Essen. Medizin, Daten, Nahrung, Wohnen, Verkehr - ohne künstliche Kälte geriete das moderne Leben ins Stocken. Wie eine Technologie die Welt eroberte.
Manche Entdeckungen gaben der Geschichte der Menschheit eine neue Richtung: Zum Beispiel der Buchdruck, die Dampfmaschine, das Flugzeug, der Otto-Motor, die Atomspaltung oder das Internet. Eine tatsächlich weltverändernde Errungenschaft wird aber meist übersehen: der Kühlschrank.
Die Technik des Kühlens hat seit dem 19. Jahrhundert einen Siegeszug erlebt, der inzwischen fast sämtliche Bereiche der modernen Gesellschaft umfasst und das Leben grundlegend bestimmt. Gekühlt wird nahezu alles: Autos, Büros, Züge, Flugzeuge, OP-Säle, Krankenhäuser, Hotels, Einkaufszentren, Rechenzentren, Museen und Leichenhäuser.
Ohne Kühlung geht fast nichts: Medikamente und Impfstoffe brauchen es kalt, von Gemüse über Fisch, Milch und Rinderhälften ist unsere Nahrungsversorgung in großem Stil auf eine funktionierende Kühlkette angewiesen. Selbst Fußballstadien in der Wüste werden auf angenehme 20 Grad Celsius gebracht, wie in Katar bei der Weltmeisterschaft.
Arme Menschen trifft öfter Hitzetod
Stefan Höhne (44) befasst sich hauptberuflich mit der Kulturgeschichte des Kühlens. „Wir möchten verstehen, wie künstliche Kälte zu einem so fundamentalen Merkmal moderner Kulturen geworden ist, das immer mehr Aspekte unseres Alltags prägt.“ Als europaweit erster Kulturwissenschaftler wurde Höhne jetzt für sein Projekt „Kulturen der Kryosphäre“ mit dem renommierten europäischen „ERC Synergy Grant“ ausgezeichnet. Das Team erhält in den kommenden sechs Jahren eine Förderung von insgesamt 2,55 Millionen Euro. Höhne arbeitet seit 2019 am angesehenen Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen.
Besonders interessiert den Kultur- und Sozialwissenschaftler dabei die Frage, welche neuen Ungleichheiten sich in der globalen Ausdehnung der Kältekultur spiegeln, etwa was den Zugang zu medizinischer Versorgung wie Impfstoffen und Medikamenten oder dem Schutz der Bevölkerung bei Hitzewellen angeht. „Denn unter den Hitzetoten sind mehrheitlich die Menschen, die von dieser Technik kaum oder gar nicht profitieren. Auf sozialer Ebene sind es die Armen, Obdachlosen und Alten. Auf globaler Ebene sind es ganze Länder und Regionen, vor allem im globalen Süden.“
Das internationale Projektteam wird daher in den kommenden Jahren für Fallstudien Europa, Indien, Nordamerika und Australien bereisen, um einen Wandel zu einem gerechteren und nachhaltigeren Umgang mit diesen Technologien anzustoßen.
Kühlung heizt das Klima
Mit der Kühlung reagiert der Mensch auf den Klimawandel und befeuert ihn zugleich. Man kann bündig sagen: Je mehr wir kühlen, desto heißer wird es – und je heißer es wird, umso mehr kühlen wir. „Studien zeigen, dass wir 2050 fünfmal mehr Energie zum Kühlen aufwenden werden als heute. Das ist eine absolute Katastrophe“, sagt Höhne. Und dort, wo Wirtschaft und Wohlstand wachsen und der Klimawandel besonders spürbar ist, etwa in Asien, wird der Bedarf an Kühlung künftig noch drastisch zunehmen.
Metropolen wie Singapur oder Dubai haben schon lange ihr Geschäfts- und Privatleben nahezu komplett vom natürlichen Klima abgeschnitten. Der Kulturwissenschaftler sieht es so: Wenn mehr oder weniger ganze Städte klimatisiert werden, bedeutet dies, dass sich die Bewohner immer weiter von der Natur entkoppeln, dass saisonale Rhythmen und der Wechsel der Jahreszeiten immer unbedeutender werden. „Man kann sagen: Das Leben spielt sich heute mehr und mehr in einer Umgebung ab, die einen ewigen Frühlingstag simuliert“, meint Höhne.
Dass dadurch bestimmte Lebensweisen, Kulturformen und saisonale Anpassungen verschwinden, liegt auf der Hand. Ganz plakativ: Wer kocht denn heute noch vor dem Winter Obst und Gemüse ein? Wer räuchert oder salzt noch Fisch und Fleisch, um die Vorräte haltbarer zu machen? Wer isst denn nur im Sommer Erdbeeren? Tiefgekühlt fliegen sie um die Erde.
Wandel der Kältekultur
„Wir brauchen einen Kulturwandel“, meint Höhne. Denn eine technische Lösung reiche nicht aus. Effektivere und bessere Kühlverfahren könnten die Klimafolgen allenfalls reduzieren. Solange Städte im Sommer zu lebensfeindlichen Hitzeinseln werden und Hochhäuser mit gigantischem Energiebedarf auf erträgliche Temperaturen heruntergekühlt werden müssten, wäre mit einer besseren Technik nicht viel gewonnen. Er schlägt eine Rückkehr zur klassischen Architektur des Mittleren Ostens vor mit dicken Mauern, schattigen Innenhöfen. Oder auch Energiegemeinschaften: Wieso muss in einer Wohnanlage mit Hunderten Bewohnern jeder Mieter seine eigene Waschmaschine oder Kühltruhe besitzen?
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Doch für globale Lösungen des Klimawandels ist nicht in erster Linie die Kulturwissenschaft zuständig. „Wir wollen in einem ersten Schritt erforschen und darlegen, wie sehr unsere Kultur mit der Kältetechnik verbunden ist und welche Folgen dies hat.“ Dies sei ein neues Forschungsfeld, das sie mit dem Projekt wissenschaftlich etablieren wollen. Geplant sei neben Fachveröffentlichungen und einem populärwissenschaftlichen Buch für eine breitere Öffentlichkeit auch der Aufbau eines „Archivs der Kryokultur“, in dem altes und neues Wissen zu dem Thema versammelt wird.
Kälte und „ewiges Leben“
Aber die Kryokultur reicht noch viel weiter, erläutert Höhne. „Sie berührt das Leben selbst.“ Die Technik kann die Zeit anhalten, indem sie Verderbnis und Verfall stoppt. Und sie erlaubt nicht nur eine Verlängerung des Lebens durch ihren Einsatz in der Medizin, „sie ermöglicht auch den Zugriff auf zukünftiges Leben“, sagt Höhne.
Was er zum Beispiel damit meint, nennt sich „Social Freezing“. Bei dem Verfahren werden vorsorglich unbefruchtete Eizellen eingefroren, um sie zu einem passenden Zeitpunkt im Leben der Spenderin aufzutauen und zu befruchten. Viele Fortpflanzungskliniken und „Kinderwunschzentren“ bieten diesen Service inzwischen für einige Tausend Euro an. Kliniken werben, „Social Freezing“ sei eine moderne Technik, um die Schwangerschaft und die Geburt des Kindes auf einen Zeitpunkt zu verschieben, der besser in die Lebensplanung passt.
Die eingefrorenen Eizellen können bei minus 196 Grad nahezu unbegrenzt eingelagert werden und bleiben „so jung wie zum Einfrierungszeitpunkt“, verspricht eine Fortpflanzungsklinik in NRW. Für die besten Erfolgschancen auf die Erfüllung des verschobenen Kinderwunsches sollten sich Frauen spätestens bis zum 35. Lebensjahr für eine Kryokonservierung entscheiden, raten Mediziner. Ist dann der „richtige“ Zeitpunkt gekommen, werden die frisch gebliebenen Eizellen aufgetaut und befruchtet.
Lebensplanung auf Eis gelegt
Ursprünglich hatte das Verfahren einen rein medizinischen Aspekt. Krebspatientinnen sollte vor einer Chemotherapie die Möglichkeit gegeben werden, nach der schädigenden und belastenden Behandlung ein Kind bekommen zu können. Bei gesunden Frauen melden Ethiker aber Bedenken an. „Große Konzerne legen Frauen in Führungspositionen bereits eine Kryokonservierung nahe“, sagt Höhne. So lässt sich der Kinderwunsch auf Kosten und zum Nutzen des Unternehmens an die Karriereplanung anpassen.
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Der Kulturwissenschaftler sieht es so: Die Kältetechnik erlaubt es, die Lebensplanung und die Nachkommenschaft aus gesundheitlichen, privaten oder auch beruflichen Gründen beliebig lange „auf Eis zu legen“. Wenn Arbeitgeber und Karrierewünsche mit Hilfe der Kältetechnik über das Kinderkriegen mitbestimmen können, bedeutet dies, dass neues Leben ganz gezielt in einen „Verwertungszusammenhang“ gestellt werden kann. Es steht dann zu einem privat gewünschten und beruflich passenden Zeitpunkt zur Verfügung.
Auf die Spitze getrieben bedeutet die Anwendung der Kryotechnik auf den Menschen selbst: Wer seine Zellen einfriert, konserviert seine Gene für die Zukunft, bleibt ewig jung, macht sich potenziell unsterblich. Einige Unternehmen bieten Kunden bereits an, sich nach dem Tod für viel Geld komplett einfrieren zu lassen. Die Menschen treibt die Hoffnung, in ferner Zukunft wieder zum Leben erweckt zu werden und weiterzuleben. Ob das wirklich funktioniert, ist ungewiss. Aber auch wenn das noch Science-Fiction ist: Kryotechnik verspricht das ewige Leben.
>>>> Geschichte des Eises
Schon reiche Römer kühlten ihre Getränke und Speisen mit eigens herangeschafftem Eis aus den Bergen. Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde Natureis aus Seen und Gletschern gewonnen. Die ersten Kältemaschinen wurden in der Zeit der Industrialisierung etwa Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden. Die ersten Kühlschränke für den privaten Gebrauch wurden in den USA ab 1918 verkauft. Erst mit der Massenproduktion ab 1945 zogen Kühlschränke nach und nach in die Haushalte ein.
Derzeit erforscht die Ruhr-Uni Bochum eine neuartige Kältetechnik, die ohne die herkömmliche Kompressortechnik auskommt, basierend auf dem „kalorischen Effekt“. Dieser beschreibt, dass manche feste Materialien mit Temperaturveränderungen reagieren, wenn sie einem elektrischen Feld oder Magnetfeld ausgesetzt werden.
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