Gelsenkirchen. Der dreijährige Jari Bachem leidet an Mitochondriopathie. Sein viertes Lebensjahr wird er aller Voraussicht nach nicht überleben. Das Kinderhospiz Arche Noah" in Gelsenkirchen hilft Jaris Mutter Claudia das Schicksal ihres Sohnes besser zu begreifen.

Sein erstes Wort wird er niemals sprechen. Kein erster Schritt, keine Schultüte, keine erste Liebe, kein erster Kuss. Nichts. Das Leben des dreijährigen Jari wird dort zu Ende sein, wo die meisten Drehbücher des Lebens erst noch geschrieben werden müssen: am Anfang.

Keine Empfindungen

Ob es Tag ist oder Nacht, wer zu Besuch kommt oder was gerade im Fernsehen läuft, all das weiß Jari nicht. Gebettet auf einer gemütlichen Couch scheint der bildhübsche Dreijährige vor sich hin zu dösen. Doch Jari döst nicht. Er ist irgendwo zwischen Bewusstsein und geistiger Abwesenheit. In einem leeren Raum, in dem irdische Wahrnehmungen wie Lärm oder Licht keine Rolle spielen. Auf dem geistigen Stand eines Säuglings.

Jari Bachem leidet seit seiner Geburt an Mitochondriopathie, einer Enzym-Störung, die den langsamen Verfall seiner Hirnfunktionen und den Schwund seiner Muskulatur zur Folge hat. „An guten Tagen hat Jari etwa fünf Krampfanfälle täglich”, erklärt seine Mutter Claudia Bachem. Gute Tage sind selten. In der Regel wird Jari von 50 Krampf-Attacken am Tag malträtiert.

Nur eine Frage der Zeit

Er wird künstlich ernährt. Wie etwas schmeckt und riecht, hat Jari nie empfinden können. Er wird an seiner Krankheit sterben, nicht zuletzt, weil auch sein Herzmuskel immer schwächer wird. Wann, das kann niemand sagen. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche, vielleicht in einem halben Jahr. Das Warten auf den Tod ist schon jetzt normal. Kindsein und Tod sind paradoxerweise einen Wimpernschlag voneinander entfernt. Es gehört zusammen, was nicht zusammen gehören darf.

So traurig und wehmütig Jaris Schicksal macht, so sehr imponiert die Tapferkeit und grenzenlose Aufopferungsbereitschaft seiner Mutter. „Die Schicksalsfrage habe ich mir niemals gestellt. Ich muss die Dinge annehmen, wie sie sind”, sagt Claudia Bachem, während sie Jari sanft über den Rücken streichelt. Die 34-Jährige spricht sachlich und ruhig. Mit rationaler Kühle beschreibt sie die komplexen medizinischen Vorgänge im Körper ihres Sohnes. Jari ist zu ihrem Lebensprojekt geworden. Zu einer Aufgabe, hinter der alles andere bedingungslos zurückstehen muss.

Arche Noah als Fluchtpunkt

Die Chemielaborantin erledigt die Pflege ihres Sohnes, wo es nur geht, allein. Immer dann, wenn sie zur Arbeit muss, kümmert sich ein häuslicher Pflegedienst um Jari. Braucht Claudia Bachem einmal etwas Zeit für sich, kommt die Arche Noah ins Spiel. „Eine wunderbare Einrichtung. Dort fühlt sich Jari richtig wohl”, sagt Bachem. Wenn sie sich einmal im Jahr eine Woche Urlaub gönnt, bleibt Jari in der Arche Noah. Dann ruft Claudia Bachem auch nicht an. Dann gilt einmal nur sie. Sendepause. Eine Nacht durchgeschlafen hat sie schon lange nicht mehr. Jari braucht ständige Betreuung. Die Arche Noah, eine Kurzzeiteinrichtung und Hospiz für Kinder am Marienhospital in Gelsenkirchen, betreut jährlich hunderte Kinder, deren kurz- und mittelfristige Perspektive der Tod ist. „Dort kann ich wichtige Gespräche führen”, erklärt Claudia Bachem. Die Arche ist ein ambulantes Hospiz.

Viele Dinge haben sich in ihrem Leben geändert seit Jaris Geburt. Menschen haben sich abgewandt, die Beziehung zu Jaris Vater ging in die Brüche. Nicht nur, aber auch wegen Jari. Sie will nie wieder ein Kind bekommen. Zu hoch ist die Gefahr, dass sie noch einmal Mitochondriopathie vererben könnte. Auch in ihr schlummert der Gen-Defekt. Bislang lässt er sie in Ruhe.

Keine Schicksalsfragen

Es spukt im Kopf, wenn man Jari sieht. Man ist traurig und wütend. Warum muss so ein kleines Wesen ein so kurzes schweres Dasein fristen? Schicksal, Zufall und die Frage nach Gott lassen keinen klaren Gedanken zu. Die Welt ist aus den Fugen.

Schicksalsfragen lässt Claudia Bachem nicht aufkommen. Sie will sich nicht „aufzehren” lassen. „Wenn ich mich wohl fühle, fühlt sich auch Jari wohl. Fühle ich mich schlecht, fühlt er sich schlecht.” Die Rolle des Kinderhospizes kann die 34-jährige Mutter gar nicht hoch genug aufhängen: „In den Hospizen gibt es kein Mitleid. Es gibt Echtheit.”

Sie hält Jari im Arm und küsst ihn zärtlich. Am 28. Februar ist Jaris Geburtstag. Seine Mutter denkt nicht an Jaris Tod. Sie genießt jeden Tag mit ihm.