Hamburg. Die Geschichtswerkstatt Ottensen prangert in neuem Buch „Das-kann-weg“-Mentalität an. Und amüsiert sich über ständige Verzögerung.
In diesem Buch steckt Liebe. Es hat viel Zeit gekostet, und Geld wird es kaum bringen. Und doch sind die drei Hamburger Autoren Anna Frühauf, Gerd Riehm und Helmut Krumm zurecht stolz auf ihr Werk. Zweieinhalb Jahre hat das Trio ehrenamtlich am 272-Seiter gearbeitet, rund 2500 Stunden in Archiven verbracht, Museen besucht, Interviews geführt. Das Ergebnis trägt den schönen wie doppeldeutigen Titel: „Der Zug ist abgefahren“.
Das Stadtteilarchiv Ottensen hat mittlerweile zehn Publikationen herausgebracht, von denen drei inzwischen vergriffen sind. Darunter ist der Band „Achtung! Zug fährt ab“. Dieses hatte als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vor einem Jahrzehnt für Furore gesorgt. „Das alte Buch war sehr nachgefragt und ein Anlass, ein neues Buch zu diesem Thema zu schreiben“, sagt Frühauf. Zugleich ist vieles neu – denn je näher der Umzug des Fernbahnhofs aus dem Herzen Altonas an die Friedhöfe von Diebsteich rückt, umso gereizter ist die Stimmung im Stadtteil.
Altona und Ottensen – der Bahnhof hat die Hamburger Stadtteile geprägt
Wie sehr die Bahn Ottensen prägt, zeigt das Stadtbild: Der alte klassizistische Bahnhof 500 Meter südlich beherbergt inzwischen das Bezirksamt, die groteske Bausünde des Fernbahnhofs Altona bleibt trotz seiner Hässlichkeit das Herz des Stadtteils – wer aus dem Gebäude tritt, findet sich auf der Ottenser Einkaufsmeile wieder.
Die Altonaer Bahntradition reicht zurück bis ins Jahr 1842 – nur sieben Jahre nach der Jungfernfahrt der Dampflok Adler von Nürnberg nach Fürth. Damals wurde mit dem Bau der Verbindung von Altona nach Kiel im damals noch dänischen Holstein begonnen. 1890, so schreiben die Autoren, wurde schon einmal ernsthaft über eine Verlegung des Bahnhofs nach Diebsteich nachgedacht. Die Verantwortlichen aber verwarfen die Idee wegen der zu großen Entfernung zum Stadtkern.
Gescheiterte Pläne: Schon vor 100 Jahren gab es Ideen, den Bahnhof zu verlegen
„Die Debatte hat eine gewisse Kontinuität“, sagt Frühauf, die früher für das Hamburger Denkmalamt gearbeitet hat. „Gut 100 Jahre später hat die Stadt einen neuen Vorstoß wieder abgelehnt“. Diese Absage unter der Zeile „Hamburg behält den Fernbahnhof Altona“ fanden die Autoren zufällig im Archiv, ausgestellt von der Baubehörde am 27. Februar 1997 nach einem Spitzengespräch von Eugen Wagner mit dem Bahnvorstand Heinz Dürr.
2014 fiel trotzdem die Entscheidung für die Verlagerung. „Was stimmt mit einem großen Verkehrsinfrastrukturprojekt nicht, das tief in die gewachsene Infrastruktur und das gesellschaftliche Leben Altonas eingreift, wenn in dessen Ergebnis die meisten betroffenen Menschen Nachteile in Kauf nehmen müssen?“, heißt eine rhetorische Frage im Buch mit einer Auflage von 1500 Exemplaren.
Altona: Mit dem Abriss des alten Bahnhofs ging ein Stück Stadtgeschichte verloren
Über Jahrzehnte war der alte Bahnhof, der im Krieg nur beschädigt wurde, das Herz des Stadtteils. Seit den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts gab der imposante Backsteinbau mit seinen beiden Türmen auf dem Hauptportal Altona sein Gepräge: Dort fanden Altonaer und Ottenser die Post, große Wartesäle mit Gastronomie und Einkaufsmöglichkeiten. Zudem hatten die Bahnanlagen, immerhin damals einer der wichtigsten Knotenpunkte der Republik, „stadtbildprägenden Charakter“ mit den gewaltigen Gleis- und Tunnelanlagen, dem Wasserturm und großen Güterhallen.
Blick man auf alte Fotos, beschleicht jeden ein Phantomschmerz: Damals der prächtige Platz mit dem Ensemble aus Stuhlmannbrunnen, Hotel Kaiserhof und Reichsbahndirektion, heute ein verbauter Busbahnhof, umstellt von Bausünden. In den Siebzigerjahren stand nicht mehr die Repräsentation im Vordergrund, sondern nur noch die Funktionalität.
„Damit wandelte sich das Bewusstsein und das Pflichtgefühl der Deutschen Bahn gegenüber ihrem architektonischen Erbe. Sie brach Stein für Stein aus der Kette herausragender Bahnhofsbauten“, heißt es im Buch. 1973 rollten die Abrissbagger an, es entstand ein Betonungetüm, ein Kaufhaus mit Bahnanschluss. Der kürzlich verstorbene Meinhard von Gerkan sprach von „Vandalismus“ und einer „Bankrotterklärung“.
Deutsche Bahn: Die Autoren des Buches üben scharfe Kritik
Die Verlegung des Fernbahnhofs nach Diebsteich lehnt das Autorentrio ab. „Nach allen Erfahrungen mit der DB AG bei Bauvorhaben dieser Größenordnung ist eher für Mitte der 30er-Jahre mit der Realisierung zu rechnen“, heißt es in dem Buch. „Der Haltepunkt Ottensen sollte ursprünglich 2017 fertig sein“, sagt Frühauf. „2023 war dann der erste Eingang fertiggestellt.“
Das Buch geht mit der Bahn hart ins Gericht und ist parteiisch – das geben die Autoren unumwunden zu. Das Werk sei „ein Plädoyer dafür, die zunehmende Tendenz ,Das kann weg‘ bei der Bahn und in der Stadtentwicklung entgegenzutreten“. Der Neubau der Sternbrücke wird scharf kritisiert („Eine zweite Fehmarnsundbrücke für Altona?“, „Monsterbrücke“). Die umfangreiche Kritik wirkt nachvollziehbar, aber etwas überzogen: „In Altona wurden wir während der letzten drei Jahrzehnte unmittelbare Zeugen des politisch gewollten und geplanten Niedergangs der Eisenbahn.“
Altona: Die spektakulären Bilder machen das Buch interessant
Auch die Geheimnisse von Hamburgensien wie dem Schellfischtunnel werden enthüllt. Und das Buch wirft mehrere Blicke auf die dunkeldeutsche Geschichte von Judenverfolgung und Faschismus. Bestürzende Erinnerungen erzählen von den Kindertransporten, die rund 1000 jüdische Kinder zwischen 1938 und 1939 in Sicherheit brachten und von der Ausweisung polnischer Juden, aber auch von der katastrophalen Nachkriegsbedingungen im Hungerwinter mit Kohlenklau.
Spektakuläre Bilder machen das Buch komplett – viele alte Fotos und selten gesehene Aufnahmen wie von einer abgestürzten Lok in der Holtenaustraße und die unglaubliche Liebe zum Detail – die Autoren haben sogar eine Bahnsteigkarte gelöst, wahrscheinlich die erste seit der Jahrtausendwende. Manche Kapitel etwa über das Stell- und Betriebswerk mögen in ihrer Detailfreude etwas für Bahnmaniacs sein, aber eines ist Anne Frühauf, Gerd Riehm und Helmut Krumm gelungen: Sie lassen 180 Jahre Verkehrsgeschichte wieder auferstehen.
- Architektur Hamburg: Die zweite Zerstörung: Warum so viel abgerissen wird
- Fotografie Hamburg: Wie eine Hamburger Fotografin den Diebsteich bewahren will
- Umstrittener Neubau der Sternbrücke: Deutsche Bahn schafft erste Fakten
Interessant ist das Buch immer dann, wenn Zeitzeugen zu Wort kommen. Ein Betriebsrat beschreibt die Irrfahrt von Politik und Vorstand in den Achtzigerjahren: „Es hieß nur noch: ICE und geradeaus fahren, was rechts und links liegt, interessiert uns nicht“ Und die Erinnerungen des Heizers Willi Schulz wirken bis heute nach: „Wenn du heute mal ‘ne Stunde Verspätung hast, oder ‘ne halbe, da kräht kein Hahn nach. Wenn du damals mal zwei oder drei Minuten Verspätung hattest, war der Deubel los.“
Das Buch ist erhältlich auf der Websitestadtteilarchiv-ottensen.de oder im Buchhandel. Es kostet 27 Euro.