht haben, ihre Geschichte zu rekonstruieren, jedenfalls hat die heute 22-Jährige nun ihre Autobiografie danach benannt. "3096 Tage" heißt das Buch (List, Berlin. 284 S., 19,95 Euro), und die Schlichtheit des Titels kontrastiert nicht zufällig mit den reißerischen Schlagzeilen der Vergangenheit.
Anders, als es der Titel verheißt, enden Gefangenschaft und Buch jedoch nicht am 3096. Tag, sondern am Tag danach. Dem Tag, an dem sie erfährt, dass sich ihr Entführer vor den Zug geworfen hat. "Mein Kopf wurde leicht", schreibt sie, " Wolfgang Priklopil war nicht mehr. Es war vorbei."
An anderer Stelle legt sie dar, warum sie überzeugt ist, dass ihr das Ende der einen Gefangenschaft den Beginn einer anderen beschert hat. Die Tat und alles, was ihr zugestoßen sei, löse - in der Öffentlichkeit - Aggressionen aus, und "da ich die Einzige bin, die nach dem Selbstmord des Täters greifbar ist, treffen sie mich". Das Buch wirkt wie der Versuch der jungen Frau, sich endlich auch aus dieser, ihrer zweiten Gefangenschaft zu befreien.
Die ersten Kapitel hat Kampusch der brüchigen Welt ihrer Kindheit gewidmet, die in der Vergangenheit oft zum Gegenstand wilder Spekulationen geworden war. Fast zwei Jahrzehnte nach ihren beiden Halbschwestern geboren, habe sie eine ungesunde Mischung aus Verhätschelung und Vernachlässigung erlebt und zu viel Zeit unter Erwachsenen oder vor dem Fernseher verbracht. Die alltäglichen Ohrfeigen der Mutter, die Trennung der Eltern und ein Hang zu Übergewicht hätten ihr das Selbstwertgefühl geraubt - und sie zu einem jener unsicheren Kinder gemacht, die besonders gefährdet seien, zum Opfer eines Verbrechens zu werden.
Bei aller Kritik wehrt sie sich jedoch indirekt gegen immer wieder aufgetauchte Gerüchte, ihre Mutter habe etwas mit dem Verbrechen zu tun. Nach der Entführung sei die Sorge um ihre ahnungslosen Eltern größer gewesen als die eigene Angst, schreibt Natascha Kampusch. Später habe sie sich die Stärke, aber eben auch die Härte ihrer Mutter zum Vorbild genommen, wenn sie dem Entführer die Stirn bot, indem sie sich zum Beispiel weigerte, ihn "Maestro" oder "Gebieter" zu nennen, obwohl er es forderte.
+++ Lesen Sie auch: Kampusch-Entführer legte bei Freund Lebensbeichte ab +++
In den Passagen über die Mutter klingt schon Entschlossenheit durch, die sich durch das ganze Buch zieht: sich den Widersprüchen in ihrer Geschichte zu stellen. All den Schwarz-Weiß-Zeichnern endlich ein nuancierteres Bild entgegenzuhalten. "Nichts ist nur schwarz und nur weiß", schreibt sie. "Und niemand ist nur gut und nur böse." In erster Linie meint sie damit natürlich den Mann, der sie achteinhalb Jahre lang in einen Keller gesperrt hat. Aus Kampuschs Perspektive hatte er mehr als nur ein Gesicht - und sich im Laufe der Jahre stark gewandelt, genau wie ihre Beziehung zu ihm. "Den Wolfgang" oder "Wolfi" nannte sie ihn in dem Tagebuch, das sie in ihrem Verlies schrieb, in ihrer Autobiografie heißt er nur noch "der Täter". (Dass es Mittäter gegeben habe, auch das betont sie wieder, könne sie zwar nicht ausschließen, sie habe jedoch nie welche gesehen.)
In den ersten Jahren nach der Entführung im März 1998 gönnte der schmächtige Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil seinem Opfer mitunter noch einen müden Abklatsch von Kindheit. Wenige Stunden, nachdem er sie in einen weißen Lieferwagen gezerrt und in sein Verlies gesperrt hatte, habe er ihr aus der "Prinzessin auf der Erbse" vorgelesen, erinnert sich Kampusch. Später habe er mit ihr Halma gespielt, ihr Schul- und Bastelaufgaben gestellt, sie mit Karl-May- und Science-Fiction-Büchern und auf Video aufgezeichneten Fernsehserien versorgt. Der Außerirdische Alf, die "Bezaubernde Jeannie" und Al Bundys "Schrecklich nette Familie" seien ihr zum Ersatz für ihre Familie geworden. Von der durfte sie nämlich schon bald nicht mehr sprechen.
Sie habe sich gefühlt wie Alice im Wunderland, schreibt Kampusch. "Auch ich war unter der Erde gefangen", in einer Welt, "in der alle Regeln, die ich kannte, außer Kraft gesetzt waren." Sie habe inständig gehofft, sie würde irgendwann aufwachen wie Alice, "aber es war ja nicht mein Traum, sondern der des Täters. Und der schlief auch nicht, sondern hatte sein Leben der Verwirklichung einer grausamen Fantasie verschrieben, aus der es auch für ihn kein Entrinnen mehr gab." Die Verliesversion einer Kindheit endete spätestens an dem Tag, an dem das Kind seine erste Periode bekam, ein paar Monate, nachdem er ihm aufgetragen hatte, sich einen neuen Namen zu suchen.
Natascha Kampusch wählte "Bibiana". "Sie war duldsamer", sagte sie in diesen Tagen dem "Kurier". "Vielleicht hat die Bibiana die Natascha auch beschützt." Anlass dazu gab es ständig.
Mit dem Einsetzen der Pubertät beschränkte sich Priklopil nicht mehr darauf, sein Opfer mit Essens-, Licht- oder Fernsehentzug gefügig und es ansonsten "wie ein Haushaltsgerät instand" zu halten. Er begann mit seinen Versuchen, aus der Heranwachsenden eine Partnerin nach seiner Vorstellung zu formen. Das bedeutete für Natascha Kampusch vor allem harte, zum Teil körperliche Arbeit und schwere Misshandlungen.
Mit Einsetzen der Pubertät holte er sie fast täglich aus dem Verlies ins Haus nach oben. Dort musste sie putzen, kochen und ihm beim Renovieren assistieren, gleichzeitig rationierte er ihr das Essen, sodass sie gerade nicht verhungerte, und verprügelte sie beim geringsten Fehler - oder auch bloß, um ihr zu zeigen, wer der Herrscher im Haus war.
"Ich habe dich erschaffen", sagt er ihr immer wieder. "Du gehörst nur mir." Als sie 14 war, nahm er sie erstmals mit in sein Bett. Sexuelle Übergriffe seien Teil seiner täglichen Misshandlungen gewesen, mehr wolle sie dazu nicht sagen, sagt Kampusch, aber in diesen Nächten sei es nicht um Sex gegangen. "Der Mann, der mich schlug, in den Keller sperrte und hungern ließ, wollte kuscheln." Damit sie nicht fliehen konnte, während er schlief, fesselte er sie mit Kabelbindern an sich.
Priklopils Allmachtsfantasien bedeuteten für Natascha Kampusch aber auch gelegentliche kleine Freiheiten. Seine Partnerin sollte ihm nicht nur Sklavin, sondern auch Gefährtin sein, und um diese Illusion aufrechtzuerhalten, nahm er beträchtliche Risiken in Kauf. Er ließ das Mädchen in den Garten oder sogar im Pool der Nachbarn schwimmen, wenn diese nicht da waren. Gelegentlich machte er Ausflüge, in nahe gelegene Wälder, in einen Baumarkt, zum Skifahren.
Natascha Kampusch ist viele Male dafür angegriffen worden, dass sie nicht schon früher geflohen ist. Jetzt rechtfertigt sie sich. Auf unzähligen Seiten beschreibt sie, wie Priklopil ihr immer wieder erzählt habe, dass niemand sie mehr suchen würde. Dass er jeden umbringen würde, den sie um Hilfe bäte. Wie sie trotzdem während des Skiausflugs ihren Mut zusammengenommen und eine Frau in der Toilette angesprochen habe - nur um an eine Holländerin zu geraten, die sie nicht verstanden und einfach stehen gelassen habe. Sie sagt aber auch, dass sie Angst um den Mann hatte, der all die Jahre nicht nur ihr Kerkermeister, sondern ihre einzige Bezugsperson gewesen ist.
Erst der Pakt mit ihrem "späteren Ich" habe langsam die Kraft zur Flucht oder "Selbstbefreiung", wie sie es nennt, reifen lassen. "Verdammt noch mal, lauf", sagte sie sich an jenem Augusttag 2006. Und dann lief sie.
Sie sei Priklopil immer noch dankbar für seine kleinen Wohltaten, sie habe ihm sogar verziehen, schreibt Natascha Kampusch - wohl wissend, dass es ihren Lesern schwerfallen wird, sie zu verstehen. "Die Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben, es von sich abzuspalten." Sie jedoch sei darauf angewiesen gewesen, "das Gute zu sehen", an einem Täter, "mit dem ich einfach umgehen musste, weil ich ihm nicht entfliehen konnte". Nur so habe er sie nicht brechen können, nur so habe sie überlebt. Auch jetzt noch versuche sie, ihren Peiniger als Menschen zu sehen, zu verstehen, warum er sie gequält habe. Wer ihr diese, zum Überleben wie zur Aufarbeitung nötigen Überlegungen nicht zugestehe und ihr mit dem Begriff "Stockholm-Syndrom" die Urteilskraft über ihre Erlebnisse abspreche, mache sie ein zweites Mal zum Opfer.
Am Donnerstag wird Kampusch in einer Wiener Buchhandlung aus ihrem Buch vorlesen, vermutlich wird sie mit jedem Wort hoffen, dass sie danach die Opferrolle ablegen kann, und dann ein weiteres Mal enttäuscht werden.
Die Vermarktungsmaschinerie, von ihr selbst mit angeworfen, ist in Gang gekommen. Natascha Kampusch wird mit dem Buch durch Europa reisen. Und überall wird ihr wohl jene Frage gestellt werden, auf die sie noch weniger eingeht als auf die nach dem Ausmaß des sexuellen Missbrauchs: Wie kann ein Leben nach so einem Verbrechen aussehen? Doch selbst wenn sie sich entschließt, zu antworten, kann sie höchstens auf eine kurze Atempause hoffen. Nächstes Jahr beginnen schon die Dreharbeiten zum großen Kinofilm.