20 Verteidiger, Dolmetscher, Sachverständige: Für den Hamburger Steuerzahler wird der faire Prozess für die Seeräuber richtig teuer.
Hamburger. Eine Prozessbeobachterin erinnert der uniformierte Zeuge an einen "Karnevalsprinzen". Dicke, dunkle Schminke, ein falscher Schnauzbart und schick nach hinten gefönte Haare, die mehr nach Perücke als nach einem echten Schopf aussehen - das ist es offenbar, was sich das niederländische Verteidigungsministerium unter einem "veränderten Erscheinungsbild bei Wahrnehmbarkeit des Gesichtsaudrucks" vorstellt. Auch darf der Soldat, der an der Erstürmung des von Piraten überfallenen Containerfrachters "Taipan" beteiligt war, längst nicht alles preisgeben, was er weiß: Zur Linken und zur Rechten sitzen in Saal 337 zwei Beamte, die Acht geben, dass er sich in der öffentlichen Verhandlung nicht verplappert. Denn die genauen Umstände der Militäroperation sind geheim, genauso geheim wie die Identität des Zeugen: Als Angehöriger einer militärischen "Sondereinheit" genieße er besonderen Schutz, daher die Maskerade. Auch werde er dem Gericht nur seinen Vornamen nennen.
Er stellt sich vor als "Geoffrey", 38 Jahre alt, Anführer des bewaffneten Marine-Kommandos, das am Ostermontag die Fregatte "Tromp" verließ, um die 15-köpfige Crew des Hamburger Containerfrachters "Taipan" zu retten. Das Schiff war wenige Stunden zuvor, rund 600 Seemeilen vor der somalischen Küste, von zehn Piraten überfallen worden. Von einem Helikopter seilten sich Geoffrey und seine Männer aufs Deck ab. Nach einem kurzen Schusswechsel überwältigten sie die Piraten, fesselten sie an Deck und stellten neben einem Granatwerfer sechs Sturmgewehre vom Typ AK-47 sicher.
Zu näheren Details der militärischen Operation äußert sich der Soldat nicht, erkennt aber drei der festgesetzten Piraten im Gerichtssaal wieder. Mit dem Finger zeigt er auf einen breitschultrigen Mann im Karo-Hemd.Es ist Aden A., der mit 48 Jahren älteste Angeklagte. Er habe den Mann zwei Wochen vor der Übernahme der "Taipan" bei einem weiteren Anti-Piraterie-Einsatz der "Tromp" festgesetzt, so Geoffrey. "Ich habe ihm gesagt, er solle das mit der Piraterie mal sein lassen", sagt der Zeuge. "Und er versprach, dass er es nie wieder tun würde." Als sie sich am 5. April erneut begegneten, habe der Mann "nicht gerade freudig gewirkt".
Es ist der 17. Verhandlungstag im Piraten-Prozess, der nach anfänglichen Störfeuern der Verteidigung zu spannungsarmer Routine gefunden hat. Ein typischer Verhandlungstag und ein - abgesehen von der Verkleidung - typischer Zeuge: Die Vernehmung bringt kaum neue Erkenntnisse, die Beweisaufnahme gestaltet sich langwierig und zäh. Dass hier und da der Eindruck entsteht, es ginge nur schleppend voran, mag den besonderen Umständen geschuldet sein: 20 Verteidiger vertreten die zehn Angeklagten, zu Prozessbeginn flogen dem Gericht die Anträge nur so um die Ohren. Vielleicht hat die juristische Phalanx ihre Wirkung nicht verfehlt: Der Vorsitzende Richter Bernd Steinmetz macht einen fast übervorsichtigen Eindruck. Und die gebotene, maximale Aufklärung des Sachverhalts in einem rechtstaatlich fairen Verfahren erinnert nicht selten an Pedanterie. "Wenn das in dem Tempo weitergeht", unkt ein Verteidiger, "sitzen wir hier noch am Ende des Jahres."
Dabei ist schon jetzt klar: Der Prozess wird deutlich teurer als geplant, zumal das Gericht gerade zehn weitere Fortsetzungstermine anberaumt hat. Ein Urteil wird nicht mehr vor Ende Mai erwartet. Das Verfahren dürfte nach Berechnungen des Abendblatts unterm Strich dann mit mindestens 450 000 Euro zu Buche schlagen - Kosten, für die der Hamburger Steuerzahler geradestehen muss, denn bei den bettelarmen Piraten ist nichts zu holen. Zum Vergleich: Der sogenannte "Terror-Prozess" gegen Mounir al-Motassadeq 2001 belastete den Haushalt der Justizbehörde mit 310 000 Euro.
Allein die Honorare der 20 Verteidiger dürften sich auf rund 305 000 Euro belaufen. Jeder Angeklagte hat zwei Anwälte an seiner Seite - damit das Verfahren auch dann weiterläuft, falls ein Verteidiger länger ausfällt. Nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) steht jedem Verteidiger eine Termingebühr inklusive Haft-Zuschlag von 263 Euro pro Verhandlungstag zu. Dauert die Sitzung länger als fünf Stunden, gibt es 108 Euro zusätzlich, außerdem einmalig eine Grund- und Verfahrensgebühr in Höhe von 351 Euro.
Der zweite dicke Batzen sind die Honorare für die drei ständigen somalischen Dolmetscher. Laut JVEG (Gesetz über die Vergütung der Sachverständigen, etc.) erhalten sie pro Stunde 55 Euro, die zwei ehrenamtlichen Richter und die beiden Ersatzschöffen jeweils maximal 56 Euro, die Sachverständigen zwischen 60 und 85 Euro. Auch für Anreise, Verdienstausfall und Unterbringung der sieben ausländischen Zeugen (von insgesamt zwölf) kommt die Justiz auf.
Dabei steht die Gerichtsbarkeit mitnichten unter der Knute von Sparvorgaben - jeder Angeklagte hat das Recht auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren. Der somalische Pirat genauso wie der wegen Steuerbetrugs angeklagte Millionär. "Der Rechtsstaat kostet nun mal Geld, und die Rechtspflege hat ihren Preis", sagt der Erfurter Verwaltungsrechtler Frank Ebert. "Grundrechte stehen nicht unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit", heißt es aus der Justizbehörde. Der aktuelle Fall dürfte indes nicht der einzige bleiben - erst recht, weil Piraten nicht mehr in Kenia der Prozess gemacht wird. Diese "bequeme Lösung" wurde hinfällig, nachdem das Land im Herbst 2010 eine Vereinbarung mit der EU aufgekündigt hatte. Seit Anfang 2009 hat die Hamburger Staatsanwaltschaft in mehr als 60 Piraterie-Fällen mit deutscher Beteiligung ermittelt, eine Vielzahl der Verfahren ist noch offen. Rund 3500 Frachtcontainerschiffe deutscher Reedereien sind nach Angaben des Verbands deutscher Reeder (VDR) auf den Weltmeeren unterwegs - die meisten sitzen in der Hansestadt.
Der mögliche finanzielle Kraftakt hat in der von den Prozesskosten hauptsächlich betroffenen Justizbehörde offenbar für Unruhe gesorgt. "Die Operation Atalanta wird von allen europäischen Ländern getragen. Da kann es nicht sein, dass die Länder, in denen die Reeder ihren Sitz haben, den größten Teil der Lasten tragen. Meiner Meinung nach brauchen wir daher für diese Straftaten in internationalen Gewässern einen internationalen Gerichtshof", sagt der frühere Justizsenator Till Steffen (GAL). Nicht gerade verlockend klingt die Aussicht auf weitere kostspielige Piraten-Prozesse auch für den SPD-Innenexperten Andreas Dressel. "Ein internationales Gericht, das wäre überdenkenswert", sagt er. Steffens Nachfolger Heino Vahldieck wollte sich dazu auf Anfrage nicht äußern.
Die Frage ist womöglich nicht nur, wie viel Piraten sich Hamburg leisten kann, sondern ob die Justiz solche Mammut-Verfahren überhaupt schultern kann. Vier Berufsrichter befassen sich mit dem Fall und stehen für andere Prozesse nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung. Die Verteidiger und der Völkerrechtler Andreas von Arnauld bezweifeln, dass ein Verfahren gegen Seeräuber fernab des Epizentrums der Piraterie sinnvoll ist. Welcher Somali, der aus Verzweiflung zum Pirat wurde, fragt Verteidigerin Gabriele Heinecke, ließe sich vom Urteil eines deutschen Gerichts schon abschrecken. "Er erfährt ja vermutlich nicht einmal davon."