1978 versinkt ein deutscher Frachter. Vieles spricht für eine Monsterwelle, die ihn in die Tiefe riss. Hätte man die Besatzung retten können?

Die Azoreninseln Terceira, Horta und Sao Miguel liegen mitten im Atlantischen Ozean. Nördlich, bis hin zu Grönlands Eisdecke, erstrecken sich 4000 Kilometer Wasserwüste. Der Winter 1978 in dieser endlosen Meeresregion war ungewöhnlich stürmisch. Ein Orkan hatte sich seit Ende November aufgebaut. Um den 10. Dezember tobte er mit 150 Kilometer Stundengeschwindigkeit und Wellen, die im Schnitt 16 Meter Höhe erreichten. Manche waren doppelt so hoch. In dieser Hölle endete das Leben von 28 Menschen auf einem deutschen Hochseeschiff.

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Ist die MS „München“, 261 Meter lang und 32 Meter breit, einer Monsterwelle zum Opfer gefallen? Oder gab es andere Ursachen für ihr Sinken? Das ist heute, 45 Jahre nach einer der größten Schiffskatastrophen des Deutschland der Nachkriegszeit, nur Spekulation. Der Frachter der Hamburger Reederei Hapag-Lloyd verschwand in den Vorweihnachtstagen fast spurlos. Der Funker Jörg Ernst, der Wäscher Kin Wa Ho aus China, der Kapitän Johann Dänekamp aus dem oldenburgischen Barßel und 25 weitere Besatzungsmitglieder kehrten nicht nach Hause zurück. 150 Angehörige trauerten um die Opfer. 22 Kinder verloren den Vater.

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Dem Bangen der Familien und ihrer Trauer folgte 17 Monate später eine fürchterliche Erkenntnis: Das Bremer Seeamt stellte 1980 aufgrund von aufgefangenen Signalen einer Notboje fest, dass der Ozeangigant erst mehr als 30 Stunden nach dem Eintritt einer schwerwiegenden Beschädigung in die Tiefe sank. Mutmaßlich hat bis zu diesem Zeitpunkt der Großteil der Besatzung überlebt. Sie hat immer wieder SOS-Rufe abgesetzt und gehofft, gefunden und geborgen zu werden. Retter auf einhundert Schiffen und in 30 Flugzeugen waren unterwegs. Doch sie konnten den Havaristen nicht finden. Sie suchten im falschen Seegebiet. Dabei könnte es Seeleute gegeben haben, die den genauen Unglücksort kannten – und sich bewusst gegen eine Hilfe entschieden, obwohl sie der verunglückten „München“ sehr nahe waren. Der Untergang des Schiffes war wohl nicht nur Unglück. Er kann menschliches Versagen gewesen sein. Oder ein menschenverachtender Skandal?

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Von Dietmar Seher

Donnerstag, 7. Dezember 1978, sechs Uhr früh. Bei Temperaturen von minus vier Grad und Windstärke 4 verlässt MS „München“ Bremerhaven mit dem Ziel Savannah im US-Bundesstaat Georgia. Die Ladung: Metall- und Stahlprodukte. Sie gilt als sicheres, modernes und einzigartiges Transportmittel, das zu seiner 62. Reise aufbricht. Fachleute nennen den Typ Lash-Carrier. Er befördert 63 Leichter, knapp 18 Meter lange schwimmfähige Behälter, die Ladung mit sich führen. In den Häfen werden diese Frachthüllen von Bord gehievt, um dann durch Schlepper zum Bestimmungsort gezogen zu werden. Das verkürzt teure Ladezeiten am Kai. Gut für die Reeder-Kassen. Seeleute vermissen wegfallende Landgänge und müssen einen weiteren Nachteil hinnehmen, der bald eine Rolle spielen wird. An Deck steht zur Entladung der Leichter ein gigantischer Rollkran, dessen Einbau die Unterbringung der Kommandobrücke unmittelbar am Bug bedingt. Das macht das Schiff, dessen Brücke 22 Meter hoch ist, hilflos gegen außergewöhnlich hohe Wellen.

Verschollen: der Frachter „München“.
Verschollen: der Frachter „München“. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / dpa

Dienstag, 12. Dezember, 00.05 Uhr. Der Hapag-Frachter hat die Region nördlich der Azoren erreicht. Schiffe melden einen gewaltigen Orkan mit Brecherhöhen bis zu 20 Metern. Es kommt es zu einem letzten Kontakt. Der Funkoffizier des Passagierschiffs „Caribe“, das 2400 Seemeilen entfernt in der Karibik kreuzt, spricht mit seinem Kollegen Jörg Ernst von der „München“. Der sei völlig ruhig gewesen, wird der „Caribe“-Offizier später aussagen. „Wir haben schlechtes Wetter. Brücke ist beschädigt, Bullaugen eingeschlagen“, zitiert er Ernst. Von einer unmittelbaren Gefahr? Sei keine Rede gewesen. Beide verabschieden sich um 00.07 Uhr: „Gute Fahrt. Bis demnächst“. So berichtet es der Autor Lars Schmitz-Eggen in seinem 2001 erschienenen Buch „Die letzte Fahrt der München“

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Dienstag, 12. Dezember, 03.10 Uhr. Der griechische Frachter „Marion“ ist mit einer Mais-Ladung von der US-Ostküste nach Amsterdam unterwegs. Funker Petrakes Stilianos prüft im Funkraum routinemäßig die Seenotfrequenzen, als überraschend ein schwer zu verstehender Funkspruch aufschlägt. „SOS SOS SOS DEAT DEAT DEAT Position 45 Grad 30 Nord, 22 Grad 20 West. Forward“. Dann bricht der Ruf ab. DEAT ist das Zeichen der MS „München“. Funker Petrakes Stilianos versucht den Hilferufer zu erreichen, der sich offenbar rund 700 Kilometer entfernt befindet. Er erhält keine Antwort.

Dienstag, 12. Dezember, 4.30 Uhr. Der „Marion“-Funker erreicht die Küstenfunkstelle Arcachon. Über die britische Küstenwache werden um 05.30 Uhr die Seenotleitung Bremen und die Reederei Hapag-Lloyd informiert. Die Briten bemühen sich, Flugzeuge und Schiffe zur Suche zu mobilisieren. Doch in diesem Sturm können Schiffe nicht einfach den Kurs wechseln, ohne sich im heftigen Wellengang selbst zu gefährden. Helfen Flugzeuge? Sie werden Stunden bis zum mutmaßlichen Unglücksort brauchen. Die Briten schicken Nimrod-Aufklärer, die Amerikaner wollen einen Ersatzflieger stellen. Eine der größten internationalen Einsätze dieser Zeit beginnt. Ihr Kommando hat in den nächsten Tagen der Niederländer Pieter de Nijs auf dem Hochseeschlepper „Smit Rotterdam“. Zehn Flugzeuge der Bundeswehr machen mit. Was keiner der Beteiligten ahnt: „München“-Funker Ernst muss im Notruf eine falsche Position übermittelt haben, 100 Seemeilen vom tatsächlichen Standort. Sein Gesprächspartner von der „Caribe“ drei Stunden zuvor verfügte über Angaben, die auf die richtige Spur des verunglückten Schiffes hätten führen können. Nur hat er davon zu spät berichtet.

Mittwoch, 13. Dezember bis Mittwoch, 20. Dezember. Die Menschen in Deutschland bangen mit. „Tage zwischen Hoffnung und Angst“. „Alle helfen bei der Suche“. Das sind die Schlagzeilen der sonst friedlichen Vorweihnachtszeit. Wo ist die „München“? Verteilt über den Ozean werden Überbleibsel des Schiffes gefunden, aber ohne Hinweis auf Überlebende: Drei Leichter. Unbenutzte Rettungsinseln. Ein leeres Rettungsboot mit verbogenen Metallbolzen, was auf harten Seeschlag deutet. Vier Tage vor Heiligabend wird die Suche aufgegeben. In Bonn entscheidet Kanzler Schmidt, dass deutsche Suchaktionen zwei Tage weiter gehen. Ohne Erfolg. Was ist da draußen passiert in den ersten Stunden des 12. Dezember 1978?

Juni 1980. Die unaufgeklärte Katastrophe, die eineinhalb Jahre zurückliegt, ist Geschichte. Doch als in Bremerhaven das Seeamt zur Untersuchung des Falles MS „München“ zusammentritt, legen Experten wie Werner Hummel von Hapag-Lloyd neue, bis dahin unbekannte Funksprüche vor. Am 5. Juni 1980 berichtet das Hamburger Abendblatt darüber unter der Zeile „Skandale nach dem SOS“. Der Artikel wirft brisante Fragen auf.

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Die isländische Funkstation Keflavik hat am frühen 12. Dezember 1978 eine weiter gegebene Nachricht aufgefangen, in der es unter Berufung auf den Funker des deutschen Schiffes heißt: „...und er sagt gerade etwas über eine Kollision“. Rammte nicht etwa eine gigantische Welle die „München“, sondern ein anderes Schiff? Waren, mitten im Kalten Krieg, zum Beispiel U-Boote unterwegs, die nach einem Zusammenstoß schnell wegtauchen konnten?

Anläßlich einer Pressekonferenz am 22. Dezember 1978 in Hamburg erläutert ein Mitglied der Reederei Hapag-Lloyd an Hand einer Karte die Suche nach dem Frachter „München“.
Anläßlich einer Pressekonferenz am 22. Dezember 1978 in Hamburg erläutert ein Mitglied der Reederei Hapag-Lloyd an Hand einer Karte die Suche nach dem Frachter „München“. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / DB

Auffallend ist das Schweigen amerikanischer Horchposten auf den Azoren. Dabei waren sie die nächstliegenden Land-Stationen. Dagegen fing ihr Kollege Seargent Paul Huber von der US-Basis Rota bei Gibraltar am 13. Dezember um 18.40 Uhr zehn Seenotrufe auf, darunter den Halbsatz „habe 28 Personen an Bord“, was genau der Besatzungszahl der „München“ entsprach. Das deckt sich mit drei SOS-Rufen der „München“, die der Brüsseler Hobbyfunker Michael F. Sinnot am 13. Dezember um 09.08 Uhr Greenwich-Zeit wahrnahm. Weitere Belege, dass die Mannschaft des Frachters mindestens 30 Stunden nach dem Zwischenfall noch lebte?

Vor allem: Nicht nur der griechische Funker Petrakes Stilianos auf der „Marion“ hat um 03.03 Uhr am 12. Dezember den SOS-Ruf der „München“ erhalten. Ein unbekanntes Schiff meldete fast gleichzeitig, um 03.15 Uhr, von dem Seenotfall. In der Information taucht die akustische Wiedergabe „articas“ auf. Hapag-Lloyd hat ermittelt: Der Melder könnte ein Schiff namens „Artimida“ gemeint haben. Dieser Trawler war 60 Meilen südöstlich vom vermuteten Unglücksort entfernt. Er hätte helfen können. Stattdessen machte er kehrt und versteckte sich vor Portugal. Der angebliche Fischtrawler war nach Hapag-Recherchen kein Trawler, sondern ein sowjetisches Spionageschiff. Erhielt es den Befehl, sich zu verbergen?

Seeamts-Vorsitzender Fritz Milz geht wenig auf das alles ein. Er beendet am 12. Juni 1980 die Untersuchung. „Es war nicht möglich, die Ursache für den Untergang mit hinreichender Sicherheit zu klären. Ursache war vermutlich ein schwerer Seeschlag, der zum langsamen Sinken des Schiffs führte und den Ausfall der Funk- und Maschinenanlage bewirkte“. Gesunken sei die „München“ „am 13. Dezember, 11 Uhr“.

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