Lutz R. baute 1983 einen Bunker unter seinem Haus in Rahlstedt - vergewaltigte und tötete dort zwei Frauen. Marianne Atzeroth-Freier löste den Fall im Alleingang.
Als die Kriminalhauptkommissarin Marianne Atzeroth-Freier (61) Ende April ihre Zeitung aufschlägt, macht der Inzest-Fall aus Amstetten bereits seit zwei Tagen Schlagzeilen. Bis dahin schien die Tat des Josef Fritzl einzigartig. Doch je mehr die pensionierte Beamtin liest, desto mehr Parallelen stellt sie zu einem spektakulären Verbrechen in Hamburg fest. Anfang der 90er-Jahre klärt sie den Fall des Säurefass-Mörders Lutz R. im Alleingang auf. Der Kürschnermeister hielt zwei Frauen in seinem Keller, einem Atombunker, gefangen, missbrauchte sie dort, tötete sie und vergrub ihre Leichen anschließend in Fässern mit Salzsäure in seinen Gärten.
September 1991: Mitten in der Nacht erhält Marianne Atzeroth-Freier einen Anruf aus dem Polizeipräsidium. Die Kriminalbeamtin soll Christa S. nach Hause fahren. Die 51-Jährige ist eine Woche nach ihrer Entführung von ihrem Kidnapper vor der Wache in Langenhorn freigelassen worden. Der bis dahin Unbekannte hatte Christa S. gekidnappt und vergeblich 300 000 Mark Lösegeld von ihrem Lebensgefährten Kurt K. gefordert. "Diesen Fahrdienst sollte auf jeden Fall eine Beamtin machen", erinnert sich die 61-Jährige.
Ein ganz normaler Job für die Kripo-Beamtin. Christa S. spricht im Wagen über die Entführung. Marianne Atzeroth-Freier wundert sich während der 30 Minuten dauernden Fahrt zunächst über die wirren Ausführungen. Christa S. sei in einem Bunker gefangen gehalten worden, der Entführer zeigte ihr Sadomaso-Fotos, sprach von Astrologie und der spanischen Mafia. "Niemand hat ihr geglaubt. Die Sachbearbeiter drängten sie sogar dazu, endlich mit der Wahrheit rüberzukommen." Es ist ihre burschikose Art, die die Ermittler irritiert. Doch die Polizistin nimmt die Frau ernst, notiert auf einer DIN-A4-Seite ein Gedächtnisprotokoll, das sich später als wichtig erweisen wird.
Merkwürdig ist, dass Kurt K. mit Christa S. beinahe ein zweites Mal eine Partnerin verloren hätte. Seit März 1986 ist seine Ehefrau Hildegard K. (61) spurlos verschwunden. Es sind unter anderem Kurt K.s Hinweise, die die Ermittler zu Lutz R. als Entführer von Christa S. führen. Lutz R. ist sein ehemaliger Mitarbeiter, den er bei der Prüfung zum Kürschnermeister beim Schummeln erwischte und durchfallen ließ.
Und tatsächlich finden die Ermittler schließlich den Atombunker unter dem Rahlstedter Reihenhaus von Lutz R. Den hat er 1983 errichten lassen, bekam dafür sogar Unterstützung von der Stadt. Man befand sich ja im Kalten Krieg. Ausgerechnet Bürgermeister Klaus von Dohnanyi weihte den Bunker ein. Von dem illegalen, drei mal 3,5 Meter großen, schallisolierten und mit einer Eisentür verrammelten Anbau ahnte niemand etwas.
Im selben Jahr, 976 Kilometer südlich im österreichischen Am-stetten, errichtet auch Josef Fritzl unter seinem Haus einen schalldichten Betonbau. Auch diesen genehmigen die Behörden in Zeiten der atomaren Bedrohung. Als hätten sich die beiden Männer abgesprochen, bereitet Josef Fritzl sein Verbrechen mit weiteren geheimen Räumen vor. Ein Jahr später sperrt er dort seine 18-jährige Tochter Elisabeth ein, fesselt sie zunächst wie Lutz R. seine Opfer auch, mit Handschellen. 24 Jahre lang missbraucht Fritzl sie und zeugt sieben Kinder mit ihr.
Im Frühjahr 1992 beginnt der Entführungsprozess gegen Lutz R. Atzeroth-Freier sagt als Zeugin aus, berichtet von dem Gespräch im Dienstwagen. In einer Verhandlungspause spricht eine ältere Frau die Beamtin an. Sie vermisse seit vier Jahren ihre Tochter, die 31 Jahre alte Annegret B. Und dann der Satz, der alles ins Rollen bringt: "Meine Tochter ist auch eine Bekannte von Lutz R."
Drei Frauen verschwinden, alle stehen mit dem Angeklagten in Verbindung. Für Marianne Atzeroth-Freier steht fest: Das ist kein Zufall. Wieder schreibt sie ihre Erkenntnisse auf, drängt ihren Chef der Mordkommission, die Ermittlungen aufzunehmen. Vergeblich. Er untersagt ihr sogar, den Fall zu bearbeiten: "Vermisstensachen sind nicht unsere Aufgabe." Es sind noch andere Zeiten bei der Polizei. Sowohl der Dienststellenleiter als auch viele Kollegen sind noch Männer alten Schlages. Frauen haben in einer Männerdomäne wie der Mordkommission nichts zu suchen. Sie ist zu dieser Zeit die einzige Beamtin dort.
Doch Marianne Atzeroth-Freier lässt sich nicht stoppen. Gegen den Willen ihres Chefs ermittelt sie - auf eigene Faust. Sie besorgt sich die Vermissten-Akten der Frauen. Darin finden sich fast identische Abschiedsbriefe der beiden Verschwundenen. "Ich möchte hiermit klarstellen, dass ich nicht vermisst bin." Sie hätten ihr bisheriges Leben überdacht, seien mit neuen Partnern ins Ausland gegangen und wollten nicht an der Grenze aufgehalten werden. Am Ende jedes Briefes finden sich die Nummern aus den Reisepässen der Frauen.
Wie sich später herausstellt, zwang Lutz R. seine Opfer in seinem Bunker, diese Briefe und weitere Beschwichtigungen zu verfassen. Als diese bei den Empfängern ankamen, waren die beiden Frauen bereits tot. Zuvor lässt er seine grausamen Sexfantasien an ihnen aus. Das Martyrium von Hildegard K. dauert mehrere Tage, das von Annegret B. fast einen Monat.
Auch Josef Fritzl zwingt seinem Opfer derartige Schreiben ab. Elisabeth habe sich einer Sekte angeschlossen. "Sucht nicht nach mir, es geht mir gut!" Während sich die Behörden damit zufriedengeben, vergewaltigt er seine Tochter. Drei der so gezeugten Kinder lässt er oben in seinem Haus aufwachsen. Dafür lässt er ebenfalls Erklärungsschreiben aufsetzen. Die drei anderen müssen mit ihrer Mutter im Verlies dahinvegetieren.
Mehr als vier Monate befragt Marianne Atzeroth-Freier in ihrer Freizeit beharrlich die Opferfamilien, erstellt eine Liste von verschwundenen Gegenständen der beiden Frauen. Sie schafft es, den Staatsanwalt zu überzeugen, einen Durchsuchungsbeschluss für Lutz R.s Haus in Rahlstedt sowie sein Wochenendhaus in Basedow bei Lauenburg zu erwirken. Polizisten finden dort die zersägten Leichen von Hildegard K. und Annegret B. Lutz R. hatte sie in Fässer mit Säure gelegt und diese anschließend vergraben.
1996 wird R. zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Er sitzt in "Santa Fu". Es ist so gut wie sicher, dass er weitere Frauen getötet hätte. Kein Wort der Anerkennung kommt Marianne Atzeroth-Freiers Chef über die Lippen. Einige Kollegen, die sie zuvor belächelten, entschuldigen sich. "Ich bin froh, dass ich das durchgezogen habe", sagt sie. Es half den Angehörigen. Sie brauchten nicht mehr zu suchen, konnten trauern.