Über 40 Jahre soll ein Vater seine Töchter vergewaltigt und misshandelt haben. Wie konnten die Verbrechen so lange unentdeckt bleiben?
Wien/Braunau. Sie brauchten Monate, um über das Erlebte sprechen zu können. Erst als der 80-jährige Vater das Haus nicht mehr betreten durfte und sie sich in Sicherheit fühlten, brachen zwei Schwestern aus St. Peter bei Braunau ihr jahrzehntelanges Schweigen. Die 45 und 53 Jahre alten Frauen berichteten Betreuern und der Polizei von regelmäßigen Vergewaltigungen, Drohungen und Schlägen. Seit Freitag sitzt der mutmaßliche Täter in Untersuchungshaft.
„Ich habe sie ein bisschen gekannt“, berichtet Pfarrer Severin Lakomy im Gespräch mit der dpa. „Sie waren bei der Adventsfeier und bei Krankensonntagen. Es war schwer, mit ihnen in Kontakt zu kommen“, fügt er noch hinzu: „Sie haben mehr mit den Augen gesprochen als mit dem Mund.“ Niemandem vertrauten sie sich an, niemandem erzählten sie von den schrecklichen Dingen, die in dem Einfamilienhaus in der 2400-Seelen-Gemeinde hinter verschlossenen Türen vor sich gingen.
In den offiziellen Registern tauchen die Namen der Frauen sehr wohl auf - „sie sind auch gefirmt“, bestätigt der Pfarrer, der seit 18 Jahren die Gemeinde betreut. Sie hatten als Kinder eine normale Volksschule und dann eine Sonderschule besucht, aber danach keine Ausbildung gemacht. Allmählich waren sie offenbar im Ort von der Bildfläche verschwunden.
„Es ist schwer zu definieren, inwieweit sie abgeschottet wurden oder im Ort isoliert“, meint Sicherheitsdirektor Alois Lißl. „Sie wurden sicher von der Gesellschaft eher ignoriert.“ Man habe angenommen, dass sich die Familie für die zurückgebliebenen Kinder schäme, geben Nachbarn gegenüber österreichischen Medien an. Gesucht hat den Kontakt offenbar niemand, auch nicht Verwandte mütterlicherseits, die am Ort wohnten, oder Schulkollegen, meint der Pfarrer.
„Es gibt mehr Familien, die eher wenig Sozialkontakte pflegen“, erklärte Psychiaterin Adelheid Kastner im österreichischen Rundfunk ORF dazu. „Und es wäre vermessen zu sagen, jeder, der sich nicht ausgedehnt sozial vernetzt, verbirgt etwas.“ Wenn die Betroffenen selbst keine Hinweise gäben, sei auch ein solcher Extremfall von außen nicht erkennbar.
Im Buffet an der Tankstelle, wo der mutmaßliche Täter Gottfried W. Gast am Stammtisch war, will niemand etwas sagen. Die spärlichen Auskünfte gehen stark auseinander: Einmal wird der langjährige Straßenarbeiter als „äußerst gesellig und lustig“ beschrieben, dann als „Eigenbrötler“. Ins Haus ließ der Mann aber wohl niemanden.
Nur Betreuer der Sozialdienste kamen hinein. Seit dem Tod der Ehefrau des mutmaßlichen Täters 2008 waren die Töchter teilentmündigt, sagte Sicherheitsdirektor Lißl der dpa. „Sie waren nicht in der Lage, ihr alltägliches Leben zu organisieren.“ Einkäufe und Erledigungen hätten Sozialdienste übernommen.
Durch eine solche Betreuerin war im Mai auch ans Licht gekommen, dass etwas nicht stimmte in der verschlossenen Familie. Sie hatte den Vater laut Presseberichten eines Tages nackt und hilflos am Boden vorgefunden. Er konnte nicht selbstständig aufstehen, die Schwestern leisteten dem Mann keine Hilfe. Sie hätten ihn sterben lassen wollen, sollen die Frauen gesagt haben und gaben erste Hinweise auf Gewalttätigkeiten. Gottfried W. wurde in einem Pflegeheim untergebracht.
Es folgten Vernehmungen, ein Waffenverbot erging gegen den Vater, der Kontakt zu den Töchtern wurde ihm untersagt. Und erst da, Anfang August, wagten die Schwestern endlich, über die sexuellen Übergriffe zu sprechen. Gottfried W. wurde festgenommen. Am Freitag wurde die Untersuchungshaft gegen den Mann verhängt.
Jetzt sind Ermittler und Gutachter am Zug, erklärt Lißl. Die Frauen, gegen die wegen unterlassener Hilfeleistung ermittelt wird, sollen auch von einem Psychologen befragt werden, um ihre Glaubwürdigkeit festzustellen. In bisherigen Polizeivernehmungen hätten die Schwestern „alles verstanden, sie waren orientiert und offen“, berichtet Lißl.