Seit drei Monaten kampiert eine Handvoll junger Leute mitten in Hamburgs City, um gegen die Verursacher der Finanzkrise zu demonstrieren.
Vor ein paar Tagen, an einem dieser viel zu warmen, ausnahmsweise halbwegs trockenen Winterabende, liefen Stefan und Roman gemeinsam mit ein paar Mitcampern über den Gerhart-Hauptmann-Platz und hatten eine spontane Idee. Der Platz war leer, der Weihnachtsmarkt wieder abgebaut. Warum nicht wieder mal hier übernachten? Also trugen sie vom benachbarten Gertrudenkirchhof eines der zwei Dutzend Zelte herüber, Kartons zur Unterlage plus ein paar Schlafsäcke und legten sich gemeinsam zur Ruhe. Im Freien, vor dem Zelt, umgeben von Karstadt, Thalia-Theater und HSH Nordbank. So wie damals, vor knapp drei Monaten, bei ihrer ersten Nacht. "Wieder mal auf dem GHP schlafen, das war fast wie Nachhausekommen", sagt Roman. "Wir haben uns gegenseitig gewärmt und waren plötzlich sehr, sehr glücklich", sagt Stefan.
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Sie sind immer noch da, die Zeltlager-Aktivisten, die Occupy-Camper von Hamburg, das ist die stolze Nachricht und wohl auch ihr bislang größter Erfolg. Am 15. Oktober war nach der ersten "Occupy Rathaus"-Aktion von den rund 5000 Demonstranten gegen Nachmittag eine Handvoll Leute übrig geblieben, darunter Roman und Stefan. Sie wollten nicht nach Hause, sie wollten weitermachen, sich weiter empören über das Finanzgebaren von HSH Nordbank & Co., sie wollten den New Yorker Vorbildern von "Occupy Wall Street" nacheifern. Also fassten sie spontan den Entschluss, zum Gerhart-Hauptmann-Platz (GHP) zu ziehen und dort zu übernachten. "Spontan" ist wichtig. Das Wort benutzen sie oft, genauso wie "offene Bewegung", "GHP" oder "ethische Revolution".
Seit dem 15. Oktober leben und protestieren sie nun schon an der frischen Luft. Dass sie so lange ausharren würden, hätte kaum jemand gedacht, nicht die Medien, nicht das Bezirksamt Mitte, nicht mal sie selbst. Das New Yorker Camp ist inzwischen längst geräumt, die Berliner Mitstreiter mussten am Montag den Bundespressestrand räumen. In Hamburg dagegen ist nach anfänglich einem Zelt auf dem GHP inzwischen der halbe Gertrudenkirchhof voller Zelte, als genehmigter Ausweichort zuerst während des Weihnachtsmarktes. Es gibt dort eine große Versammlungs-Jurte, eine Küche, sogar einen "Media Point" und überall wetterfeste Planen und Unterlagen. Als Toiletten dienen Dixi-Klos einer nahen Baustelle. Kurz, es gibt die Infrastruktur für ein permanentes Zeltlager. Und es gibt da diese Überzeugung, dass es weitergeht, auch wenn das Bezirksamt - was noch offen ist - die Genehmigung für ein erneutes Campieren auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz verweigert und auch wenn der Winter hart wird. "Unsere Bewegung ist unaufhaltsam, wir denken langfristig, und ab dem Frühling geht's erst richtig los", sagt Stefan.
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Dass sich der bunt zusammengewürfelte Haufen überhaupt so lange halten konnte, hat viel mit dem gesunden Pragmatismus der Teilnehmer, dem Reiz des Pfadfindertums und dem Gefühl eines länderübergreifenden Aufbruchs, das alle hier so mächtig umweht wie der Winterwind die Camp-Jurte. Stefan, 27, ist so etwas wie der Kopf von Occupy Hamburg, wenn es so etwas überhaupt gibt. Beim Bezirksamt ist er als Versammlungsleiter eingetragen, als solcher muss er permanent vor Ort sein, und das ist er auch. Im sonstigen Leben studiert er Soziologie, gerade hat er ein Urlaubssemester genommen, das trifft sich. Das mit dem "Kopf" hört Stefan gar nicht gern. Hier im Camp gibt es viele Köpfe, und alle sind gleich wichtig. Das ist einer der Basissätze der Occupyer, das unterscheidet sie von Parteien wie auch von Organisationen wie Greenpeace oder Attac, und darin liegen ihre größte Stärke und zugleich ihr größter Schwachpunkt.
Die Vorteile lassen sich täglich im Camp besichtigen. Eigeninitiative und Einsatzwille der Mitmachenden sind für Außenstehende verblüffend. Hinzu kommt ein Improvisationstalent, das vor allem diejenigen mitbringen, für die das Camp neben der politischen auch eine lebensweltliche Dimension hat: als Versuchsanordnung, wie man mit so gut wie nichts im Dschungel Großstadt leben kann.
Roman, 32, atmet diesen Geist. Beim Rückblick auf die logistischen Großtaten der letzten Monate kriegt er glänzende Augen. Da waren die Zeltplanen, die ihnen nach langer Suche eine Spezialfirma in Harburg schenkte. Da war die Resteverwertung von zahlreichen Baustellenabfällen. Da ist das Schuhgeschäft von nebenan, das ihnen Gratis-Ökostrom spendiert. Und da ist die Jurte, ihr Zentrum, wind- und wasserfest und mit einem Holzkamin mittendrin: für 2000 Euro von einem Pfadfinderbedarf gekauft, ihre bei Weitem größte Investition bislang, die den Großteil der Spenden ihrer Sympathisanten verschlang. Nebenbei, sagt Roman, lerne man allerhand Lebenspraktisches. Wie man ein Zelt anwärmt - fünf Teelichter anzünden, halbe Stunde warten, reinschlüpfen, fertig. Wie man Zelte ohne Haken im Boden befestigt, denn Haken sind behördlich verboten. Wie man mit Polizisten klarkommt, wie man ein gutes Verhältnis zu den Leuten vom Amt und zu den Anwohnern aufbaut. "Als sich ein Geschäft beschwerte, unsere Küche würde ihnen die Sichtachse nehmen und den Kundenverkehr beeinträchtigen, haben wir nicht lange diskutiert und die Küche zehn Meter versetzt", sagt Roman. "Wir führen keinen Krieg, wir setzen auf Harmonie und gute Gespräche."
Die Leute danken es ihnen, indem sie mit Dusch- und Waschgelegenheiten und reichlich Proviant aushelfen. Mehrfach täglich bringt irgendjemand Essen oder Getränke vorbei, sei es ein Café-Mitarbeiter am Ort oder einer der rund 150 Unterstützer, die nicht im Camp übernachten, aber fast täglich hier sind. Der harte Kern umfasst ein bis zwei Dutzend Leute, die meisten Männer im Studentenalter, aber auch Frauen und ein paar Leute jenseits der 60, das wechselt ständig, so richtig den Überblick hat keiner.
"Neulich war ich drei Wochen weg. Als ich wiederkam, kannte ich kaum die Hälfte der Gesichter", sagt Roman, der in Hannover wohnt und zurzeit nur ein-, zweimal pro Woche hier übernachtet. Freitags ist Plenum, donnerstags wird gemeinsam gekocht, alles Sonstige wie Workshops oder Polit-Aktionen oder einfach lustige Spiele entstehen von Tag zu Tag. "Heiligabend haben wir ein Minigolfturnier vom Hauptbahnhof bis zu unserer Küche gemacht, mit selbst gebastelten Holzschlägern", erzählt Stefan. Das Ungezwungene liegt ihnen am Herzen, das Kommen und Gehen, das lockere Miteinander. Es unterscheidet sie von der Verbissenheit manch früherer Protestgruppen. "Jeder gibt von sich, so viel er kann", umschreibt Stefan das Leitprinzip.
Bleibt die Frage: Was genau bringt und was genau hält die Leute hier zusammen? Es ist vor allem das Gefühl, dass etwas nicht richtig läuft in Deutschland und der Welt. Wer genauer nachhakt, hört so viele Ansichten, wie Leute da sind. Die Finanzwelt, ja, die ungerechte Verteilung des globalen Wohlstands, die Macht der Konzerne, dagegen sind alle. Die "Erklärung" auf der Internetseite occupyhamburg.org geht wesentlich weiter. Dort reichen die Themen von Massentierhaltung über die "Oligarchie der Nachrichtenagenturen" bis zur Kritik an Vorratsdatenspeicherung, Flüchtlingspolitik und Pharmaindustrie. "Uns eint die Empörung über die herrschenden Zustände", schreiben die Occupyer.
Toll, könnte man sagen, hier kann sich jeder wiederfinden. Oder genauso gut: Oje, hier geht es um alles und nichts. "Standpunktfindung ist ein ernsthaftes Problem für uns", räumt Roman ein. "Gleichzeitig ist dieses Sammelbeckenhafte ein großer Vorteil. Wir arbeiten täglich an der Schärfung unseres Profils, aber das ist bei uns nun mal ein langsamer Prozess." Bis auf Weiteres ist man dieser Tage ja auch mit anderem beschäftigt. Der Rückzug auf den GHP soll bis zum 15. Januar abgeschlossen sein. An diesem zweiten weltweiten Aktionstag der Bewegung wollen die Occupyer ein markantes Zeichen setzen, dass sie noch immer da sind. Was genau am kommenden Sonnabend passiert, wird selbstredend möglichst spontan entschieden.
Und danach? "Erst mal Winter überstehen. Durchhalten. Frühling kommen lassen", sagt Stefan. Zur Profilschärfung bleibt da selbstredend noch richtig viel Zeit.