Die Vier sind minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan in Hamburg. Ohne Eltern, ohne Deutschkenntnisse und mit schrecklichen Erinnerungen.
Hamburg. Sie sind vier von vielen. Sie leben ohne Eltern und Geschwister in Hamburg, sind auf sich alleine gestellt. Yama*, Farhad*, Mostafa, alle 16 Jahre alt, und der 15-jährige Wahid* kamen aus Afghanistan. In den Behördenstatistiken werden sie nur unter Kürzel MuF geführt, das steht für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Es ist Mittag, sie sitzen zusammen im Speisesaal der Gewerbeschule 8 im Hamburger Stadtteil Hamm. Vier Jungs, allein in Deutschland.
Kamen 2007 lediglich 20 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in die Hansestadt, waren es 2008 schon 74, 2009 erhöhte sich die Zahl auf 191, 2010 waren es bereits 414. Die meisten von ihnen sind Afghanen und 14 bis 17 Jahre alt. In diesem Jahr erwartet die Sozialbehörde die Ankunft von etwa 1000 minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen.
Wahid ist nicht nur der Jüngste, er ist auch der Introvertierteste der vier. Er hält sich abseits, wirkt abwesend. Sein Gesicht ist hager, das Haar kraus, die Löckchen berühren die Schultern. Deutsch spricht er kaum. Er stamme aus Kabul, sei vor eineinhalb Jahren mit seinen Eltern in Richtung Europa geflüchtet. Sein Weg in die Freiheit und die Erinnerungen daran sitzen immer noch tief. Damals war er erst 13. Es fühle sich an wie ein Schock, der immer noch anhalte. "Meine Eltern sind im Iran ums Leben gekommen", sagt Wahid mit brüchiger Stimme. Die dunklen Augen des Jungen blicken in die Ferne. Fragen nach der genauen Todesursache verbieten sich. Jetzt und auch später. Wahid, seit zehn Monaten in Deutschland, ist traumatisiert.
Wie die meisten Flüchtlinge ist er über die Türkei und Griechenland nach Hamburg gekommen. Er habe zwar einen Bruder, der lebe jedoch irgendwo in Afghanistan. Er selbst wohnt im Flüchtlingsheim in der Feuerbergstraße und hat eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate. Danach entscheidet die Innenbehörde neu. Wahid hofft, dass er für immer bleiben darf. Dass er in Hamburg eine neue Heimat und - dies ist der größte Wunsch aller vier afghanischen Jugendlichen - dass er adoptiert wird, eine neue Familie findet. "Ich brauche jemanden, der mich an die Hand nimmt und mir den Weg weist", sagt er.
Auch die Lebensgeschichten von Farhad (seit zehn Monaten) und Mostafa (seit sechs Monaten) aus Kabul und von Yama (seit sieben Monaten in Hamburg) aus Helmand sind nicht von der Sorte, wie sie eigentlich sein sollten bei jungen Heranwachsenden. Sie erzählen von Flucht, Krieg und Schrecken, Schleppern, Gefängnisaufenthalten in Griechenland und prügelnden Wärtern.
Die Eltern von Mostafa sind bei einem Raketenangriff ums Leben gekommen, sagt er und fährt sich mit der Hand durchs zurückgekämmte Haar. Farhad und Yama sind auf den ersten Blick etwas besser dran. Ihre Eltern sind am Leben. Doch mehrere Tausend Kilometer weit weg, auf der Flucht im Iran zurückgeblieben. "Vater und Mutter haben viele Probleme", sagt Yama kopfschüttelnd. Auch seine Geschwister sind noch im Iran, drei Schwestern, fünf Brüder. Plötzlich schießen ihm Tränen in die Augen. Er wischt sie schnell mit dem Handrücken weg: "Schlag dich durch nach Deutschland, wir versuchen nachzukommen, hat Vater bei der Verabschiedung zu mir gemeint. Jetzt habe ich Angst, dass meine Familie es nicht schafft. Dass ich alleine bleibe."
Farhad, der am besten deutsch sprechende der vier, die außer Wahid in betreuten Wohngemeinschaften in Eppendorf, Wandsbek und Billstedt wohnen, nickt wissend, tätschelt seinem Klassenkameraden die Schulter. Auch sein Vater, von Beruf Schuster, die Mutter und die 18-jährige Schwester, beide Hausfrauen, leben noch in Teheran, sagt er. Auch sie haben kein Geld für die Weiterreise nach Westen. Jede Woche besorge er sich eine Telefonkarte und rufe sie an. Doch er glaubt nicht an ein baldiges Wiedersehen. "Meine Hoffnung auf Familienzusammenführung ist auf null gesunken", sagt Farhad und schiebt sich den Scheitel unter der schwarzen Mütze zurecht. "Neulich, als meine Mutter schwer erkrankte, bin ich in meinem Zimmer die Wände hochgegangen, habe geheult wie ein Hund. Aber was sollte ich tun, mich auf den gleichen Weg machen, den ich hergekommen bin? Nach Teheran? Ich hätte Angst, dass die Behörden mich nach Afghanistan abschieben. Das wäre die Hölle für mich."
Die vier jungen Afghanen, die alle einen Vormund haben, besuchen die berufsvorbereitende Gewerbeschule 8 in der Sorbenstraße im Stadtteil Hamm. Die Schule unweit des Berliner Tors ist Hamburgs größtes Auffangbecken für ausländische Schüler. Rund 550 Jugendliche aus 50 Nationen - viele besitzen nur einen ungesicherten Aufenthaltsstatus, drücken hier die Schulbank, versuchen sich in die Gesellschaft zu integrieren, Deutsch zu lernen, den Haupt- oder Realschulabschluss zu machen. Denjenigen, die einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, stehen nach Vorgaben der Schulbehörde 30 Unterrichtsstunden pro Woche zu. Den Schülern mit ungesichertem Aufenthaltsstatus nur 25 Stunden. Die Pädagogen an der G 8 organisieren es aber in "Eigenregie und mit Bordmitteln" so, dass jeder Schüler 30 Stunden kriegt: "Das machen wir, weil wir gegen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft an der Schule sind", erklärt eine Pädagogin.
Allein auf der G 8 gibt es 100 Schüler, die ohne Eltern in Hamburg leben. Die Eltern sind tödlich verunglückt, ertrunken, erstickt, erfroren oder auf der Flucht von ihren Kindern getrennt worden. Durch griechische Grenzer, Menschenhändler, unglückliche Umstände. Manche sind von ihren Familien, die all ihr Geld für Schleuser zusammengekratzt haben, nach Deutschland geschickt worden, damit sie sich hier eine Zukunft aufbauen können.
Schüler ohne Migrationshintergrund gibt es kaum noch an der G 8. Und auf der anderen Seite nicht einen Lehrer mit Migrationshintergrund, der sich in den Kulturkreis der einsamen Mädchen und Jungen mit den Schicksalen hineindenken kann oder ihre Sprache spricht.
"Seit Verteidigungsminister zu Guttenberg und Kanzlerin Merkel sich nicht mehr scheuen, von einem Krieg in Afghanistan zu sprechen, werden wir von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen überschwemmt. Mit einem solchen Ansturm haben wir nicht gerechnet. Unser Schulsystem ist nicht auf sie vorbereitet", sagt Wolfram Seneberg, 52, Abteilungsleiter für Migrationsfragen an der G 8. Die Unflexibilität der Schulbehörde, die knappen Kassen, all das trage dazu bei, dass die Probleme in den letzten Monaten immer prägnanter wurden.
Die meisten Beteiligten seien überfordert mit den Wellen unbegleiteter Flüchtlinge, die verstärkt in die Hansestadt schwappen, meint auch Andreas Beyerle, 52, Direktor der G 8: "Zurzeit sind so viele minderjährige Afghanen ohne Eltern hier wie noch nie. Lehrkräfte haben wir zwar genug, doch es fehlen Spezialisten. Die Schüler kommen mit einem riesigen Rucksack von Problemen hierher. Ich bin der Meinung, dass der Rucksack langsam und behutsam ausgepackt werden muss."
Damit dies in Zukunft geschieht, tüftelt das Lehrerkollegium jetzt auf Eigeninitiative und mit eigenem Geld an einem internen Integrationsprogramm. Mit den Geldern des Schulvereins Lernen pro Umwelt wurden gerade die beiden Afghanen Omar Nassery, 35, Lehramtsstudent, und Yama Waziri, 35, Diplom-Sozialpädagoge, engagiert. Als Sprach- und Kulturmittler. "Wir sollen ein schlüssiges Integrationskonzept für die Zukunft erstellen und die unbegleiteten Flüchtlinge in der Einschulungsphase quasi als große Brüder begleiten, ihnen Ängste nehmen und Orientierung geben", erklärt Omar Nassery, der wie Yama Waziri seit fast zwei Jahrzehnten in Deutschland lebt.
Einschulung ist hier alle paar Wochen. Auch an diesem Dienstag zu Beginn des zweiten Halbjahrs. Fünf neue minderjährige Flüchtlinge haben ihren ersten Schultag in Hamburg. Zwei Mädchen und zwei Jungen aus Afghanistan, einer aus Guyana. Omar Nassery und Yama Waziri nehmen sie in Empfang. Es gibt eine Vorstellungsrunde, eine Fragestunde, Tee und Kekse. Die Neuen lernen auch ihre Mitschüler schon mal kurz kennen. Die beiden afghanischen Betreuer sprechen über Ziele und Werte, über Schulregeln und Pünktlichkeit. "Es kann für die Mädchen und Jungen nicht gleich mit Paukerei losgehen, deshalb machen wir mit ihnen in den ersten Schulwochen nur sehr kleine Schritte", sagt Omar Nassery.
Direktor Beyerle ergänzt: "Bislang haben wir am Einschulungstag lediglich die Dokumente kopiert, dann ging es gleich ab in die Klassen. Das wollen wir ändern. Die Schüler kommen aus Kriegsgebieten. Einige sind buchstäblich durch die Hölle gegangen. Es geht darum, sie bei uns möglichst sanft ans Netz zu bringen. Nassery und Waziri machen so etwas wie die Erstversorgung für unbegleitete Flüchtlinge. Wir hoffen, dass unsere Initiative auch an anderen Schulen, die minderjährige Flüchtlinge aufnehmen, auf Interesse und offene Ohren stößt. Hoffentlich auch in der Schulbehörde."
Jasmin Eisenhut ist Sprecherin der Schulbehörde. "Wir versuchen, Lehrer mit Migrationshintergrund an den Schulen unterzubringen. Es gibt bereits intensive Bemühungen, und mit der aktuellen Zunahme der Anzahl der Flüchtlinge werden diese nun natürlich auch noch verstärkt", sagt sie.
Wahids Halbjahreszeugnis in Sprache und Kommunikation, Mathe, Sport, Englisch, Produktion und Dienstleistung, Gesellschaft und Technik, Gestaltung und Planung ist um einiges schlechter als das der drei anderen Afghanen. Viel zu viele unentschuldigte Fehlstunden sind zudem im Zeugnis vermerkt. Ein Alarmzeichen, sagt die Klassenlehrerin. Er wolle sich ja integrieren und Fuß fassen, sagt die Waise Wahid. Doch es falle ihm schwer. Er komme momentan mit sich und der Welt gar nicht klar. Sein Berufswunsch? "Fußballer", antwortet er. Manchmal bolzt er ein bisschen, aber ein zielstrebiges Training ist das nicht. "Ich bin jung, kann mich noch berappeln", hofft der Junge aus Kabul. Auch seine Lehrer, Betreuer und Kumpels hoffen das.
Yama und Farhad wollen den Hauptschulabschluss schaffen. Dann die Realschule machen und später vielleicht sogar das Abitur. Mostafa ist bereits in einer Realschulklasse. Seine Noten sind gut. Gerade hat er sich einer Theater-Projektgruppe des Schauspielhauses angeschlossen. Er möchte Regisseur oder Drehbuchautor werden. "Da werde ich eine Menge von dem, was ich gesehen und erlebt habe, verarbeiten", sagt er. Die anderen grinsen. Aber sie trauen ihm eine steile kreative Karriere zu.
Und sie selber haben auch viel vor. Yama träumt davon, Arzt zu werden. "Zahnarzt", sagt er spitzbübisch lächelnd. "Menschen die Schmerzen nehmen, das würde mir Freude machen." Farhad, der beim SC Victoria Landesliga-Fußball spielt, dreimal in der Woche trainiert, Kaka als Vorbild hat, über ansehnliche Fußballerbeine verfügt und mit großem Ehrgeiz und Können den gegnerischen Stürmern den Schneid abkauft, möchte entweder Profi oder, falls es mit der Bundesligakarriere nicht klappt, wenigstens Programmierer werden. "Von dem ersten Geld, das ich verdiene, hole ich meine Eltern und meine Schwester nach Hamburg", sagt er vor seiner Fotowand mit Motiven von Eltern und Großeltern, Schwestern und Tanten in seinem Zimmer in der Wohngruppe in Eppendorf. Auf dem Fensterbrett über der Heizung sitzt ein großer Plüschteddy, daneben hängt der Gebetsteppich: "Meine Familie kann dann bei mir wohnen. Solange sie will."
* Die Namen der drei Jugendlichen wurden auf Verlangen der Vormünder geändert.