Die Stadt Hamburg im Derbyfieber. Wie HSV- und St.-Pauli-Fans das Hamburger Fußballspiel des Jahres verfolgten und mitfieberten.
Hamburg. "Bei uns sind HSV- und St.-Pauli-Fans gleichermaßen willkommen", sagt Andreas Neumann, 45, Geschäftsführer des Hardy's. Seine Gäste nennen ihn aber Andy. An der Fassade des Gebäudes, in dem sich die Eimsbüttler Kneipe befindet, hat er am Nachmittag die Flaggen beider Vereine aufgehängt. Eine Stunde vor Anpfiff des Derbys dominiert im Innern des Ladens jedoch die Farbe Braun und der berühmte Totenkopf. Erst auf Nachfrage outen sich viele Gäste als HSV-Fans. Sie sind also doch da, allerdings inkognito.
Zwei Fernsehbildschirme und eine Leinwand stehen den Gästen zur Verfügung, um das Spiel zu verfolgen. In der ersten Reihe vor der großen Leinwand sitzen Karla Stockhausen, 59, und Jürgen Kallina, 73. Sie mit St.-Pauli-, er mit HSV-Schal. "Ich finde die Stimmung hier total angenehm, und die unterschiedlichen Fans vertragen sich prima", sagt Stockhausen, die eigentlich in Eppendorf wohnt. Eine Freundin hat sie ins Hardy's mitgenommen. Das ständige Gezanke zwischen HSV- und St.-Pauli-Anhängern nervt Stockhausen, schließlich seien doch beide Hamburger Mannschaften. "Aber dass der neben mir ein HSVer ist, das hatte ich sofort im Gefühl", sagt sie und grinst Jürgen Kallina etwas herausfordernd an. Stockhausen tippt - natürlich - auf einen Sieg für St. Pauli. "Dann gebe ich meinem Sitznachbarn zum Trost ein Bier aus", sagt sie. Jürgen Kallina verspricht dasselbe für den gegenteiligen Fall. Hand drauf, abgemacht. "Aber am besten wäre doch für alle ein Unentschieden", sagt er. Er ist zwar HSV-Fan durch und durch, aber deswegen ist ihm St. Pauli nicht automatisch verhasst. "Das verdient doch Anerkennung, was die geschafft haben", sagt er. Dann will er keine Antworten mehr geben. Das Spiel fängt gleich an.
Bis Spielbeginn ist's nun also nicht mehr lang. Und das macht sich auch am Millerntor bemerkbar. Hier, im Stadion auf dem Heiligengeistfeld, haben sich auf der Südtribüne und der Gegengeraden zwischen 10 000 und 14 000 - die Schätzungen der Ordner variieren - Paulianer zum Public Viewing auf drei Riesenbildschirmen versammelt.
Mitten im Gewusel unterhalb der Gegengeraden steht Kirstin Knutzer. "Nein, das war für mich kein Thema", antwortet die 35-jährige Norderstedterin auf die Frage, ob sie nicht lieber direkt zum Spiel gegen den HSV, in dessen Arena in Bahrenfeld folglich, gefahren wäre. "Hier am Millerntor sind einfach die tolleren Leute, hier ist die tollere Stimmung." Ob sie andere Paulianer kenne, die gerne in die Imtech-Arena gefahren wären, aber keine Karten bekommen hätten? Oder - andersherum - ob es Fan-Kollegen von ihr gebe, die prinzipiell kein HSV-Land beträten? "Was die Karten angeht", sagt Kirstin Knutzer, "war das nun nach der Spielverlegung, glaube ich, kein Problem, da gab's genug. Aber klar, ich kenne Paulianer, die auf Gedeih und Verderb niemals ins HSV-Stadion gehen würden." Sprach's und reiht sich jetzt in den Strom Richtung Spielfeld ein - nicht ohne noch schnell ihren Ergebnis-Tipp loszuwerden: "Wünschen tu ich mir ein 2:1 für uns - aber wahrscheinlich wird's wohl eher ein 1:1 ..."
An andere Endstände glauben Patricia, 25, und Michaela Conrad, 48. Das Tochter-Mutter-Gespann aus Schnelsen scheidet sich in ein optimistisches und ein pessimistisches Lager: Ein 2:1 für den HSV erwartet Patricia, ein 1:0 für den FC St. Pauli Michaela. Die beiden Frauen sitzen - nun, wo das Spiel bereits seit knapp einer halben Stunde läuft - zwischen all den vielen anderen Totenkopf-Anhängern auf der Gegengeraden-Tribüne und blicken gebannt auf die Leinwand, die vor ihnen auf dem schneebedeckten Rasen steht. Durch die Luft wabern die Gerüche von Bier und Rauch, Rauch nicht nur von Zigaretten. Das scheint - ebenso wie Nässe und Kälte - niemanden zu stören: "Es macht doch immer richtig Spaß, ein spannendes Derby zu sehen", sind sich Mutter und Tochter Conrad einig. "Und egal, wie's hinterher ausgeht - darüber, dass Hamburg Fußballhauptstadt ist, können wir uns doch alle freuen!"
Das sehen die meisten anderen Paulianer hier aber wohl etwas anders. Mit frenetischen Sprechchören, durchdringendem Getröte und wildem Fahnenschwenken feuern sie ihre Mannschaft an.Erst recht, als jetzt die 59. Minute erreicht wird - und der FC St. Pauli mit 1:0 in Führung geht. Böller explodieren nun im Stadion und draußen auf dem Heiligengeistfeld.
"Ein Bier bitte für meinen HSV-Freund", ruft Klara Stockhausen im Hardy's. Aber ihre Bestellung geht im Jubelgeschrei unter. Jürgen Kallina hat aber schon seine Jacke angezogen und ist auf dem Weg nach draußen. Mit der Niederlage habe das nichts zu tun. "Ich gehe immer direkt nach dem Spiel nach Hause zu meiner Frau", sagt er. Dann trinkt Stockhausen ihr Bier eben ohne ihn. Genügend St.-Pauli-Fans zum Feiern sind ja da.
Bei allem Jubel, bei allem Frust: Randale gab es auch wieder im Umfeld des Derbys. Nahe der Reeperbahn flogen vereinzelt Flaschen und Steine, die Budapester Straße vor dem St.-Pauli-Lokal Jolly Roger blieb gesperrt. HSV-Anhänger hatten sich vor der "Kiez-Tankstelle" am östlichen Ende der Reeperbahn versammelt. Bis 23 Uhr hatte die Polizei gerade mal drei Personen in Gewahrsam genommen. "Die St.-Pauli-Fans feiern fröhlich, die HSV-Anhänger verhalten sich weitgehend ruhig und besonnen", lobte Polizeisprecher Mirko Streiber.