Deutschland steht vor einem großen Fachkräftemangel. Sollen die Regeln für den Zuzug von Fachkräften neu gefasst werden? Ein Überblick über die Lage.
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle und Forschungsministerin Annette Schavan haben sich Kritik eingehandelt für ihre Forderung, den Zuzug ausländischer Fachkräfte zu erleichtern. Der Chef des Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, rief die Unternehmen auf, zunächst das heimische Potenzial an Arbeitskräften auszuschöpfen. Einige Fakten zur Diskussion um den Zuzug.
Die demografische Ausgangslage
Die deutsche Bevölkerung wird künftig nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes stetig schrumpfen. Bis 2020 dürfte die Zahl der Bürger von 82 auf rund 80 Millionen sinken, bis 2030 wird ein Rückgang auf gut 77 bis 79 Millionen und bis 2060 auf 64 Millionen bis 70 Millionen prognostiziert.
Die Zahl der Erwerbsfähigen wird nach Vorhersagen der BA in den kommenden 15 Jahren aus demografischen Gründen um rund sieben Millionen schrumpfen, was nur zum Teil durch eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren ausgeglichen werden dürfte. Bis 2025 werde das Potenzial der Erwerbsfähigen daher um 3,6 Millionen auf 41,1 Millionen Menschen zurückgehen.
Die Zahl der Ausländer liegt bei gut sieben Millionen und war zuletzt minimal rückläufig. Seit 1955 warb Deutschland systematisch Gastarbeiter an, 1973 gab es einen Anwerbestopp.
Nach Jahrzehnten der Bevölkerungszunahme durch Zuwanderung kippte 2008 der Trend. Unterm Strich wanderten knapp 56.000 Menschen mehr aus als ein, was aber von Änderungen in der Statistik überzeichnet wurde. Im vorigen Jahr lag der Saldo bei minus 13.000.
Laut der Bertelsmann-Stiftung wird besonders der Bedarf an Akademikern steigen. Bis 2020 werden zusätzlich rund 800.000 Universitäts- und 1,1 Millionen Fachhochschulabsolventen benötigt. Beste Aussichten haben Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Naturwissenschaftler und Ingenieure. Die Zahl der Vollerwerbsarbeitsplätze in Deutschland wird danach bis 2020 um 1,7 Millionen steigen.
Die Regeln für den Zuzug von Fachkräften
Beim Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland wird unterschieden nach Un- und Geringqualifizierten, Bewerbern mit mittlerer Qualifikation und Hochqualifizierten, zum Beispiel leitenden Angestellten und Spezialisten. Letztere können von Anfang an ein Daueraufenthaltsrecht erhalten, bei ihrem Zuzug muss die BA nicht zustimmen. 2008 wanderten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 157 dieser Hochqualifizierten ein, unter ihnen über 70 Amerikaner.
Eine vereinfachte Regelung für den dauerhaften Zuzug von Facharbeitern gibt es nicht. Ausländer mit einer mittleren Qualifikationsstufe müssen sich für ein Daueraufenthaltsrecht qualifizieren und können in Deutschland nur dann eine Stelle antreten, wenn diese nicht mit deutschen Arbeitssuchenden besetzt werden kann. Un- oder Geringqualifizierten wird nur ausnahmsweise und befristet der Zuzug gestattet.
Im Jahr 2000 schuf die rot-grüne Regierung für den IT-Bereich eine Greencard-Regelung, um Spezialisten aus dem Ausland zu gewinnen. Der Erfolg blieb bescheiden. In vier Jahren wurden nur deutlich unter 20.000 dieser Karten vergeben. 2005 wurde die Greencard-Regelung abgelöst, seither fallen IT-Spezialisten unter das Zuwanderungsgesetz.
Die Hindernisse beim Zuzug qualifizierter Kräfte
2008 beschloss die Bundesregierung ein Aktionsprogramm, um die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu erleichtern. Damals wurde der Arbeitsmarkt für Akademiker aus den neuen EU-Staaten uneingeschränkt geöffnet. Für Billig-Arbeiter soll der Arbeitsmarkt dagegen bis Mai 2011 abgeschottet bleiben; erst dann gilt die volle Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus EU-Ländern. Das Mindesteinkommen, das hoch qualifizierte Fachkräfte vorweisen müssen, um beruflich in Deutschland Fuß zu fassen, wurde von 86.400 Euro auf rund 65.000 Euro gesenkt.
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) kritisiert, dass das Zuwanderungsgesetz zu stark auf eine Verhinderung von Zuwanderung hinauslaufe. Zudem sei der Nachzug der Familien von Bewerbern schwierig. „Die Hochqualifizierten stehen nicht Schlange, Deutschland befindet sich hier im Wettbewerb“, mahnt IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer. Auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, bezeichnete das Gesetz als nicht transparent. Es sei „nur eine Hülle ohne Inhalt“ und regele weder die kurzfristige, noch die langfristige Zuwanderung.
Wie hoch ist der Bedarf?
Rund 36.000 Ingenieure fehlen nach Angaben des Branchenverbandes VDI derzeit in Deutschland. „Der Fachkräftemangel wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung weiter verschärfen“, betont VDI-Direktor Willi Fuchs. Nach Berechnungen des IW-Instituts fehlen bis 2014 rund 200.000 sogenannte MINT-Fachkräfte – Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschaftler und Techniker wie etwa Ingenieure.
Die Vorschläge zum Zuzug
Das IW fordert klarere und transparentere Regeln für die Einwanderung. „Den Menschen muss klar sein, welche Chancen sie auf einen Job in Deutschland haben“, sagt IW-Experte Schäfer. Ähnlich wie in Kanada könnte ein Punktesystem Alter, Bildung und Sprachkenntnisse bewerten. Zudem sollte sich die Zuwanderung nach IW-Ansicht mehr auf Hochqualifizierte konzentrieren. In Kanada sei fast jeder zweite Einwanderer hoch qualifiziert, in Deutschland nicht einmal jeder fünfte.
Was spricht für erleichterten Zuzug
Die Gewerkschaften lehnen mehr Zuwanderung ab und verweisen auf genügend Potenzial bei deutschen Arbeitnehmern. Im Juli lag die Zahl der Arbeitslosen bei rund 3,19 Millionen. Verdi mahnt die Wirtschaft, mehr auszubilden, um den Fachkräftemangel zu bremsen. DGB-Bildungsexperte Thomas Giessler fordert bessere Aus- und Weiterbildung: „Dann können die Potenziale ausgeschöpft werden.“ Rund 1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren seien ohne Ausbildung – 17 Prozent der Altersgruppe.
Das IW Köln sieht eine stärkere Zuwanderung von geringqualifizierten skeptisch. Zunächst sollte der Stresstest 2011 für den Arbeitsmarkt abgewartet werden, wenn die volle Freizügigkeit europäischer Arbeitnehmer für Deutschland gilt.