Hamburg. Für den Koppmann Preis hat Irina Ruppert die Menschen in ihrem Stadtteil fotografiert – bevor der Bahnhofsbau alles verändert.

Jeden Morgen, wenn Irina Ruppert aufsteht, denkt sie darüber nach, wegzuziehen. Nach 35 Jahren den Diebsteich zu verlassen. „Seit ungefähr eineinhalb Jahren lebe ich auf einer Baustelle, der Lärm ist unerträglich. Wenn ich dann aber durchs Viertel gehe, die Menschen treffe, die ich schon so lange kenne, weiß ich wieder, warum ich so sehr daran hänge“, sagt die 54 Jahre alte Fotografin.

Da ist zum Beispiel Ute, eine ehemalige Kneipenbesitzerin von St. Pauli, die jetzt täglich mit ihrem Hund die Runde dreht und den neusten Tratsch verbreitet. Oder Osma, der Kubaner, dessen Laden-Café zum Treffpunkt für die Nachbarn geworden ist. Oder die Steinmetze nahe dem Friedhof, die immer zu einem kleinen Plausch aufgelegt sind.

Fotografie Hamburg: Diebsteich soll mit besonderer Aktion bewahrt werden

Es gibt sie noch, die Quartiere, die das Dörfliche inmitten der lärmenden Großstadt vermitteln, mit Einzelhändlern, Werkstätten in Hinterhöfen und gemütlichen Cafés, in denen der Kaffee noch nicht 3,80 Euro kostet. Der Diebsteich ist solch ein Viertel. Doch nicht mehr lange. „Die massive Veränderung, die mit dem Bau des neuen Fernbahnhofs und dem Diebsteich-Areal mit Stadion und Musikhalle einhergeht, ist nicht mehr aufzuhalten“, sagt Irina Ruppert. Die bekomme sie „wie eine Backpfeife ins Gesicht“ voll zu spüren.

Alles, was schon etwas brüchig gewesen sei, werde nun abgerissen, um Platz zu machen für Neubauprojekte großer Investoren. „Viele Pendler werden den durch moderne Großbauprojekte geprägten Stadtteil für sich entdecken und die hier angestammten Bewohnerinnen und Bewohner verdrängen, ähnlich wie in Altona“, prophezeit die Fotografin, die ihr Atelier auf St. Pauli hat.

Den Wandel im Stadtbild künstlerisch-dokumentarisch begleiten

Um dem überhaupt irgendetwas entgegenzusetzen, entschied sie sich, die Menschen im Viertel zu fotografieren, ein Archiv des Diebsteichs zu erstellen. Darunter sind Paula und Flavio von „Botanica Urbana“, die ein altes Gewächshaus retten, indem sie es abbauen, um es andernorts neu zu errichten, und Künstlerin Roswitha, die die Tauschbörse „Diebsgut“ gegründet hat.

Künstlerin Roswitha Baude rief die Kleidertauschbörse „Diebsgut“ ins Leben. auch sie lebt, ebenso wie die Fotografin, im Stadtteil Diebsteich.
Künstlerin Roswitha Baude rief die Kleidertauschbörse „Diebsgut“ ins Leben. auch sie lebt, ebenso wie die Fotografin, im Stadtteil Diebsteich. © Irina Ruppert

Mit ihrem Projekt „Am Diebsteich“ bewarb sich Irina Ruppert für den Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie – und gewann ihn, zusammen mit der Fotografin Alexandra Polina, die für ihren „Steindamm Atlas“ ausgezeichnet wurde. Den Wandel im Stadtbild und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Gesellschaft künstlerisch-dokumentarisch zu begleiten ist das Anliegen des Preises.

Ausstellung „Eyes on Hamburg“ präsentiert alle Preisträger seit 2019

Er geht zurück auf den Hamburger Fotografen Georg Koppmann (1842–1909), der durch die Baudeputation von 1874 mit der kontinuierlichen Dokumentation des Stadtbilds beauftragt wurde. So begleitete er den Abriss des Kehrwieder-Wandrahm-Viertels und den Bau der Speicherstadt. Seit 2018 vergeben die Stiftung Historische Museen Hamburg und die Behörde für Stadtentwicklung die Auszeichnung.

Die Ausstellung „Eyes on Hamburg“, die vom 9. Juni bis 3. Oktober im Museum der Arbeit läuft und Teil des Hamburger Architektur Sommers ist, präsentiert nicht nur die beiden Gewinnerprojekte dieses Jahres, sondern auch die Preisträger der vorigen Jahre Axel Beyer, Robin Hinsch, Sabine Bungert & Stefan Dolfen sowie Markus Dorfmüller. Sie alle werden ihre Arbeiten auch in Fotogesprächen vorstellen (Termine siehe Website der Stiftung).

Fotografie Hamburg: Bilder sind Warnruf und Inspiration, den Stadtteil zu entdecken

Wie es für sie persönlich weitergehen wird, ob sie wegziehen oder bleiben wird, weiß Irina Ruppert noch nicht. Wahrscheinlich wird sie erst mal weiterfotografieren, um „ihr Viertel“ vor dem Verschwinden zu bewahren. Ihre Bilder sind Warnruf gegen die Zerstörung historisch gewachsener Stadtteile. Und sie inspirieren, den Diebsteich zu entdecken oder mit neuen Augen zu sehen. Bevor es zu spät ist.

„Eyes on Hamburg“ 9.6.–3.10., Museum der Arbeit (U/S Barmbek), Wiesendamm 3, Mo 10.00–21.00, Mi–Fr 10.00–17.00, Sa/So 10.00–18.00, Eintritt 8,50/5,- (erm.), www.shmh.de