Die sogenannten Wutbürger gehen nicht nur gegen Neubauten auf die Straße, sondern machen verstärkt gegen soziale Projekte mobil.
Hamburg. Mündig ist ein altes deutsches Eigenschaftswort. Es bezieht sich häufig auf all diejenigen Bürger, die sich nicht alles gefallen lassen wollen, die sich in Entscheidungsfindungsprozesse einmischen und zur Durchsetzung ihrer Interessen häufig gleich eine "Initiative" gründen. Spätestens seit den Protesten gegen das Stuttgart-21-Bahnhofsprojekt nennt man diese engagierten Basisdemokraten auch Wutbürger.
Der Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt aus dem Jahre 1969, "mehr Demokratie zu wagen", ist endgültig angekommen. So werden Wutbürger von der Politik schon lange ermutigt, unterstützt und bisweilen sogar aktiv gefördert. Allein in Hamburg sind zurzeit rund 90 Bürgerbegehren und -entscheide gegen zum Teil dringend erforderliche Bauprojekte in der Schwebe. Doch der Zorn der Wutbürger richtet sich zunehmend auch gegen soziale Projekte in der Hansestadt. Hierin wird dann die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Relevanz - dem Allgemeinwohl - und der jeweiligen privaten Interessenlage besonders deutlich: So protestierten vergangene Woche rund 100 Anwohner der Wohnstraße Am Heideknick in Sasel gegen ein geplantes Wohnheim des Diakonievereins Großstadt-Mission für acht bis zehn Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen. Sie befürchten, dass ihre ruhige Wohnstraße dadurch zu einem Treffpunkt krimineller Jugendlicher verkommen könnte. "Wir haben Angst, dass Vandalismus, Drogenmissbrauch oder Gewalt in der Straße zunehmen", sagt Peter Jacobsen, direkter Nachbar und einer der Wortführer während einer Versammlung im Ortsamt Alstertal. Zur Not werde man das Projekt mit juristischen Mitteln zu Fall bringen. Jacobsen sorgt sich vor allem um einen Wertverlust der Grundstücke. Gegen dieses gewichtige Argument finden die Beschwichtigungsversuche von Andreas Weber, dem Pädagogischen Vorstand bei Großstadt-Mission, kaum Gehör: "Hier geht es doch nicht um kriminelle Jugendliche, sondern um Kinder mit biografischen Belastungen, denen wir ein neues Zuhause ermöglichen", sagt Weber. "Ich bin sicher, dass die Ruhe der Straße erhalten bleibt und die Kinder sich an das Umfeld anpassen." Die zuständige Behörde - das Bauprüfungsamt - vertagte die Entscheidung über eine Betriebserlaubnis jetzt auf den 11. April 2012.
+++ Weg für Hospiz frei - zwei Anwohner verkaufen ihre Häuser +++
+++ Nachbarn gegen neues Kinderheim +++
+++ Anwohner vergraulen Kita-Gründerin +++
Auch im Süden Hamburgs machen Proteste gegen geplante soziale Einrichtungen Schlagzeilen: Da ist zum einen der Plan des Bezirks, durch den Sozialdienstleister Fördern und Wohnen eine bestehende Wohnungslosenunterkunft mit 164 Plätzen aufzustocken und gleichzeitig eine Wohncontainersiedlung an der Straße Lewenwerder mit 110 Plätzen für Obdachlose zu errichten. "Bei dieser Organisation liegt einiges im Argen", schürt Iwona Mazurkiewicz, eine der Sprecherinnen der Bürgerinitiative, die gegen das Projekt ist, "denn einige der dort lebenden Personen sind drogen- und alkoholabhängig." Sie selbst sei schon attackiert worden, und immer wieder müsse die Polizei gerufen werden, weil sich die Bewohner zoffen würden. Allerdings sei es ruhiger geworden, seitdem Fördern und Wohnen einen Wachdienst organisiert habe.
Die betroffenen Anwohner plädieren für mehrere kleinere Wohneinheiten, die dann in den einzelnen Ortsteilen von Harburg verteilt werden könnten. Bemerkenswert ist jedoch, dass die politischen Parteien CDU und GAL auf den Zug der Bürgerbeteiligung gegen das Obdachlosenasyl aufspringen - ein eleganter Weg, um zum Beispiel eine fehlende Zahl der Stimmen in einer Bezirksversammlung zu umgehen. So heißt es in einer Pressemitteilung: "Die Grünen werden am 31. März in der Neugrabener Marktpassage weitere Unterschriften sammeln."
Das dürfte der Bürgerinitiative sehr entgegenkommen, denn etwa 3300 Unterschriften, also drei Prozent der 112 370 Wahlberechtigten im Bezirk Harburg, müssen im Rathaus vorgelegt werden, bevor die Harburger abstimmen können.
Der Anwohnerprotest gegen ein Hospiz für 14 sterbenskranke Menschen im Blättnerring im Harburger Stadtteil Langenbek entfachte in den vergangenen Wochen dagegen einen deutschlandweiten Sturm der Entrüstung. Erstaunlicherweise reagierte ausgerechnet die Hospizbeauftragte für den evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Hamburg-Ost, Frauke Niejahr, gelassen: "Der Tod vorm eigenen Gartenzaun erschreckt natürlich. Man will sich den Tod vom Leib halten, obwohl man eigentlich weiß, dass der Tod immer ein Teil unseres normalen Lebens sein wird", sagte die Pastorin. "Die Sorge um ein erhöhtes Verkehrsaufkommen aufgrund eines Hospizes ist natürlich eine Periphrase - eine Umschreibung für die Furcht, nun könne sich Bestatterwagen an Bestatterwagen in einer ruhigen Wohnstraße reihen." Dabei werde an vielen anderen Orten in der Gesellschaft eine weitaus größere Anzahl von Verstorbenen transportiert, ohne dass es jemandem auffallen würde. "Rund 40 Prozent aller Totenscheine werden in Kliniken ausgestellt. Ansonsten wird der Tod - 'die letzte große Unverschämtheit des Lebens' - am liebsten hinter private Mauern verbannt", stellt Frauke Niejahr fest.
Dieser Protest gegen das Hospiz im Süden Hamburgs ist übrigens inzwischen eingeschlafen, die Entrüstung gegen diese Wutbürger ebenfalls. Denn die beiden Wortführer haben mittlerweile beschlossen, ihre Grundstücke zu verkaufen und wegzuziehen. Doch gerade dieses Beispiel scheint in besonderer Weise dafür geeignet zu sein, die Grundproblematik der modernen Basisdemokratie zu beleuchten: Ganz gleich, ob gegen den (angeblich) unerträglichen Lärm angegangen wird, den Kindergärten, Kindertagesstätten und Sportplätze verursachen; oder ob sich Wutbürger gegen ein Bordell oder eine Drogentherapieeinrichtung in der Nachbarschaft starkmachen, kommt die Frage auf, ob der Bürgerprotest berechtigt ist - und wann er vielleicht nur ein vorgeschobener Grund für die Durchsetzung eigener Motive ist.
Nach einer Untersuchung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung anhand der Stuttgart-21-Protestbewegung ist der typische Wutbürger im Durchschnitt älter als 46 Jahre, besitzt einen höheren Bildungsgrad, ist wirtschaftlich häufig gut gestellt (90 Prozent der Wortführer besitzen Haus und Grund), traut der Demokratie hierzulande nur sehr bedingt, hält sich selbst aber für einen guten Demokraten. Die meisten Protestmotive, so die bisherigen Ergebnisse der Göttinger Politikforscher, würden hauptsächlich von ökonomischen Aspekten bestimmt. Der Protest diente in Wahrheit also lediglich der Bewahrung materieller Werte, wenn Wutbürger als direkt Betroffene Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren sowie politische und Behördenentscheidungen nehmen.
Ihre These wollen die Göttinger Demokratieforscher jetzt in einer bundesweiten, repräsentativen Untersuchung verifizieren.
Ein Fazit lässt sich bereits vorher ziehen: Basisdemokratie fordert häufig das St.-Florians-Prinzip heraus: Im Falle des umstrittenen Harburger Sterbehospizes heißt das: Sterben müssen wir zwar alle irgendwann einmal, aber wenn es schon sein muss, dann bitte nicht vor meiner Haustür.