Die SPD klagt den Senat an: Das Jugendkonzept konnte das Abrutschen vom Schulschwänzer zum Gewalttäter nicht verhindern.
Hamburg. Das Opfer und die Täter sind fast gleich alt. Offenbar haben sie alle keine einfache Kindheit gehabt. Doch während das Opfer Marcel F. (19), dessen vom Mann verlassene Mutter vor vier Jahren starb, sich zum Verkäufer in einem Supermarkt ausbilden lässt, hatten die beiden in Untersuchungshaft sitzenden Schläger die Kurve nicht gekriegt. Salem El G. und Philipp R. (beide 20) waren über Jahre notorische Schulschwänzer. Beide sind bereits wegen zum Teil schwerer Körperverletzungsdelikte bekannt. Sie haben den 19-Jährigen am 13. Februar in einem HVV-Bus in Bahrenfeld fast totgeprügelt. Sie stehen heute als Beispiel dafür, dass das Senatskonzept "Handeln gegen Jugendgewalt" offensichtlich Löcher hat.
Wie berichtet, hatte Marcel F. die beiden an jenem frühen Sonnabendmorgen im Metrobus der Linie 2 gebeten, die Musik ihrer Handys leiser zu stellen. Es folgte ein hemmungsloser Gewaltausbruch der beiden Angesprochenen. Immer wider traten Salem El G. und Philipp R. auf ihr Opfer ein, ließen sich mit den Knien auf den Kopf des Opfers fallen.
Marcel F. überlebte mit sehr viel Glück. Er erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, Quetschungen im Gesicht und im Brustbereich. Ärzte versetzten ihn im Krankenhaus ins künstliche Koma. Nachdem Fahnder die Aufnahmen der Videokamera des HVV-Busses gesehen hatten, ermittelten sie wegen versuchten Totschlags. Drei Tage nach der Tat veröffentlichte die Polizei jene Fotos. Erst dann stellten sich die beiden mutmaßlichen Täter.
Salem El G., der mutmaßliche Haupttäter, soll bereits am 25. Januar vergangenen Jahres auf der Reeperbahn mit einem Komplizen auf einen am Boden liegenden Mann eingetreten haben. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin am 14. Juli Anklage gegen ihn erhoben. Doch seit sieben Monaten wartet er auf seinen Prozess. Das geht aus einer Senatsantwort auf eine Anfrage von SPD-Innenexperte Andreas Dressel hervor. Seit der Tat ist also mehr als ein Jahr vergangen, ohne dass er sich für die Tat verantworten musste. Üblicherweise dauert es bis zu einer Verurteilung nicht länger als acht Monate. "Aber auch das ist zu lang", kritisiert Dressel. Dabei hatte der Senat in seinem bereits im November 2007 vorgestellten Konzept gegen Jugendgewalt "spürbare Sanktionen" angekündigt. Diese sollten "auf dem Fuße folgen", heißt es darin, "und für die Täter spürbar" sein. Im Fall von Salem El G. - keine Spur. Dressel: "Gerade bei Jugendlichen muss die Justiz alles daransetzen, durch schnelle Verfahren kriminelle Karrieren im Ansatz zu stoppen. Die Verfahrensdauern in diesem Fall sind kaum zu fassen. Mit solchen Verfahrensdauern macht sich der Rechtsstaat lächerlich. Alle Bemühungen gegen Jugendgewalt werden so konterkariert." Das Senatskonzept war nach dramatisch gestiegenen Kriminalitätszahlen bei Jugendlichen eingeführt worden.
Das Abrutschen El G.s auf die schiefe Bahn war seit Jahren absehbar. Eigentlich ist er ein Paradebeispiel für derartige Jugendliche, die mit dem Senatskonzept hätten aufgefangen werden sollen. Von Februar 2006 bis Juli 2007 erwarb er in einem Berufsvorbereitungsjahr zwar den Hauptschulabschluss. Sein Abschlusszeugnis 2008 weist allerdings 144 unentschuldigte Fehlstunden aus. Anschließend bestand er das Probehalbjahr auf einer Berufsfachschule nicht. Die Zahl der Fehlstunden dort: 338. Nach "normverdeutlichenden Gesprächen" wurde sein Vater informiert. Der reagierte nicht. Auch ein weiteres Probehalbjahr bestand El G. 2009 nicht. 214 Stunden fehlte er auch 2009. Da keine Schulpflicht mehr bestand, wurde er Ende Januar aus der Schule entlassen.
Auch Philipp R. ist als Gewalttäter bekannt. Am 1. Weihnachtstag 2009 nahm die Polizei ein Körperverletzungsdelikt auf. Nachdem er wegen Fehlzeiten in Höhe von 100 Stunden in der Berufsfachschule auffiel, erhielt er im November einen schriftlichen Verweis. Am Ende waren es 154 Fehlstunden. Auch Philipp R. bestand das Probehalbjahr nicht und wurde "mit Wirkung zum 31. Januar 2010 abgeschult".
Beide Fälle belegen, dass hier das Senatskonzept gegen Jugendgewalt nicht griff. Darin ist festgelegt, dass auch mithilfe der Polizei die Schulpflicht durchgesetzt werden und "zeitnahe Bußgeldverfahren" folgen sollten. "Davon ist in diesen Fällen nichts zu sehen gewesen", sagt Dressel. "Das Abrutschen vom Schulschwänzer zum Gewalttäter wurde nicht verhindert."